30.12.66

Sedmikrásky (Věra Chytilová, 1966)

Tausendschönchen

Marie und Marie, beide um die zwanzig, die eine blond (Ivana Karbanová), die andere brünett (Jitka Cerhová), beschließen, da die Welt, wie sie meinen, verdorben ist, fortan selbst verdorben zu sein. Sie lachen sich alte Männer an, fressen und saufen, was das Zeug hält, benehmen sich, wo sie gehen, stehen, liegen, unbeirrbar daneben, hinterlassen eine Schneise der zwanghaft-fröhlichen Verwüstung. Věra Chytilová gestaltet die (Selbst-)Zerstörungsorgie als kompromißlos-verspielte kinematographische Collage, bringt mit übersprudelndem Erfindungsreichtum Bild- und Tonverfremdungen aller Art zum filmischen Einsatz, benutzt ihre Protagonistinnen wie Marionetten in einem entfesselten Figuren- und Welttheater. Ein anarcho-surreales Fest der Subversion, ein dadaistisch-burlesker Angriff auf gesellschaftliche Ordnungsvorstellungen aller Art, der konsequenterweise mit der entschiedenen Infragestellung herkömmlicher Gestaltungsregeln einhergeht und die moralische Einschätzung des Gezeigten voll und ganz dem Betrachter überläßt.

R Věra Chytilová B Věra Chytilová, Ester Krumbachová, Pavel Juráček K Jaroslav Kučera M Jiří Šust, Jiří Šlitr A Karel Lier Ko Ester Krumbachová S Miroslav Hájek P Ladislav Fikar, Bohumil Šmída D Ivana Karbanová, Jitka Cerhová, Jan Klusák | CS | 74 min | 1:1,37 | f & sw | 30. Dezember 1966

# 1169 | 3. August 2019

22.12.66

Funeral in Berlin (Guy Hamilton, 1966)

Finale in Berlin

»Great words carved out of coloured electricity and plastered along the walls of the Ku-damm … Beneath me the city lay in huge patches of light and vast pools of darkness where rubble and grass fought gently for control of the universe.« So beschreibt Len Deighton die gleichermaßen mythische wie reale Hauptstadt des Kalten Krieges. »Funeral in Berlin«, das zweite Harry-Palmer-Abenteuer, zeichnet diese disparate Stimmung getreulich nach, ist – dank Konrad Elfers ironisch-emphatischer Trauermarsch-Musik und der prägnanten Panavision-Bilder von falschgoldenem Wirtschaftwunder-Glamour und ruinöser Zwischenzeit-Ödnis (Kamera: Otto Heller) – einer der atmosphärischsten Berlin-Filme überhaupt. Palmer (lässig-unterkühlt: Michael Caine) soll das Überlaufen des Ostberliner KGB-Sektionschef managen; der Fall wird kompliziert, als Exnazis, Fluchthelfer und Mossad-Spitzel querschießen, aber schließlich gelingt es dem reserviert-raffinierten britischen Agenten, das Verschwörungswirrwarr zu entheddern und die rivalisierenden Lager aufeinanderzuhetzen … Neben, mit und gegen Caine agieren Oskar Homolka (als bedrohlich-jovialer Sowjet-Oberst Stok), Paul Hubschmidt (als blendend-undurchsichtiger Johnny Vulkan), Eva Renzi (als hochklassig-tödliche Samantha »Some people call me Sam.« Steel) und herausragende Chargenspieler wie Herbert Fux, Thomas Holtzmann, Günter Meisner, Heinz Schubert. Guy Hamiltons provozierend undramatische Inszenierung kann es sich leisten, auf sogenannte »Regieeinfälle« völlig zu verzichten.

R Guy Hamilton B Evan Jones V Len Deighton K Otto Heller M Konrad Elfers A Ken Adam S John Bloom P Harry Saltzman D Michael Caine, Paul Hubschmid, Oskar Homolka, Eva Renzi, Guy Doleman | UK | 102 min | 1:2,35 | f | 22. Dezember 1966

18.12.66

Blowup (Michelangelo Antonioni, 1966)

Blow Up

»It’s like finding a clue in a detective story.« Ein Fotograf unterwegs in London: aus der Obdachlosenabsteige zum fashion shoot im hippen Studio, vom Mittagessen mit dem Agenten zum picture taking in einen idyllischen Park. Die Stadt swingt, der Fotograf sieht alles mit dem gleichen berufsmäßigen Blick: notleidende Männer, hochgezüchtete Models, aufflatternde Tauben, ein heimlich beobachtetes Liebespaar – wichtig sind die markanten Perspektiven, die reizvollen Oberflächen, der stimmige Look, kurz: die Schau-Werte. »Blowup«, ein (topmodischer) Thriller des Sehens, zeigt das Abbilden der Umwelt nicht als interessierte Wahrnehmung äußerer Phänomene sondern als bewußte, bisweilen aggressive Formung von Wirklichkeit, bis hin zur Quasi-Vergewaltigung des betrachteten Motivs: »I’m only doing my job. Some people are bullfighters. Some people are politicians. I’m a photographer.« Michelangelo Antonioni porträtiert den (namenlosen) Fotografen (David Hemmings) als bornierten Macho und kalten Profi, der die fundamentale Gleichgültigkeit eines Objektivs in sich trägt; erst, als er in einer Fotoserie Hinweise auf ein Gewaltverbrechen zu bemerken glaubt, bricht durch den Panzer der Indifferenz so etwas wie Leidenschaft. Doch je angestrengter der Fotograf forscht, je größer er die Details aufbläst, je genauer er hinsieht, desto weniger ist zu erkennen, desto unschärfer wird das Gesamtbild, desto fraglicher erscheint die Möglichkeit von Gewißheit. Carlo Di Palmas Kamera findet dafür passende Arrangements: angeschnittene, fragmentierte Körper, oftmals zu künstlichen Posen erstarrt, häufig in spärlich möblierten Räumen oder farblich verfremdeten Settings. Als sich die Ahnung des Fotografen schließlich verflüchtigt, fällt er zurück in seine frühere Ungerührtheit: Erkenntnis ist illusorisch, der Schein bestimmt das Sein. »What did you see in that park?« – »Nothing.«

R Michelangelo Antonioni B Michelangelo Antonioni, Tonino Guerra, Edward Bond V Julio Cortázar K Carlo Di Palma M Herbie Hancock A Assheton Gorton S Frank Clarke P Carlo Ponti D David Hemmings, Vanessa Redgrave, Sarah Miles, Veruschka von Lehndorff, Jane Birkin, John Castle | UK & I & USA | 111 min | 1:1,85 | f | 18. Dezember 1966

# 836 | 20. Februar 2014

12.12.66

A Man for All Seasons (Fred Zinnemann, 1966)

Ein Mann zu jeder Jahreszeit

Leben, Zeit und Tod des Thomas More (gemessen: Paul Scofield), last man standing gegen die politische und moralische Übergriffigkeit eines absoluten Monarchen. Heinrich VIII. (ruppig: Robert Shaw) beabsichtigt, gegen den erklärten Willen des Papstes, seine (erste) Ehe zu annullieren, um Anne Boleyn heiraten zu können, die ihm den ersehnten Erben schenken soll. Ein unerschütterliches Ethos verbietet es dem gelehrten Staatsmann More, das sündige Ansinnen Seiner Majestät mit dem geforderten Treueid zu billigen, und läßt ihn, als Opfer von Spitzelei und Intriganz, nach abgefeimten Verhören und perfiden Falschaussagen, in letzter Konsequenz – äußerlich erniedrigt aber innerlich aufrecht – das Schafott besteigen: »I do none harm, I say none harm, I think none harm. And if this be not enough to keep a man alive, then in good faith, I long not to live.« Fred Zinnemann malt Mores Kreuzweg in kräftigen Farben, konfrontiert den Protagonisten mit dem sinistren Blutrot des Kardinals Wolsey (krötenhaft: Orson Welles) und dem aggressiven Gold des Königs, verfrachtet ihn aus dem saftigen Wiesengrün, das seinen Landsitz umgibt, ins trübe Braungrau der Hinterzimmer und in die tödliche Schwärze des Kerkers, betrachtet seine unbedingte Kompromißlosigkeit, die auch die Belange von Haushalt und Familie ignoriert, bei allem Respekt mit einer spürbaren Reserve. Thomas More wurde vierhundert Jahre nach seiner Hinrichtung von der katholischen Kirche heiliggesprochen; Morus, die latinisierte Form seines Namens, bedeutet so viel wie »der Narr«.

R Fred Zinnemann B Robert Bolt V Robert Bolt K Ted Moore M Georges Delerue A John Box S Ralph Kemplen P Fred Zinnemann D Paul Scofield, Wendy Hiller, Susannah York, Robert Shaw, Orson Welles, Leo McKern, John Hurt | UK | 120 min | 1:1,66 | f | 12. Dezember 1966

# 1103 | 2. März 2018

3.12.66

Made in U.S.A (Jean-Luc Godard, 1966)

Made in USA

Die Beschreibung des Films als »rätselhaft« würde insinuieren, es gäbe ein Rätsel zu lösen. Zwar wird beschattet und ermittelt, sich verschworen und betrogen, zwar hantiert Anna Karina (im rot-orange-karierten oder im blau-lila gestreiften Outfit, manchmal auch – wie es sich für einen Neo-noir-Abenteuer gehört – im Trenchcoat) mit diversen Schußwaffen, zwar fallen einige Leichen an und fließt reichlich (Kunst-)Blut, doch in welchem kriminalistischen Zusammenhang das alles stehen mag, bleibt so offen wie ein Loch im Kopf. Gewidmet zwei Exilkönigen des Kinos – Nick (Ray) und Samuel (Fuller) –, stark beeinflußt von Pop-Art, Comics und Kinoplakatmalerei, gehört »Made in U.S.A« bei radikaler erzählerischer Verweigerungshaltung zu Godards visuell einprägsamsten Werken. (Die Kamera (Eastmancolor und Techniscope) führt, wie fast immer beim frühen JLG, der geniale Raoul Coutard.) Wer es vermeiden kann, die Sinnfrage zu stellen, den Film stattdessen nimmt wie eine Bildstrecke aus einem alten Pulp-Magazin, wird (s)ein knallbuntes Wunder erleben.

R Jean-Luc Godard B Jean-Luc Godard V Richard Stark K Raoul Coutard S Agnès Guillemot, Françoise Collin P Georges de Beauregard D Anna Karina, László Szabó, Jean-Pierre Léaud, Marianne Faithful, Yves Afonso | F | 90 min | 1:2,35 | f | 3. Dezember 1966

24.11.66

Maigret und sein größter Fall (Alfred Weidenmann, 1966)

»Man kann für eine Pfeife zu jung sein.« Ein spektakulärer Bilderraub am Boulevard Haussmann. Ein toter Museumswächter. Ein mysteriöser englischer Kunstsammler. Die Spur des gestohlenen Van-Gogh-Gemäldes führt Kommissar Maigret (Heinz Rühmann) nach Lausanne. Eine elegante Nachtbar. Eine verschworene italienische Sippschaft. Ein heroinsüchtiger Jazzmusiker. Eine rasante Animierdame. Zwei halbseidene Grünschnäbel. Und: der tote Engländer … Maigret beobachtet, hört zu, kombiniert stillschweigend, versteht fast telepathisch, überschreitet souverän seine Kompetenzen. Drehbuchautor Herbert Reinecker (ein großer Bewunderer Georges Simenons) hat mit Rühmann, diesem Archetypus des »kleinen Mannes«, wohl die Idealbesetzung für seine Maigret-Interpretion gefunden: Der schmale, wortkarge, ironisch-feinnervige Pariser Ermittler wirkt wie eine Vorschau auf den Münchner Kommissar Keller, den Erik Ode mit dem gleichen Kurzmantel, dem gleichen Hütchen und der gleichen allweisen, melancholisch gefärbten Menschenkenntnis spielen wird. Interessant auch, wie Reinecker einmal mehr sein großes Thema, die (unheilvolle) Versuchung der (desorientierten) Jugend, in einen (letztlich recht banalen) Kriminalfall verwebt.

R Alfred Weidenmann B Herbert Reinecker V Georges Simenon K Herbert Hölscher M Erwin Halletz A Hertha Hareiter S Gretl Girinec P Karl Spiehs D Heinz Rühmann, Françoise Prévost, Günther Stoll, Eddi Arent, Ulli Lommel | A & F & I | 88 min | 1:1,85 | f | 24. November 1966

# 818 | 23. Dezember 2013

10.11.66

The Quiller Memorandum (Michael Anderson, 1966)

Das Quiller-Memorandum – Gefahr aus dem Dunkel

»That’s where you are, Quiller. In the gap.« Surreal angehauchte Spionagecharade in den Ruinen und Neubauten von (West-)Berlin: Quiller (ein Mann allein: George Segal) auf der Spur einer konspirativen Neonazi-Organisation unter der semmelblonden (Reichs-)Führung eines gewissen ›Oktober‹ (Max von Sydow). Vom modernen Glasturm des Europa-Centers bis zur verranzten Kreuzberger Absteige, von den ausgebombten Gründerzeitvillen im Tiergartenviertel bis zu den Betonbändern der Stadtautobahn nutzt Drehbuchautor Harold Pinter die Halbstadt als Bühne eines absurden Theaters der Undurchschaubarkeit, des Mißtrauens, der Verstellung. Michael Andersons unverspielte Inszenierung der sehr freien Bearbeitung des betont knallharten Agentenromans von Adam Hall wird insbesondere der spröden Ironie der hintergründigen Pinterschen Dialoge gerecht. Mit von der geheimnisvollen Partie: Alec Guinness, erzbritisch und mit einer Vorliebe für Leberwurst, sowie Senta Berger, jung und schön und weniger unschuldig, als man denken möchte. Dazu ein melancholisch aufrauschender Soundtrack von John Barry: »I am wednesday’s child, born to be alone.«

R Michael Anderson B Harold Pinter V Adam Hall (= Elleston Trevor)  K Erwin Hiller M John Barry A Maurice Carter S Frederick Wilson P Ivan Foxwell D George Segal, Senta Berger, Alec Guinness, Max von Sydow, George Sanders | UK & USA | 104 min | 1:2,35 | f | 10. November 1966

18.10.66

Persona (Ingmar Bergman, 1966)

Persona

Es werde Licht: Zwischen den Graphit-Elektroden der Kohlebogenlampe erstrahlt ein flammender Blitz. Ratternd setzt sich der Projektor in Bewegung. Der Zelluloidstreifen fädelt sich in die Führung. Ein Film beginnt. ›Ein‹ Film? ›Der‹ Film beginnt: mit dissonantem Soundtrack und einer Reihe disparater Bilder, gleich einem kinematographischen stream of consciousness – ein Startband, ein erigierter Schwanz, eine Slapstick-Szene, eine Stückchen Animation, eine krabbelnde Spinne, ein Lamm das geschlachtet wird, groß das tote Auge des Tieres, eine Hand, in die ein Nagel getrieben wird, Mauern, Landschaften, Tote, die plötzlich erwachen, ein Junge, der eine Leinwand abtastet, auf der sich in Unschärfe zwei Gesichter überlagern. Nach der hektischen credit sequence entwickelt sich in knappen, kühlen Szenen die Erzählung: Eine Schauspielerin (Liv Ullmann) verstummt auf der Bühne, verweigert sich fortan dem sprachlichen Zugriff der Umwelt. Die Ärztin schickt die körperlich und geistig für gesund Befundene in Begleitung einer Krankenschwester (Bibi Andersson) zur Kur in ein Haus am Meer. – Einschub: Das lateinische Wort ›persona‹ meint: ›Maske‹, ›Rolle‹, ›Charakter‹, aber auch: ›Persönlichkeit‹, ›Individualität‹. »Persona« handelt von Masken, Rollen und Charakteren, von Persönlichkeit und von Individualität. – Im Haus am Meer zunächst inniges Einvernehmen und zärtliches Verständnis zwischen den beiden Frauen: Die eine spricht viel, die andere sagt nichts – ein empfindliches, ein zerbrechliches Gleichgewicht. Dann ein (Film-)Riß: Die Schweigende macht sich (schriftlich) lustig über die Sprechende, die sich von der anderen betrogen, benutzt und beschmutzt fühlt. Sprechen verwandelt sich Bezichtigung und Anklage, aus Schweigen wird Widerstand und Verachtung. Mit dem immer weiteren Auseinanderdriften der Individualitäten entblößen sich die unübersehbaren Ähnlichkeiten – bis hin zur optischen Verschmelzung der Gesichter. »Persona« ist ein behutsames, zugleich schonungsloses Abtasten von Physiognomien, ein subtiles Spiel der Spaltungen und Doppelungen, eine permanente Schärfenverlagerung zwischen peinlicher Nähe und eisiger Distanz, eine hermetische Phantasie über die menschliche Natur, ein geheimnisvoller Kommentar zum Wesen des Kinos. PS: Der Arbeitstitel des Films »Persona« lautete übrigens »Kinematografi«.

R Ingmar Bergman B Ingmar Bergman K Sven Nykvist M Lars Johan Werle A Bibi Lindström S Ulla Ryghe P Lars-Owe Carlberg D Bibi Andersson, Liv Ullmann, Margaretha Krook, Gunnar Björnstrand, Jörgen Lindström | S | 85 min | 1:1,37 | sw | 18. Oktober 1966

16.10.66

Ostře sledované vlaky (Jiří Menzel, 1966)

Scharf beobachtete Züge | Liebe nach Fahrplan

Ort: ein kleiner Bahnhof in Böhmen. Zeit: gegen Ende der großdeutschen Okkupation. Der unbedarfte Jüngling Miloš Hrma (›Golden Kid‹ Václav Neckář) – Sproß einer Familie von Träumern und Faulenzern – tritt, von der Mutter mit einer Schirmmütze gekrönt, seine Stelle als Bahnwärterlehrling an. Umgeben von einem kleintierzüchtenden Stationsvorsteher, einem schürzenjagenden Fahrdienstleiter und einem kollaborateurischen Bahnrat erwirbt Hrma Grundkenntnisse des Eisenbahnwesens, während er gleichzeitig einigermaßen linkische Versuche unternimmt, der angehimmelten Schaffnerin Máša (seelisch wie auch körperlich) näherzukommen. Nach einer Erzählung von Bohumil Hrabal (der während des Zweiten Weltkriegs selbst Dienst auf einem Provinzbahnhof schob) bringt Jiří Menzel eine detailverliebte Bildungsburleske ins Rollen, die den liebeskranken Protagonisten immer neuen (persönlichen wie auch historischen) Bewährungsproben aussetzt und dabei Komik und Schrecken wirkungsvoll miteinander verschmilzt – bis hin zur doppelten Explosion eines sexuellen Erwachens und eines in die Luft fliegenden Munitionszuges.

R Jiří Menzel B Jiří Menzel, Bohumil Hrabal V Bohumil Hrabal K Jaromír Šofr M Jiří Šust A Oldrich Bosák Ko Olga Dimitrovová S Jiřina Lukešová P Ladislav Fikar, Bohumil Šmída D Václav Neckář, Jitka Bendová, Vladimír Valenta, Josef Somr, Vlastimil Brodský | CS | 92 min | 1:1,37 | sw | 16. Oktober 1966

# 1177 | 3. Oktober 2019

A Funny Thing Happened on the Way to the Forum (Richard Lester, 1966)

Toll trieben es die alten Römer 

»Old situations / New complications …« Auf- und abgedrehtes Sandalen-Vaudeville rund um den charmant-tückischen Sklaven Pseudolus, der (gleichzeitig) Dutzende von Intrigen spinnt, um seine Freiheit zu gewinnen. »A Funny Thing Happened on the Way to the Forum«, Richard Lesters Leinwandadaption einer radikal-klamottigen Stephen-Sondheim-Show (die ungeniert die Scherben antiker Komödienklassiker zusammenkehrt), versammelt mit Zero Mostel, Jack Gilford, Michael Hordern und Buster Keaton (in seinem letzten Film) ein ziemlich einmaliges Ensemble nimmermüder Slapstickhelden vor Nicholas Roegs respektlos-rasanter Kamera. Ein angenehm sinnfreies Tür-auf-Tür-zu-Musical über die Freuden spätrö­mischer Dekadenz, voll von klingelnder Wortakrobatik und brachialem Körperwitz. »… Tragedy tomorrow / Comedy tonight!«

R Richard Lester B Melvin Frank, Michael Pertwee V Plautus K Nicolas Roeg M Stephen Sondheim A Tony Walton S John Victor-Smith P Melvin Frank D Zero Mostel, Jack Gilford, Michael Hordern, Michael Crawford, Buster Keaton | USA & UK | 99 min | 1:1,66 | f | 16. Oktober 1966

5.10.66

Seconds (John Frankenheimer, 1966)

Der Mann, der zweimal lebte

Eine namenlose ›company‹ bietet ihren Kunden die Chance eines zweiten Lebens: mit neuem Gesicht in neuer Umgebung neu anfangen. Doch die Flucht aus dem Alptraum der Gewohnheit endet im Alptraum der verlorenen Identität … Ein auswegloser Thriller, der von der ersten bis zur letzten Sekunde eine ungemütliche Seherfahrung bietet: verzerrte Optik, verzerrte Bühnenbilder, Jump-cuts, dazu eine ziemlich einmalige Anhäufung von sinistren Charakteren. Rock Hudson liefert eine selten uneitle Performance: Welcher andere Star würde es dulden, erst bei Minute 40 mit völlig zerstörtem Gesicht in einem Film aufzutauchen und sich dann auch noch auf eine so erniedrigende Weise aus der Geschichte zu verabschieden wie in diesem Fall?

R John Frankenheimer B Lewis John Carlino V David Ely K James Wong Howe M Jerry Goldsmith A Ted Haworth S David Newhouse, Ferris Webster P Edward Lewis D Rock Hudson, Salome Jens, John Randolph, Jeff Corey, Murray Hamilton | USA | 106 min | 1:1,85 | sw | 5. Oktober 1966

1.10.66

The Deadly Affair (Sidney Lumet, 1966)

Anruf für einen Toten

Der Tod eines anonym des Geheimnisverrats bezichtigten Foreign-Office-Beamten setzt einen kleinen, schmuddligen Spionage-Thriller in Gang, der seine Spannung nicht durch komplizierte Verwicklungen oder raffinierte Plot-Twists entfaltet sondern durch genaue Beobachtung der handelnden (das heißt: der zum Handeln gezwungenen) Personen: James Mason als hitzig-melancholischer Secret-Service-Mann Dobbs, der den Zeiten der Eindeutigkeit nachtrauert, Harry Andrews als ausgebuffter Kommissar im Ruhestand, der einschläft, sobald er mit Hypothesen gelangweilt wird, Simone Signoret als rätselhafte Witwe, die ihre Vergangenheit wie ein Leichenhemd trägt, Maximilian Schell als gefährlicher Charmeur, Harriet Andersson als ausgenutzte Nymphomanin – Figuren eines Spiels, das weder Könige noch Damen kennt, nur Bauern, die auf die eine oder andere Weise zu Opfern der Umstände werden. Sidney Lumets neblig-trübe John-le-Carré-Adaption malt das bis zur Farblosigkeit entsättigte Bild eines unswinging London: Die Kamera (Freddie Young) zeigt trostlose Straßen, düstere Wohnungen, unbehauste Existenzen. »You have no place among real people«, muß sich Agentenjäger Dobbs einmal sagen lassen. »The Deadly Affair« läßt Zweifel daran aufkommen, daß es überhaupt noch »wirkliche Menschen« gibt.

R Sidney Lumet B Paul Dehn V John le Carré K Freddie Young M Quincy Jones A John Howell S Thelma Connell P Sidney Lumet D James Mason, Simone Signoret, Harry Andrews, Maximilian Schell, Harriet Andersson | UK | 115 min | 1:1,85 | f | 1. Oktober 1966

6.9.66

Fahrenheit 451 (François Truffaut, 1966)

Fahrenheit 451

François Truffauts Ausflug ins Science-Fiction-Genre (der sein einziger bleiben wird) beschreibt (nach dem gleichnamigen Roman von Ray Bradbury) eine Gesellschaft, in der Bücher (wie überhaupt alles Geschriebene) streng verboten sind, da individuelle Lektüre der herrschenden gleichschalterischen Ideologie widerspricht. Jedermann (und jedefrau) soll dasselbe denken, glauben, fühlen: »We've all got to be alike. The only way to be happy is for everyone to be made equal.« Pillen und televisionäre Dauerberieselung sorgen für den gewünschten ausgeglichenen Gemütszustand der Allgemeinheit, während sich die Feuerwehr um die brandheiße Vernichtung (»Fahrenheit four-five-one is the temperature at which book paper catches fire and starts to burn.«) sämtlichen aufgefundenen Schriftgutes kümmert ... Daß Truffaut, seines Zeichens nicht nur ein fanatischer Cinéast sondern auch ein leidenschaftlicher Leser, von diesem Sujet fasziniert war, kann nicht erstaunen, doch erscheint die plötzliche Verwandlung des Feuerwehrmannes Guy Montag (Oskar Werner) vom überzeugten Büttel des System zum souveränen Leser wenig glaubwürdig, und weder das stockpuppenartige Auftreten der Darsteller (neben Werner: Cyril Cusack als väterlich-strenger Feuerwehrhauptmann und Julie Christie in einer wenig sinnvollen Doppelrolle) noch die spielzeuglandhafte Ausstattung oder Bernard Herrmanns exaltierter Soundtrack tragen dazu bei, eine Atmosphäre wahrer Beunruhigung zu schaffen. Allein das winterliche Ende des Films, das Menschen zeigt, die freiwillig zu Büchern werden, um das literarische Erbe zu bewahren, läßt in seiner unheimlichen Konsequenz erschauern.

R François Truffaut B François Truffaut, Jean-Louis Richard V Ray Bradbury K Nicolas Roeg M Bernard Herrmann A Syd Cain S Thom Noble P Lewis M. Allen D Julie Christie, Oskar Werner, Cyril Cusack, Anton Diffring, Bee Duffell | UK | 113 min | 1:1,66 | f | 6. September 1966

# 1068 | 31. Juli 2017

Der Bucklige von Soho (Alfred Vohrer, 1966)

Die erste farbige Edgar-Wallace-Adaption, ein Werk des Übergangs – Regisseur Alfred Vohrer testet die neuen Möglichkeiten eher zurückhaltend aus. Das forcierte Helldunkel, das die Bildinszenierungen der Krimi-Reihe bislang beherrschte, findet (noch) keine Entsprechung in der Kolorierung des Schurkenstücks: Orte des Schreckens, wie eine (un-)heimliche Folter-Waschküche, ein intriganter Mädchenschlafsaal oder ein kombinierter Spiel- und Sexclub, zeigen sich in kühlen Grau-, Beige- oder Falschgoldtönen. Auch die Themenwahl verspricht kaum Überraschungen: verfolgte Unschuld und eine satte Erbschaft, ein familiäres Doppelspiel und fiese Verbrechen hinter der (Papp-)Fassade von (christlich verbrämter) Wohlanständigkeit. Einen Coup landet Vohrer allerdings in Fragen der Besetzung: Neben Darstellern, denen die Gemeinheit auf der Stirn geschrieben steht (Pinkas Braun, Hilde Sessak, Gisela Uhlen), verleihen zwei immerkomische Alte und eine ewige Witzfigur dem abgrundtief Bösen ein vertraut lächelndes Gesicht.

R Alfred Vohrer B Herbert Reinecker V Edgar Wallace K Karl Löb M Peter Thomas A Wilhelm Vorwerg, Walter Kutz S Susanne Paschen P Horst Wendlandt D Günther Stoll, Eddi Arent, Monika Peitsch, Pinkas Braun, Siegfried Schürenberg | BRD | 89 min | 1:1,66 | f | 6. September 1966

# 795 | 10. November 2013

5.9.66

De man die zijn haar kort liet knippen (André Delvaux, 1966)

Der Mann, der sich die Haare kurz schneiden ließ

Liebe, Schönheit und Tod oder Die Ballade vom richtigen Leben … Govert Miereveld, Jurist, Familienvater, Lehrer an einem Mädchengymnasium, verliert sein Herz an die Schülerin Fran, freilich ohne ihr seine Zuneigung zu gestehen. Nach dem Abgang der hoffnungslos Angebeteten (die sich auf dem Diplomfest mit einem brechtisch-weillschen Chanson –»Was morgen kommt, kann schlimmer sein. / Was morgen kommt, kann besser sein.« – verabschiedet), quittiert auch Govert den Schuldienst, um sein Dasein fortan als Gerichtsbeamter zu fristen. André Delvaux erzählt, gleichzeitig als Innenschau und Außenansicht, die Geschichte einer unbezähmbaren Erotomanie, eines süßen Wahns, den der Liebeskranke weniger als rauschhafte Ekstase denn als lähmenden Erschöpfungszustand erlebt … Jahre später, nachdem er kurz zuvor als angewiderter Zeuge der Exhumierung eines mutmaßlichen Bankräubers beigewohnt hatte, trifft Govert die vergötterte Frau (die mittlerweile eine gefeierte Sängerin ist) zufällig wieder. Ob die folgende innige Aussprache tatsächlich stattfindet oder sich nur in der Phantasie eines Verrückten abspielt, bleibt ebenso offen wie die Frage, ob Govert Fran tatsächlich getötet hat oder lediglich aufgrund seiner geistigen Zerrüttung in eine Heilanstalt eingewiesen wurde. So ambivalent wie die Hauptfigur Govert (≈ göttlicher Friede) Miereveld (≈ Ameisenhaufen) erscheint der ganze Film: Alles in Ghislain Cloquets so einfachen, so rätselhaften Schwarzweißbildern schwebt, schwimmt, schwankt, zwischen Sehnsucht und Begierde, zwischen Wachen und Träumen, zwischen Transparenz und Undurchsichtigkeit, zwischen Märchen und Schreckensnachricht.

R André Delvaux B André Delvaux, Anna de Pagter V Johan Daisne K Ghislain Cloquet M Frédéric Devreese A Jean-Claude Maes S Suzanne Baron P Paul Louyet, Jos Op De Beek D Senne Rouffaer, Beata Tyskiewicz, Hector Camerlynck, Paul s’Jongers, François Bernard | B | 98 min | 1:1,66 | sw | 5. September 1966

# 846 | 15. März 2014

Abschied von gestern (Alexander Kluge, 1966)

»Uns trennt von gestern kein Abgrund, sondern die veränderte Lage.« Der ziellose Weg einer jungen Frau durch die Bundesrepublik: Anita G., jüdischer Herkunft, Zonenflüchtling, ohne festen Wohnsitz, lebt aus dem Koffer, sucht eine Perspektive, will Anschluß und Austausch, eckt jedoch ständig an, bleibt außen vor, rutscht ab. Die filmische Aufbereitung ihres »Falls«, vorgetragen als fragmentarisches Protokoll, als ausschnitthafte Bewegungsstudie, als soziales Rollenspiel, erhebt keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit – Anita dient nicht als Exempel, sie bleibt Unikat. Alexander Kluge beobachtet allerdings, indem er sich seiner Zielperson an die Fersen heftet, ihr durch Hotels, Kaffeehäuser, Apartments, Universitäten, Gefängnisse folgt, eine Vielzahl von Situationen, die beispielhaft gesellschaftliche Gegebenheiten (Verdinglichung, Fremdbestimmung, Kontaktarmut) beschreiben; überhaupt ist der Autor ein begeisterter Sammler – von Gegenständen und Typen, von Zitaten und Momenten –, der aus seinen objets trouvés eine Art kinematographisches Fundbüro errichtet: »Abschied von gestern« gleicht einem assoziativen Depot des Alltags, ist hypothetisches Dokument und konkrete Fiktion westdeutscher Wirklichkeiten. Die Unbehaustheit der Protagonistin (≈ ihre dornige, allseits schief beäugte Freiheit) manifestiert sich dabei immer wieder in starken Bildern, etwa wenn die heimatlose Anita ihren Koffer über eine nicht enden wollende Brücke trägt, oder wenn sie ihre Morgentoilette am Ufer eines Flusses erledigt. PS: »Jeder ist an allem schuld, aber wenn das jeder wüßte, hätten wir das Paradies auf Erden.«

R Alexander Kluge B Alexander Kluge V Alexander Kluge K Edgar Reitz, Thomas Mauch M diverse S Beate Mainka-Jellinghaus P Alexander Kluge, Heinz Angermeyer D Alexandra Kluge, Hans Korte, Günther Mack, Werner Kreindl, Alfred Edel | BRD | 88 min | 1:1,37 | sw | 5. September 1966

2.9.66

The Brides of Fu Manchu (Don Sharp, 1966)

Die 13 Sklavinnen des Dr. Fu Man Chu

»You have no will, no mind of your own.« Fu Manchu, in giftig glänzendes Smaragdgrün gewandet, will einmal mehr die Weltherrschaft an sich reißen und erweist sich dabei als östlicher Pervertierer westlicher Fortschrittseuphorie: Seine Schergen entführen zu Erpressungszwecken die Töchter genialer (wiederum europäischer) Wissenschaftler, deren kombinierte Forschungsergebnisse die Übermittlung von Zerstörungsenergie via Radiowellen ermöglichen. Am Fuße des marokkanischen Atlasgebirges unterhält der Teufel in Chinesengestalt in einer umgenutzten antiken Tempelanlage seine hochmoderne Leitzentrale, in der zum einen die schönen Frauen als lebende (und hörige) Faustpfände einsitzen, von der aus zum anderen die tödlichen Strahlen in den Äther gefunkt werden. Abermals von Don Sharp ins Werk gesetzt, entbehrt der zweite Teil der Reihe leider sowohl der gelassenen Stilsicherheit des Vorgängers wie auch der kühl-effektvollen Ausmalung von Gefahr: Weder jene Szene, die die ostentative Zerstörung eines Dampfschiffs zeigt, noch der Angriff auf eine hochkarätig besetzte Arms Conference, deren Teilnehmer sich in der Londoner St. Paul’s Cathedral versammeln, schöpfen das vorhandene Spannungspotential auch nur ansatzweise inszenatorisch aus. »In a few moments the entire world will capitulate to me«, phantasiert Fu Manchu; seinem entschlossenen Verfolger Nayland Smith (Sherlock-Holmes-Darsteller Douglas Wilmer ersetzt Nigel Green) gelingt es, wie zu erwarten war, eben dies zu verhindern, freilich ohne das schlitzäugige Grundübel endgültig ausmerzen zu können: »The world shall hear from me again.«

R Don Sharp B Peter Welbeck (= Harry Alan Towers) V Sax Rohmer K Ernest Steward M Bruce Montgomery A Frank White S Allan Morrison P Harry Alan Towers D Christopher Lee, Douglas Wilmer, Heinz Drache, Maria Versini, Tsai Chin | UK & BRD | 93 min | 1:1,85 | f | 2. September 1966

# 865 | 22. Mai 2014

26.8.66

La voleuse (Jean Chapot, 1966)

Schornstein Nr. 4

1966. Was macht eigentlich Romy Schneider? Sie ist längst nicht mehr Sissi, und die skandalträchtige Liaison mit Alain Delon liegt ebenfalls hinter ihr. Sie ist auch noch nicht der große französische Star in Meisterwerken von Sautet, Chabrol, Zulawski. Mitte der 60er Jahre lebt Romy Schneider in Berlin. Eigentlich will sie Theater spielen. Stattdessen dreht sie einen Film: die französisch-deutsche Koproduktion »La voleuse«. Schneider ist Julia Kreuz, eine junge Berlinerin, die ihrem Gatten Werner, einem leitenden Angestellten (Michel Piccoli), eines Tages mitteilt, daß sie aus der Zeit vor ihrer Ehe einen siebenjährigen Sohn habe, ein Kind, das nach der Geburt zu Pflegeeltern im Ruhrgebiet gegeben wurde. Jetzt fordert sie den Jungen zurück. Der polnischstämmige Stahlarbeiter Kostrowicz (Hans-Christian Blech) wehrt sich nach Kräften gegen das Ansinnen der leiblichen Mutter. Als ihm der Kleine weggenommen wird, droht er, sich vom höchsten Schornstein seines Werkes in den Tod zu stürzen … Ein Film zwischen allen Stühlen: zwischen den Sprachen, zwischen den Klassen, zwischen den Zeiten, zwischen Großstadt und Industrierevier, zwischen Gefühlsexplosion und Abstraktion, zwischen formierter Gesellschaft und maßlosem Individualismus. Die hochbewußt komponierten schwarzweißen Franscope-Bilder (Kamera: Jean Penzer), die literarischen Wortwechsel (Dialoge: Marguerite Duras), die Auflösung der Erzählung in Szenenbruchstücke (Regie: Jean Chapot) enträtseln – bewußt, wie zu vermuten ist: – nicht den Impuls, der die weibliche Hauptfigur treibt: Ist ihre Obsession Spätfolge eines nichtgelebten Lebens? Oder pathologisches Alleshabenwollen? Oder Leiden an den Verhältnissen? Oder ein Überschuß an Liebe? Julia Kreuz bleibt unerklärlich. Vielleicht spielt Schneider vor den weißen Wänden des Neubau-Apartments ein wenig zu offensichtlich gegen ihr vormaliges Herziges-Mädel-Image an, vielleicht duftet die Beschwörung von Leere und Desorientierung, von Entfremdung und Fragmentierung ein bißchen zu sehr nach ›Antonioni Nº 5‹ oder ›Miss Resnais‹ – dabei aber entwirft »La voleuse« sowohl ein außergewöhnliches Frauenportrait als auch eine bemerkenswerte Darstellung der Bundesrepublik zwischen wirtschaftswunderlicher Restauration und kulturrevolutionärem Umbruch.

R Jean Chapot B Marguerite Duras, Jean Chapot K Jean Penzer M Antoine Duhamel A Willy Schatz S Ginette Boudet P Claude Jaeger, Hans Oppenheimer D Romy Schneider, Michel Piccoli, Hans-Christian Blech, Sonia Schwarz, Mario Huth | F & BRD | 88 min | 1:2,35 | sw | 26. August 1966

24.8.66

Fantastic Voyage (Richard Fleischer, 1966)

Die phantastische Reise

Kaum ist der Weltraum mittels Raketentechnik in greifbare Nähe gerückt, wendet sich das Kino nach Innen: Der menschliche Körper wird zum Universum, dessen unendliche Weiten gefahrvolle Abenteuer bereithalten. Dank der Möglichkeit, jedes beliebige Objekt (wenn auch nur für eine Zeitspanne von 60 Minuten) auf Mikrobengröße zu miniaturisieren, kann ein U-Boot mit fünfköpfiger Besatzung ins Gehirn eines eminent wichtigen Gelehrten entsandt werden, um dort ein von außen nicht operables Blutgerinsel zu entfernen. Richard Fleischer überspielt die spinnerte Prämisse der Story durch eine betont sachlich inszenierte, auf jede Musikuntermalung verzichtende erste halbe Stunde, die gleichsam die realistische Rampe für die folgende sagenhafte Fahrt durch Blutbahnen und Lungenbläschen, Gehörgänge und Sehnerven bildet. Auf der Reise offeriert Fleischer reichlich Lavalampen-Psychedelik (die Ausstattung besorgte Jack Martin Smith, der unter anderem Minnellis bunt-nostalgisches St. Louis und Cleopatras überkandideltes Ägypten entwarf) sowie manchen pseudophilosophischen Gemeinplatz (»We stand in the middle of infinity between outer and inner space, and there’s no limit to either.«), doch die wirkungsvoll mit Thriller- und Actionelementen angereicherte, in Echtzeit erzählte Wissenschaftsphantasmagorie bietet auch unvergeßliche Momente: Raquel Welch von Antikörpern gewürgt, Arthur Kennedy im Laserkampf gegen einen Thrombus, Donald Pleasence von Leukozyten attackiert, zu guter Letzt Menschen im Tränenbad – »things no one has ever seen before«.

R Richard Fleischer B Harry Kleiner, David Duncan K Ernest Laszlo M Leonard Rosenman A Jack Martin Smith, Dale Hennesy S William B. Murphy P Saul David D Stephen Boyd, Donald Pleasence, Arthur Kennedy, Raquel Welch, Edmond O’Brien | USA | 100 min | 1:2,35 | f | 24. August 1966

# 1080 | 12. Oktober 2017

22.8.66

Lange Beine – lange Finger (Alfred Vohrer, 1966)

»Heller Kopf und edle Rasse – / ja, dann stimmt es mit der Kasse.« Die junge, hübsche Baronesse Holberg steht in einer dreihundertjährigen Familientradition des Schmuck- und Taschendiebstahls; von ihrer Großmutter erbte sie das Anderthalb-Finger-System, das sie virtuos zur Perfektion brachte. Der stolze Vater (Martin Held) muß zu seinem Entsetzen erleben, daß sich die kriminell hochtalentierte Tochter (Senta Berger) ausgerechnet in einen Anwalt aus angesehener englischer Unternehmerfamilie (Joachim Fuchsberger) verliebt und beschließt, bürgerlich zu werden. Welche Schande! … Zwischen seine zahllosen Edgar-Wallace-Variationen schiebt Alfred Vohrer eine kreuzbrave, wenig trickreiche Liebes- und Diebeskomödie, die nicht ungeschickt internationales Flair, anrüchiges Laissez-faire und satirischen Aufmupf vortäuscht. Doch auch ein ausgelassenes Ensemble, ein courrègeskes Kostümbild und die Erkenntnis, daß die Ehrlichen den Unehrlichen längst überlegen sind, weil sie gelernt haben, auf ehrliche Weise unehrlich zu sein, verwandeln die biedersinnigen Gewagtheiten einer ungelüfteten Boulevardbühne nicht in zubeißende Gesellschaftspersiflage.

R Alfred Vohrer B Peter Lambda, Eberhard Keindorff, Johanna Sibelius K Karl Löb M Martin Böttcher A Isabella Schlichting, Werner Schlichting S Jutta Hering P Artur Brauner D Senta Berger, Martin Held, Joachim Fuchsberger, James Robertson Justice, Irene von Meyendorff | BRD | 90 min | 1:1,66 | f | 26. August 1966

12.8.66

Hokuspokus oder Wie lasse ich meinen Mann verschwinden? (Kurt Hoffmann, 1966)

Noch einmal inszeniert Kurt Hoffmann die Justizkomödie »Hokuspokus« von Curt Goetz, wobei er sich weniger geschmackssicher zeigt als bei seiner ersten Adaption 13 Jahre zuvor: Ein überflüssiger Prolog breitet Nebenumstände der zu verhandelnden Tat aus (wenn es denn überhaupt eine »Tat« gibt) und verzögert den Einstieg in die eigentliche Handlung; weder der gutbürgerlich-onkelhafte Heinz Rühmann noch die affektiert-neckische Liselotte Pulver treffen den weltläufigen Goetz-Ton. Hohen visuellen Reiz entfaltet indes das von Otto Pischinger entworfene Bühnenbild, das für Außen- und Innenszenen des Stücks eine gleichermaßen modernistisch-artifizielle Kulissenwelt schafft und das Lustspiel um hypothetische Tatsachen und tatsächliche Hypothesen stellenweise in eine schicke Rechtsgroteske verwandelt. Helmut Käutners verspielte Scribe-Verfilmung »Das Glas Wasser« (1960) oder die antiillusionistischen Ausstattungen zeitgenössischer Fernsehspiele mögen hier Pate gestanden haben.

R Kurt Hoffmann B Eberhard Keindorff, Johanna Sibelius V Curt Goetz K Richard Angst M Franz Grothe A Otto Pischinger S Dagmar Hirtz P Hans Domnick, Heinz Angermeyer D Heinz Rühmann, Liselotte Pulver, Fritz Tillmann, Richard Münch, Stefan Wigger | BRD | 100 min | 1:1,66 | f | 12. August 1966

# 816 | 19. Dezember 2013

29.7.66

Schwarzer Markt der Liebe (Ernst Hofbauer, 1966)

»Für eine ausgedehnte Tournee durch den Nahen Osten sucht die Direktion einige gutaussehende Mädchen mit Tanzkenntnissen.« Der alerte Harald von Gröpen (Claus Tinney) und sein flotter Kompagnon Rolf (Rolf Eden) locken gutgläubige Fräuleins in die Falle und verhökern das Frischfleisch an den Meistbietenden – wobei die Abnehmer auch schon mal blutig über den Löffel balbiert werden. Nachdem er sich in Genua lebensgefährliche Schwierigkeiten eingehandelt hat, entwischt Harald nach Westberlin, wo er gutgebauten Nachschub zu organisieren gedenkt … Ernst Hofbauer präsentiert nicht nur die allbekannten Attraktionen der Halbstadt – Europa-Center und Funkturm, Café Kranzler und Kurfürstendamm –, er bietet auch ein indiskretes Röntgenbild ihres verborgenen (und verdorbenen) Innenlebens. Die Handlung des Films, »frei erfunden« nach einem »Tatsachenbericht«, kurvt um diverse weibliche Rundungen, hinterläßt ein paar Leichen, mündet schließlich in eine halluzinatorische Marihuana-Party. Anwesend sind – neben einer (noch) unberührten Blondine – allerlei trübe Gestalten, die verschlagen in die Kamera grinsen: Laura, seine Exzellenz, Dr. Bergheim, Antoinette, Nicole, Madame Nahid, Mr. Simoni mit Gattin Gertrud sowie die lesbische Gräfin Chodkowski (Tilly Lauenstein), Besitzerin einer Unterwäsche-Boutique und eigennützige Sponsorin der skrupellosen Mädchenhändler. (Es fehlt allerdings Konsul Karbach, der nur dann in Ekstase gerät, wenn vor seinen Augen acht oder zehn weiße Mäuse totgetrampelt werden.) Irgendwie erinnert die ebenso lüsterne wie gefühllose Festgesellschaft an das bizarre Gelichter, das Patrick Modiano in seinen phantastisch-realistischen Pariser Okkupationsromanen beschreiben wird. Ein Percussion-Solo des Jazzmusikers Toby Fichelscher – im Vorspann »Bongo Tobby« genannt – liefert den frenetischen Sound dieser abgrundtiefen, alptraumgeschwängerten Nacht, die für alle Beteiligten ein böses Erwachen bereithält.

R Ernst Hofbauer B Ernst Hofbauer K Günter Knuth, Andreas Demmer, Peter Baumgartner M Frank Valdor A Rudolf Attinger, Oskar Pietsch S Ursula Kahlbaum, Eva Zeyn P Erwin C. Dietrich D Claus Tinney, Rolf Eden, Uta Levka, Astrid Frank, Tilly Lauenstein | BRD | 83 min | 1:1,66 | sw | 29. Juli 1966

# 918 | 13. November 2014

14.7.66

Torn Curtain (Alfred Hitchcock, 1966)

Der zerrissene Vorhang

Brian Moore, der irische Schriftsteller, der das Drehbuch zu »Torn Curtain« verfaßte, meinte über das Skript selbstkritisch, daß er es weggeschmissen hätte, wenn es einer seiner Romane gewesen wäre. Auch sonst läßt sich über Alfred Hitchcocks fünfzigsten Film kaum Positives sagen: Die Spionage-Story um einen amerikanischen Wissenschaftler (lasch: Paul Newman), der in der DDR die entscheidende Komponente einer kernphysikalischen Formel auskundschaften will (wobei ihm ungebetenerweise seine Verlobte (bieder: Julie Andrews) hinterdreinkommt), funktioniert weder auf der emotionalen noch auf der Spannungsebene, ist dabei zumeist schwunglos inszeniert, häufig ungelenk geschnitten, (trick-)technisch oft genug nachlässig realisiert. Daß Hitchcock, dem an äußerem Realismus nie viel lag, bei der Darstellung der kommunistischen Ostzone jede Authentizität in die Tonne tritt, daß durch seine Gips-, Papp- und Rückpro-DDR idealistische Untergründler, marodierende russische Soldaten und durchgeknallte polnische Gräfinnen irrlichtern, wäre ihm nicht vorzuwerfen, hätte er die absurden Momente nur nicht so rar gesät. Größtes Manko des öden Streifens sind jedoch die aberwitzig fehlbesetzten Hauptrollen: ›Fast‹ Eddie Felson und Mary Poppins passen in einen Hitchcock-Thriller wie W. C. Fields in eine chorus line. Einen gewissen mimischen Ausgleich schaffen hier die deutschen Nebendarsteller Günter Strack, Hansjörg Felmy und – insbesondere! – Wolfgang Kieling (der kurze Zeit später selbst ins Weltfriedenslager übersiedeln sollte): Als lederbejackter Stasi-Scherge darf Letzterer plastisch veranschaulichen, wie schwierig es ist totzugehen.

R Alfred Hitchcock B Brian Moore K John F. Warren M John Addison A Hein Heckroth Ko Edith Head, Grady Hunt S Bud Hoffman P Alfred Hitchcock D Paul Newman, Julie Andrews, Lila Kedrova, Hansjörg Felmy, Wolfgang Kieling | USA | 128 min | 1:1,85 | f | 14. Juli 1966

13.7.66

How to Steal a Million (William Wyler, 1966)

Wie klaut man eine Million?

Der Pariser Kunstsammler Charles Bonnet (Hugh Griffith) nennt eine exquisite Kollektion sein eigen – außerdem betätigt er sich, ebenso leidenschaftlich wie befähigt, als Fälscher. Die Ausleihe einer (natürlich nachgemachten) Cellini-Venus an ein Museum bringt Bonnet unversehens in arge Bedrängnis: die Versicherung verlangt eine Echtheitsprüfung des Exponats. »We live in a crass, commercial world, with no faith or trust«, ereifert sich der Leihgeber, indes seine Tochter Nicole (ewig elfenhaft: Audrey Hepburn) einen von ihr überraschten Gentleman-Einbrecher (weltmännisch: Peter O’Toole) dazu überreden kann, die Statue aus dem schwergesicherten Ausstellungsraum zu entwenden ... William Wylers charmante, bisweilen etwas gemächlich inszenierte romantische Diebeskomödie erzählt mit leiser Ironie von den Freuden des Fälschens (»In his whole lifetime, van Gogh only sold one painting. Whereas I, in loving memory of his great tragic genius ... have already sold two.«), vor allem aber vom Wahnsinn des Sammelns. Das Prinzip des unbedingten Habenwollens verkörpert ein von Eli Wallach gespielter amerikanischer Tycoon, der sich (zum Nutzen aller Beteiligten) rettungslos in die von Meisterhand gefertigte Venus verliebt: »I want it! I just want to know that it's mine, that I own it, that I can touch it.«

R William Wyler B Harry Kurnitz, George Bradshaw K Charles Lang M Johnny (= John) Williams A Alexandre Trauner S Robert Swink P Fred Kohlmar D Audrey Hepburn, Peter O’Toole, Eli Wallach, Hugh Griffith, Charles Boyer | USA | 123 min | 1:2,35 | f | 13. Juli 1966

# 1041 | 9. Januar 2017

8.7.66

Operazione paura (Mario Bava, 1966)

Die toten Augen des Dr. Dracula

Um die Jahrhundertwende. Dr. Eswai wird in ein abgelegenes Dorf gerufen, wo sich merkwürdige Selbstmordfälle häufen. Der Mediziner gelangt an einen verwunschenen Ort, auf dem ein unnennbarer Fluch liegt. Das Klima aus Angst, Schuld, Verzweiflung und Sterbensmüdigkeit, die unlösbare Kettung ans Gestern, die nicht zu lokalisierende Geographie, die nicht einordenbaren Namen (Kruger, Schuftan, Hollander, Graps) – all dies läßt die kleine Gemeinde mit ihren moosbedeckten Ruinen, ihren labyrinthischen Gäßchen, ihrer von unsichtbarer Hand geläuteten Glocke wie eine Modellkulisse des alten, von der Bürde einer schrecklichen Geschichte bedrückten Europa erscheinen. »Operazione paura« präsentiert ein Kind als Inkarnation dieses Unglücks, den ruhelosen Geist der kleinen blonden Melissa, deren Ball immer wieder unheilverkündend durch die Szenen hüpft, deren gickerndes Lachen baldigen Tod verheißt … Mario Bavas spinnverwebte Elegie der (Selbst-)Zerstörung und des Zerfalls ist ein feingeschliffenes (Kino-)Juwel der Schwarzen Romantik, eine fantastische Wundertüte, vollgestopft mit Symbolen der Vergänglichkeit, ein dramatisches Renkontre von Ratio und Wahn, ein heimtückisches Familienstück, ein Hexentanz durch endlos vervielfachte Salons, in denen der Mensch sich selbst verfolgt, und – nicht zuletzt – ein kreativer Kratzfuß vor Hitchcock und Cocteau. Schwebende Kamerafahrten wechseln mit messerstichartigen Zooms, trostlose Kammern kontrastieren mit barocken Farbräumen, das Innen fällt ins Außen, und eine Wendeltreppe wird zum Auge, das ins Grauen blickt.

R Mario Bava B Romano Migliorini, Roberto Natale, Mario Bava K Antonio Rinaldi M Carlo Rustichelli A Alessandro Dell’Orco S Romano Fortini P Luciano Cantenacci, Nando Pisani D Giacomo Rossi-Stuart, Erika Blanc, Fabienne Dali, Piero Lulli, Giovanna Galletti | I | 85 min | 1:1,85 | f | 8. Juli 1966

4.7.66

Eye of the Devil (J. Lee Thompson, 1966)

Die schwarze 13 

Surreale Okkult-Phantasie, die den eleganten Pariser Aristokraten Philippe de Montfaucon (David Niven) samt Frau (Deborah Kerr) und Kindern aus der aufgeklärten Gegenwart in die archaische Welt seiner Vorfahren katapultiert: Wegen der drohenden dritten Mißernte in Folge wird der (Wein-)Gutsherr und Erbe einer tausendjährigen Tradition auf seine Besitzungen im Süden Frankreichs zurückgerufen, wo ein ganz besonderer Einsatz von ihm verlangt wird … »Eye of the Devil«, der – mit seinen fetzenhafte Assoziationen und irritierenden flash-forwards – passagenweise wirkt wie eine von Alain Resnais inszenierte »Twilight Zone«-Episode, erzählt einen culture clash zwischen skeptischem Rationalismus und magisch-fatalistischer Weltsicht, deren Widerstreit sich auch in der disparaten Besetzung und in J. Lee Thompsons bewußt inkongruenter Inszenierung spiegelt: Eingespielte Kinolegenden à la Niven und Kerr stehen Swinging-Sixties-Ikonen wie Sharon Tate und David Hemmings gegenüber, während expressive Lichtführung und verkantete Perspektiven des klassischen Gruselfilms mit hektischen Reißschwenks und demonstrativen Zooms kombiniert werden. Der Horror entwickelt sich indes weniger aus dem Mummenschanz, den eine Gruppe von schwarzen Kuttenträgern unter Führung eines diabolischen Priesters (Donald Pleasence) aufführt, das wahre Grauen liegt im leeren Gesicht des Opfers, das sich voller Glaubensinbrunst in sein Schicksal fügt, und in der finalen Erkenntnis, daß sich das Rad der dunklen Geschichte immer weiter drehen wird … 

R J. Lee Thompson B Robin Estridge, Dennis Murphy V Philip Loraine (= Robin Estridge) K Erwin Hillier M Gary McFarland A Eliot Scott S Ernest Walter P Martin Ransohoff, John Calley D Deborah Kerr, David Niven, Donald Pleasence, Sharon Tate, David Hemmings | UK | 96 min | 1:1,66 | sw | 4. Juli 1966

24.6.66

La caza (Carlos Saura, 1966)

Die Jagd

José, Paco, Luis, drei alte Freunde, nein: drei alte Kameraden treffen sich, nach vielen Jahren, um gemeinsam zu jagen. Sie waren schon einmal gemeinsam auf der Jagd, damals allerdings nicht, um Kaninchen zu schießen. »La mejor caza es la caza del hombre«, sagt einer der Jäger, ohne daß deutlich würde, ob er seine Wort ernst meint oder sarkastisch: Die beste Jagd ist die Jagd auf Menschen. Ein sonnenglühender Tag, ein schattenloses Tal, nackter, narbiger Fels, von unzähligen Höhlen durchzogen, aus denen die Gespenster der Vergangenheit steigen. Gewalt liegt in der brennenden Luft, die Erinnerung an einen grausamen Krieg, an vielfachen Tod. Drei alte Kameraden auf der Jagd. Ein vierter Mann ist dabei, zum ersten Mal, ein Jüngerer, der vieles nicht versteht, dem wenig erklärt wird. In harten Schwarzweiß-Bildern, häufig im Wechsel zwischen Totalen der ausgedörrten Landschaft, deren Weite die Menschen verschlingt, und Großaufnahmen von angespannten Gesichtern sowie Details von mattglänzenden Waffen, entwickelt Carlos Saura die Konflikte zwischen seinen drei Protagonisten, einem verschuldeten Grundbesitzer, einem erfolgreichen Unternehmer, und einem Taugenichts, der sich in Alkohol und Science-Fiction-Geschichten flüchtet, der (auf deutsch!) Hemingway zitiert: »Moralisch ist, wonach man sich gut fühlt, und unmoralisch ist, wonach man sich schlecht fühlt.« Gemeinsame Schuld bricht auf wie eine nie verheilte Wunde, altes Unrecht kehrt wieder als Aggression, die sich explosionsartig entlädt … Sauras Erzählung gießt eine Allegorie auf den Zustand der spanischen Nach(bürger)kriegsgesellschaft in die Form eines visuell (und musikalisch) pronocierten, sich dynamisch zum blutigen Thriller zuspitzenden Psychodrams.

R Carlos Saura B Carlos Saura, Angelino Fons K Luis Cuadrado M Luis de Pablo A Carlos Ochoa S Pablo D. del Amo P Elias Querejeta D Alfredo Mayo, Ismael Merlo, José Maria Prada, Emilio Gutiérrez Caba, Fernando Sánchez Polack | E | 91 min | 1:1,66 | sw | 24. Juni 1966

# 831 | 22. Januar 2014

23.6.66

Playgirl (Will Tremper, 1966)

Ein deutscher Autorenfilm, durch und durch persönlich; nichts wird gefilmt, was den Autor nicht interessierte. Das Schöne aber: bevor er Filme machte, schrieb der Autor (Will Tremper – dem das deutsche Kino leider schon bald zu doof werden wird) Gerichtsreportagen und Serien für Illustrierte. Was ihn interessiert, ist das Vermischte, nicht der Kulturteil, sind Menschen, nicht Figuren. Eine beispielhafte Szene: Alexandra Borowski (Eva Renzi – die leider zu doof sein wird, sich zum wirklichen Star zu mausern), Mannequin, »Playgirl«, Heldin dieses deutschen, genauer gesagt: Westberliner Autorenfilms steht an der Mauer (der zwischen Ost und West), trägt eine schicke Kreation von Heinz Oestergaard und läßt sich für eine Modezeitschrift fotografieren. Passanten kommen vorbei, empören sich: Was es für eine Schweinerei sei, sich ausgerechnet hier, im Angesicht des Todes, in Pose zu werfen! Sie darauf patzig: »Gebt doch nicht so an mit eurer Mauer!« Auch wenn die provinzielle Grundierung der ausgestellten Weltläufigkeit nicht ganz zu übertünchen ist, atmet »Playgirl« eine gehörige Portion kinematographischer Freiheit: ein Autor schlendert (oder braust im Jaguar) durch seine Stadt und filmt ganz einfach das, was ihn dazu animiert, die Kamera laufen zu lassen: nachmittags schwimmen im Olympiastadion, nachts baden in einem Pool im Grunewald, zu Abend essen im »Kopenhagen« am Kurfürstendamm, die Baustelle vom Springer-Hochhaus besichtigen, zuhören wie Paul Kuhn Klavier spielt und singt, mit einem hübschen Mädchen tanzen gehen und danach ins Bett …

R Will Tremper B Will Tremper K Wolfgang Lührse, Benno Bellenbaum M Peter Thomas, Klaus Doldinger S Ursula Möhrle P Will Tremper D Eva Renzi, Harald Leipnitz, Paul Hubschmid, Umberto Orsini, Rudolf Schündler | BRD | 88 min | 1:1,66 | sw | 23. Juni 1966

17.6.66

Cul-de-sac (Roman Polanski, 1966)

Wenn Katelbach kommt ...

»Well, here we are.« – »Where?« – »In the shit.« Zwei Gangster, der angeschossene Dickie (bullig: Lionel Stander) und der schwerverletzte Albie (schrullig: Jack MacGowran), entern nach einem (offenbar mißglückten) Coup das entlegene Anwesen des retirierten Geschäftsmannes George (clownesk: Donald Pleasence) und seiner jungen (zweiten) Gattin Teresa (begehrlich: Françoise Dorléac). Der burgartige Felsenbau auf einer kleinen Gezeiteninsel, die bei Flut vollständig vom Meer umgeben ist, wird zum Schauplatz einer absurd-brutalen Komödie der Herrschafts- und Geschlechterbeziehungen. In wechselnden Figurenkonstellationen läßt Roman Polanski die kleine geschlossene Gesellschaft (gelegentlich aufgestört durch ungebetene Gäste) immer neue Muster von Macht und Knechtschaft, von Anziehung und Abstoßung, von Verlangen und Impotenz durchdeklinieren. Gilbert Taylors tiefenscharfe, kontrastreiche Schwarzweißbilder zeigen die fortgesetzten körperlichen, intellektuellen und klassenmäßigen Auseinandersetzungen bald mit kühler Distanz, bald in boshafter Verzerrung, und auch eine metaphysische Komponente spielt in die makabre Psychofarce hinein: Der von den festsitzenden Verbrechern telefonisch zur Hilfe gerufene Boß Katelbach bleibt so abwesend wie Samuel Becketts Godot. Seine letzte Botschaft an die Gestrandeten lautet: »You’re on your own.«

R Roman Polanski B Roman Polanski, Gérard Brach K Gilbert Taylor M Krzysztof Komeda A Voytek (= Wojciech Szendzikowski) S Alastair McIntyre P Gene Gutowski D Donald Pleasence, Françoise Dorléac, Lionel Stander, Jack MacGowran, Jacqueline Bisset | UK | 112 min | 1:1,66 | sw | 17. Juni 1966

# 1019 | 18. August 2016

15.6.66

Spur der Steine (Frank Beyer, 1966)

»Mit Ihnen würde ich mir sogar ’nen DEFA-Film angucken.« Kabale und Liebe, Parteibürokratie und sozialistische Moral, Planwahn und Selbsthelfertum auf der fiktiven DDR-Großbaustelle Schkona (≈ Schkopau + Leuna) Anfang der 1960er Jahre, dargeboten in kraftvoll-schwarzweißen Totalvision-Bildern. Im Kern die Dreiecksgeschichte zwischen dem beruflich kämpferischen, privat hasenherzigen Parteisekretär Horrath (Eberhard Esche), dem äußerlich aufmüpfigen, innerlich untadeligen Brigadier Balla (Manfred Krug) und der herb-zarten, idealistisch-pragmatischen Ingenieurin Katie Klee (Krystyna Stypułkowska), irisiert Frank Beyers Adaption des gleichnamigen Aufbau-, Bildungs- und Erziehungsromans von Erik Neutsch zwischen lebensnahem Arbeiterwestern und ideologischem Thesenstück, zwischen sachlicher Romanze und deftigem Sittenpanorama … Zehn Gebote für den neuen sozialistischen Menschen postulierte der spitzbärtige Generalsekretär der Einheitspartei, unter anderem: »Du sollst sauber und anständig leben.« Doch die Verhältnisse, sie sind nicht so. Es irrt der Mensch, solang er strebt – auch wenn über ihm die rote Fahne weht. »Spur der Steine« gelingt das Kunststück, die kindliche Wunschvorstellung von der unerschütterlich linientreuen sozialistischen Persönlichkeit zu desavouieren und dennoch nicht den betonfesten Glauben an die unvermeidliche Verbesserung der Menschheit zu verlieren. Horrath, Balla, Klee mögen dabei wegen ihrer selbstkritischen Fehlbarkeit mutmachende Beispiele abgeben – doch am Ende werden es mediokre Figuren wie der von SED-Apparatschik Hans-Peter Minetti verkörperte SED-Apparatschik Bleibtreu sein, die bellend den Ton angeben, die nimmermüde den Marsch blasen, die ein theoretisches Modell gegen jede Wirklichkeit und gegen alle Projektierungsfehler für real-existierend erklären.

R Frank Beyer B Karl Georg Egel, Frank Beyer V Erik Neutsch K Günter Marczinkowsky M Wolfram Heicking A Harald Horn S Hildegard Conrad P Dieter Dormeier D Manfred Krug, Eberhard Esche, Krystyna Stypułkowska, Johannes Wieke, Walter Jupé | DDR | 139 min | 1:2,35 | sw | 15. Juni 1966

9.6.66

The Glass Bottom Boat (Frank Tashlin, 1966)

Spion in Spitzenhöschen

»She’s a pretty strange acting female.« Space Race, Schwerelosigkeit, Spionage und die Formel zur Koordination von Mars und Venus; aus den Tiefen des Pazifik vor der Insel Santa Catalina, durch eine vollautomatische Küche, hoch hinauf in den (siebten) Himmel … Frank Tashlin inszeniert (Meer-)Jungfrau Doris Day als vorgebliche Mata Hari der Pop-Moderne – ihr wahnsinniges Ungeschick, ihre platinblonde Schlichtheit, ihre fundamentalistische Hausfrauenhaftigkeit erscheinen im Vergleich zur vertrottelten Paranoia der sie umgebenden Männer (Dom De Louise als linkischer Agent wider Willen, Paul Lynde als beschränkter Sicherheitsmann im Fummel, Edward Andrews als mißtrauisch-lüsterner NASA-General) und zur Künstlichkeit der Welt, die diese Männer geschaffen haben, geradezu erschreckend normal, vernünftig, liebenswert. Kein Wunder also, daß Raumfahrt-Tycoon Rod Taylor dieser ziemlich seltsam agierenden Frau mit Haut und Haaren verfällt … Tashlin bringt Days blitzsauberes Image zielstrebig (und kinematographisch fruchtbar) auf den Punkt, ironisiert es in einem Screwball-Ballett der konsequenten Fehltritte. Verwechslung und Verstellung, Slapstick und Romantik – »soft as the starlight in the sky«.

R Frank Tashlin B Everett Freeman K Leon Shamroy M Frank De Vol A Edward C. Carfagno, George W. Davis S John McSweeney P Everett Freeman, Martin Melcher D Doris Day, Rod Taylor, Arthur Godfrey, Paul Lynde, Dom DeLouise | USA | 110 min | 1:2,35 | f | 9. Juni 1966

# 783 | 21. Oktober 2013

25.5.66

Au hasard Balthazar (Robert Bresson, 1966)

Zum Beispiel Balthazar

»Ich erwachte eines Abends völlig aus dieser geistigen Umnachtung, und was mich erweckte, war das Geschrei eines Esels.« Fjodor M. Dostojewski: »Der Idiot« ... Ein Schicksalsweg von Geburt und Taufe im Stall bis zum Tod durch eine verirrte Kugel inmitten einer Schafherde im Gebirge. Der Esel Balthazar gleicht (um die Worte eines englischen Schriftstellers zu paraphrasieren) einer Kamera, mit offenem Verschluß, ganz passiv, er denkt nicht, registriert nur: das Mädchen, das ihm Blumenkränze flicht, den Gutsherrn, der ihn ins Joch spannt und mit der Peitsche antreibt, die Bäckerin, die ihn das frische Brot austragen läßt, den Zirkusdirektor, der ihn zur komischen Nummer macht, die Schmuggler, die ihn schwerbeladen zur Grenze treiben. Mit der Gleichmut eines Heiligen nimmt das Tier hin, was ihm widerfährt – und das ist nur selten etwas Gutes. Wie Balthazar ergeht es auch seiner ersten Besitzerin, der jungen Marie (Anne Wiazemsky), die nach unbeschwerter Kindheit in unterschiedlicher (zumeist männlicher) Gestalt die Widrigkeit der Welt erfahren muß. Indem er in einer Folge von fragmentarisch geschilderten Situationen, anhand zahlreicher Beispiele aus diversen sozialen Milieus – Bürgertum und Bauernstand, Krawalljugend und Straßenvolk – einen Katalog der menschlichen Schwächen aufblättert, konfrontiert Robert Bresson seine (geradezu herausfordernd) duldsamen, hilflosen, naiven Protagonisten mit Stolz und Neid, Rohheit und Gleichgültigkeit. So entwickelt sich, in den schimmernden Grautönen der geheimnisvoll-klaren Bilder von Ghislain Cloquet, ein unpathetisch-emotionales, ebenso (wort-)karges wie (beziehungs-)reiches Panorama des L(i)ebens, Leidens, Sterbens.

R Robert Bresson B Robert Bresson K Ghislain Cloquet M Franz Schubert, Jean Wiener A Jean Charbonnier S Raymond Lamy P Mag Bodard D Anne Wiazemsky, François Lafarge, Philippe Asselin, Nathalie Joyaut, Walter Green | F & S | 95 min | 1:1,66 | sw | 25. Mai 1966

# 1126 | 13. Juni 2018

12.5.66

Mademoiselle (Tony Richardson, 1966)

Mademoiselle

»Pauvre fille, elle mène une drôle de vie.« Mademoiselle öffnet ein Wehr, um das Dorf zu überschwemmen. Mademoiselle zerquetscht in der Hand das Gelege eines Rebhuhns. Mademoiselle legt Feuer in einem Stall. Mademoiselle versengt mit brennender Zigarette die Blüten eines Apfelbaums. Mademoiselle vergiftet das Brunnenwasser. Bevor Mademoiselle, die zugereiste Lehrerin einer kleinen Ortschaft in der tiefsten französischen Provinz, ihr Zimmer verläßt, um ihr Zerstörungswerk zu verrichten, wählt sie das passende Kleid, schminkt sich sorgfältig, steigt in hochhackige Schuhe, streift schwarze Netzhandschuhe über. Keiner der Dorfbewohner hat Mademoiselle im Verdacht. Der allgemeine Argwohn richtet sich gegen den italienischen Waldarbeiter Manou (Ettore Manni), dessen offensive Virilität den Männern Unbehagen bereitet und die Frauen – auch Mademoiselle – in den Bann schlägt ... Tony Richardson formt Jean Genets Reflexion über das Böse und die Einsamkeit, über Frustration und Sadismus, über Lust und Eifersucht zu einem unheimlich frostigen, dabei hochgradig sinnlichen Film. Statt Musik wirken die Geräusche, rauschendes Wasser und knisternde Flammen, Spechtklopfen und Vogelstimmen, krachende Axthiebe und lärmende Motorsägen, Donner und Glockengeläut; in David Watkins statischen Panavision-Bildern der arkadisch-archaischen Landschaft werden die Menschen häufig marginalisiert, zu winzigen Details verkleinert oder an den Rand gedrängt. Überlebensgroß erscheint indes Jeanne Moreau als »Mademoiselle«, in ihrer Grausamkeit, in ihrer Unergründlichkeit, in ihrem Verlangen, wenn sie Manous Sohn Bruno (der, in die Lehrerin heimlich verliebt, als einziger ihr Geheimnis ahnt) wiederholt vor versammelter Klasse demütigt, wenn sie den Schülern mit kalter Begeisterung von den Untaten Gilles de Rais’ erzählt, wenn sie das Objekt ihrer gnadenlosen Begierde dem Zorn der Menge ausliefert: »Mademoiselle, c’était lui?« – »Oui!«

R Tony Richardson B Jean Genet, Marguerite Duras K David Watkin A Jacques Saulnier S Antony Gibbs P Oscar Lewenstein D Jeanne Moreau, Ettore Manni, Keith Skinner, Umberto Orsini, Jacques Monod | F & UK | 100 min | 1:2,35 | sw | 12. Mai 1966

# 1070 | 21. August 2017

11.5.66

La guerre est finie (Alain Resnais, 1966)

Der Krieg ist vorbei

Der Krieg ist vorbei. Der Krieg endet nie. Jedenfalls nicht für die Verlierer. Yves Montand spielt Diego alias Domingo alias Carlos, einen spanischen Kommunisten, der ein Vierteljahrhundert nach dem (offiziellen) Ende der Guerra civil immer noch, immer wieder, immer weiter kämpft – als sei ihm der Krieg zum simplen Lebensbedürfnis geworden, so wie essen, trinken, schlafen, Sex. Obwohl er Sinn und Chance der Untergrundaktionen, an denen er beteiligt ist, wiederholt skeptisch, ja pessimistisch hinterfragt (was seine Genossen gar nicht zu schätzen wissen), obwohl er Erfüllung in der Liebe (zu Marianne = Ingrid Thulin oder zu Nadine = Geneviève Bujold) finden könnte, setzt er sich weiterhin der Gefahr für Leib und Leben aus, bleibt er der revolutionären Sache treu. Alain Resnais inszeniert – nach einem Drehbuch von Jorge Semprún (der wußte, wovon er schreibt) – mit reservierter Anteilnahme die Geschichte eines stoischen Weitermachens, erforscht in transparenten Bildern (Kamera: Sacha Vierny) die Widersprüche und Zusammenhänge von Politik und Psychologie, Glauben und Gewohnheit, Zweifel und Disziplin. PS: »Nicht der Krieg ist revolutionär, der Friede ist revolutionär.« (Jean Jaurès) Aber auch: »Man kann den Krieg nur durch den Krieg abschaffen.« (Mao Dzedong)

R Alain Resnais B Jorge Semprún K Sacha Vierny M Giovanni Fusco A Jacques Saulnier S Eric Pluet P Anatole Dauman D Yves Montand, Ingrid Thulin, Geneviève Bujold, Jean Dasté, Michel Piccoli | F & I | 121 min | 1:1,66 | sw | 11. Mai 1966

6.5.66

Der Mörder mit dem Seidenschal (Adrian Hoven 1966)

Als sie durch den Briefschlitz blickt, muß die neunjährige Halbwaise Claudia (Susanne Uhlen) die Er­mordung ihrer Mutter mit ansehen. Den Täter hat sie erkannt. Was dem Schurken nicht entgangen ist … Regisseur Adrian Hoven (der auch die Nebenrolle eines nicht unsympathischen Windhunds spielt) inszeniert eine doppelte, eigentlich eine doppelt-doppelte Verfolgungsjagd: Die Polizei sucht den flüchtigen Mörder und das ausgerissene Mädchen, der Mörder geht auf die Spur der kleinen Zeugin, die wiederum (beinahe zwanghaft) dem Mörder nachsetzt. Seidenschal-Killer Boris Garrett (Carl Möhner) ist ein unehrenhaft entlassener amerikanischer Besatzungssoldat, ein Schieber und gewerbsmäßiger Aufreißer, ein Relikt der verworrenen Nachkriegszeit. Auch die Stadt trägt die Erinnerung ans Gestern noch an und in sich: Bunkerruinen am Hafen und schäbige Straßen, verwohnte Zinshäuser und schwatzhafte alte Greißlerinnen. Hoven versieht seinen gelegentlich etwas zu betulich dargebotenen (Sex-and-)Crime-and-Money-Reißer mit viel Lokalkolorit: Die Hatz führt durch ein frostig-abweisendes Wien jenseits des Schmäh (Kaffeehäuser, Naschmarkt und Prater zeigen sich von ihrer grauesten Seite) und endet in der Kanalisation, so wie damals, als noch der philosophische Erzhalunke Harry Lime sein zitheruntermaltes Unwesen trieb. Indes liefert kein einheimischer Heurigenmusiker sondern der Berliner Cool-Jazzer Johannes Rediske den Soundtrack zur urbanen Pulp-Mär von Grausamkeit und Unschuld.

R Adrian Hoven B Adrian Hoven, Wolf Neumeister V Thea Tauentzien K Hans Jura, Bob Klebig M Johannes Rediske A Nino Borghi S Frederick Richards P Adrian Hoven, Pier A. Ciminneci D Carl Möhner, Susanne Uhlen, Folco Lulli, Harald Juhnke, Adrian Hoven | D & I | 82 min | 1:1,66 | sw | 6. Mai 1966

# 793 | 7. November 2013

5.5.66

Modesty Blaise (Joseph Losey, 1966)

Modesty Blaise – Die tödliche Lady

»She is the shadow on your bedroom wall, / she is the dream you never found.« Hätte Michelangelo Antonioni jemals einen James-Bond-Film inszeniert, wäre das Ergebnis vielleicht ähnlich sonderbar ausgefallen wie Joseph Loseys trivial-traumverlorene Adaption eines zeitgeistigen ›Evening Standard‹-Comics. Monica Vitti als vollblütig-zweifelhafte Weltklassesagentin Modesty Blaise, Terence Stamp als lässig-zupackender Sidekick Willie Garvin, Dirk Bogarde als arglistig-geschmäcklerischer Schurke Gabriel, Rossella Falk als gelangweilt-sadistische Schergin Mrs. Fothergill – der Cast ist quintessentiell sixties; das Design schillert vielfarbig zwischen Op und Pop; die Regie verweigert nicht nur konsequent jede dramatische Sensation in dieser läppischen Spionagestory um Diamanten, Ölscheichs und verspielte Folter, in diesem artifiziellen Abenteuer zwischen London, Amsterdam und Mittelmeer, sie unterläßt auch genüßlich das herkömmliche Erzählen: Es reiht sich einfach nur Moment an Moment, Panel an Panel. Damit ist »Modesty Blaise« in gewisser Weise wieder dort angekommen, wo ihre ästhetischen Wurzeln liegen – beim daily strip. 


R
Joseph Losey B Evan Jones V Peter O’Donnell K Jack Hildyard M John Dankworth A Richard Macdonald S Reginald Beck P Joseph Janni D Monica Vitti, Terence Stamp, Harry Andrews, Dirk Bogarde, Rosella Falk | UK | 119 min | 1:1,66 | f | 5. Mai 1966

Arabesque (Stanley Donen, 1966)

Arabeske

Drei Jahre nach »Charade« präsentiert Stanley Donen eine weitere Thrillerkomödie, sozusagen die Neuauflage des Originals mit anderen Mitteln: Gregory Peck als Audrey Hepburn, Sophia Loren als Cary Grant, London in der Rolle von Paris. »Arabesque«, comichaft-politische Intrige und romantisch-abenteuerlicher clash of civilizations (Okzident trifft Orient), ist ein noch verzwickteres, noch formverliebteres Werk als sein Vorgänger: ein bravouröses Spiel mit verschobenen Perspektiven, eine Art filmischer LSD-Rausch. Das Auge der Kamera (Christopher Challis) blickt ständig durch gläserne Tischplatten oder glitzernde Aquarien, durch reflektierende Scheiben oder in verzerrende Spiegel. Die Handlung ist, vorsichtig gesagt, labyrinthisch, und unterwegs haben die Drehbuchautoren vor lauter fröhlicher Überspanntheit ganz offensichtlich den einen oder anderen Faden verloren – aber egal: Der übersprudelnde visuelle Ideenreichtum macht aus »Arabesque« einen amüsanten Höhepunkt im Schaffen eines der großen Stilisten der Kinogeschichte.

R Stanley Donen B Peter Stone, Julian Mitchell, Stanley Price V Gordon Cotler K Christopher Challis M Henry Mancini A Reece Pemberton S Frederick Wilson P Stanley Donen D Gregory Peck, Sophia Loren, Alan Badel, Kieron Moore, Carl Duering | USA | 105 min | 1:2,35 | f | 5. Mai 1966

4.5.66

Un angelo per Satana (Camillo Mastrocinque, 1966)

Ein Engel für den Teufel 

Das ersten Einstellungen des Films zeigen einen Nachen, der über einen spiegelglatten herbstlichen See gleitet; ein Mann mit breitkrempigem Hut und dunklem Pelerinenmantel wird zu einem abgeschiedenen Dorf gerudert – die Szene evoziert Bilder von der letzten Überfahrt, von der Reise ins Jenseits, und tatsächlich fällt bald schon der Schatten des Todes auf die kleine Gemeinde am Ufer des stillen Wassers … Roberto Menigi (Anthony Steffen) kommt auf das Anwesen der Familie Montebruno, um eine nach 200 Jahren aus dem See geborgene Statue zu restaurieren; eine örtliche Legende aber sagt, daß die aus der Versenkung geholte Skulptur Kummer und Leid über die Bewohner des Ortes bringen werde. Das Standbild zeigt die schöne Maddalena de Montebruno in ihrer ganzen sinnlich-körperlichen Pracht, und es gleicht auf verblüffende Weise ihrer jungen Nachfahrin Harriet (Barbara Steele), die aus dem Pensionat nach Hause zurückkehrt, um ihr Erbe anzutreten. Ein weiteres Mal nach »La cripta e l’incubo« erzählt Camillo Mastrocinque von einer Heimsuchung durch böse Geister der Vergangenheit: Ein Schreckbild aus früher Zeit stülpt sich über ein unschuldiges Wesen, und so mutiert die züchtige Harriet zu einem männermordenden Vamp, zu einer sadistischen Hexe, deren wollüstige Arglist ein Chaos aus Mord und Selbstmord, Vergewaltigung und Brandstiftung heraufbeschwört. Wenn auch die Handlungsführung nicht immer ganz ausgegoren wirkt und sich der dämonische Spuk am Ende als Ausfluß einer ganz irdischen Schlechtigkeit erweist, tauchen doch Steeles kalte Erotik und gespenstige Motive wie lockende Rufe aus dem Schattenreich oder sprechende Gemälde die Schauemär in eine bemerkenswert hysterisch-morbide Atmosphäre.

R Camillo Mastrocinque B Giuseppe Mangione, Camillo Mastrocinque V Luigi Emmanuele K Giuseppe Aquari M Francesco De Masi A Alberto Boccianti S Gisa Radicchi Levi P Liliana Biancini D Barbara Steele, Anthony Steffen, Claudio Gora, Ursula Davis, Maureen Melrose (= Marina Berti) | I | 90 min | 1:1,85 | sw | 4. Mai 1966

# 947 | 21. März 2015

24.4.66

Joë Caligula – Du suif chez les dabes (José Bénazeraf, 1966)

Joe Caligula

Aus dem Argot-Lexikon: ›suif‹ = Probleme, Skandal, Zank; ›dabe‹ = Vater, Chef, Bordellbesitzer … Joë (Gérard Blain – »un petit mec, trapu, costaud, dingue«) kommt aus dem Süden nach Paris. Er kommt mit seiner Bande und mit seiner geliebten Schwester Brigitte (Jeanne Valérie – »une blonde, longue, au regard absent, mince«). Joë kommt, um Stunk zu machen, um die Bosse das Zittern zu lehren, um die Ordnung in Stücke zu hauen. Joë kommt, um die ehrwürdigen Größen der Unterwelt zu mißhandeln, zu erpressen, abzufackeln, um sie noch als Tote auf dem Weg zum Friedhof unter Feuer zu nehmen. »Il n’y a que la haine pour rendre les gens intelligents«, zitiert eine belesene Nutte aus Albert Camus’ Drama »Caligula«: »Nur der Haß macht die Menschen klug.« Haßt Joë? Ist er klug? »On a faim«, sagt Joë zu einem Alten, den er soeben mit dem Schlagring bearbeitet hat: Wir haben Hunger. Und ihr werdet uns bezahlen. Weil wir Hunger haben. Und weil ihr euren alten Arsch retten wollt … José Bénazeraf verarbeitet Genre-Bausteine und Milieu-Klischees zu einer absurd-brutalen Gangsterfilm-Aufstellung, zur distanziert-tragischen, zerdehnt-komischen Schilderung eines Generationenkonflikts. (Manche kommen, um aufzubauen, manche kommen, um niederzureißen.) Joë ist Held einer nihilistischen Ermächtigungsphantasie, einer somnabulen (Selbst-)Zerstörungvision, einer inzestuösen Pulp-Romanze. (Manche kommen, um zu leben, manche kommen, um zu sterben.) Bénazeraf zelebriert eine Geschichte ohne moralischen Mehrwert, jederzeit bereit, innezuhalten, Situationen durchzukosten, abzuschweifen, seinem Interesse zu folgen, ob einem Striptease oder einem Catfight, ob einem vorbeifahrenden Güterzug oder einem nächtlichen Spaziergang durch Paris. (Manche kommen, um zuzuschauen.) PS: Kurz nach der Premiere wird »Joë Caligula« verboten – wegen der »sinnlosen Anhäufung« von »scènes de violence, de torture et d’érotisme«. Drei Jahre später kommt eine gekürzte Fassung in die Kinos.

R José Bénazeraf B Gérard Trion, José Bénazeraf K Etienne Becker M diverse S Francine Grubert P José Bénazeraf D Gérard Blain, Jeanne Valérie, Ginette Leclerc, Maria Vincent, Jean-Jacques Daubin | F | 85 min | 1:1,66 | sw | 24. April 1966 (8. Januar 1969)

# 811 | 2. Dezember 2013

20.4.66

Ne nous fâchons pas (Georges Lautner, 1966)

Nimm’s leicht, nimm Dynamit

Vor fünf Jahren hat ›Tonio‹ Beretto (Lino Ventura) die Knarre an den Nagel gehängt; nun nennt er sich Antoine, betreibt einen Bootsverleih mit angeschlossener Tauchschule an der Côte d’Azur, und nur eine gewisse (schlagkräftige) Unduldsamkeit im zwischenmenschlichen Bereich erinnert noch an seine unbürgerliche Vergangenheit – die so vergangen (natürlich) nicht ist: Alte Freunde tauchen auf, bitten Antoine um einen Gefallen, überlassen ihm als Dankeschön ein paar Außenstände, deren Eintreibung unversehens einen veritablen Krieg entfesselt. Als zäher Widersacher tritt dem Exganoven (und den treuen Freunden, die er glücklicherweise hat) ein eleganter britischer ›Colonel‹ entgegen, der (auf der Jagd nach Gold) mit seinem Gefolge von kaltblütig-musikalischen Mods die französische Mittelmeerküste unsicher macht. Vom einfachen Schußwechsel mit Handfeuerwaffen steigern Regisseur Georges Lautner und Autor Michel Audiard die zunehmend rachsüchtige Auseinandersetzung über wechselseitige Sprengstoffanschläge bis hin zum Raketenangriff. In sonnendurchfluteten (wenn auch häufig von Explosionswolken vernebelten) Breitwandbildern voller comichafter Gewaltdarstellungen karikieren die Filmemacher neben den Stereotypen des Gangsterfilms insbesondere die Exzesse der pilzköpfigen Popkultur: im Vergleich zu Gitarre und Motorroller erscheinen Revolver und Dynamit als geradezu altmodische Waffen.

R Georges Lautner B Michel Audiard, Marcel Jullian, Jean Marsan, Georges Lautner K Maurice Fellous M Bernard Gérard A Jean Mandaroux S Michelle David P Alain Poiré D Lino Ventura, Jean Levebvre, Michelle Constantin, Mireille Darc, Tommy Duggan | F | 100 min | 1:2,35 | f | 20. April 1966

# 1052 | 27. Mai 2017

14.4.66

Ganovenehre (Wolfgang Staudte, 1966)

»Eine Leiche im Puff war noch nie eine gute Reklame.« Eine Gauner- und Nuttenkomödie aus dem Berlin der 1920er Jahre: Einbrecher Artisten-Orje (liebenswert-tumb: Mario Adorf), nach drei Jahren Brandenburg in die sogenannte Freiheit entlassen, findet dank seiner Freundin Nelly Unterkunft im Massagesalon »Venus von Milo« und Aufnahme in den Sparverein »Biene«, die Berufsorganisation der hauptstädtischen Zuhälter. So wird der (leicht beschränkte) Schränker nolens volens zum Luden, der sich freilich an den feinen Unterschied zwischen »hergeben« und »hingeben« ebensowenig gewöhnen kann wie an den strengen Komment seiner ehrpusseligen Standesgenossen … Vermutlich hatte Wolfgang Staudte eine parodistischen Schwank über die Doppelbödigkeit bürgerlicher Moralvorstellungen im Sinn (»Recht ist, was dem Verein nützt.«), doch seine in synthetischen Studiokulissen über die Bühne gehende Eingroschenoper (≈ Franz Biberkopf in der Pension Schöller) kommt – trotz glanzvoller Besetzung: Curt Bois als windiger »Seiden-Emil«, Gert Fröbe als klotziger »Importen-Paul«; dazu Helen Vita, Karin Baal, Ilse Pagé – kaum je über harmlos-betusame Klamottigkeit hinaus.

R Wolfgang Staudte B Curth Flatow, Hans Wilhelm V Charles Rudolph K Friedel Behn-Grund M Hans Martin Majewski A Werner Schlichting, Isabella Schlichting S Susanne Paschen P Wenzel Lüdecke D Mario Adorf, Curt Bois, Helen Vita, Karin Baal, Gert Fröbe | BRD | 94 min | 1:1,37 | f | 14. April 1966

# 1024 | 2. September 2016

10.4.66

Tokyo nagaremono (Seijun Suzuki, 1966)

Tokyo Drifter

Knallbunter japanischer Pop-Art-Traum von einem melvillesken gangster movie: Tetsu (ein ehemaliger – immer noch mit seiner kriminellen Vergangenheit verstrickter – Yakuza in strahlendem Hellblau) ist das Inbild von Ehre und Treue, und genau diese Eigenschaften sind es, die ihn in einer Welt der Ehr- und Treulosigkeit zu einem heimatlosen (aber dennoch schlag kräftigen) Drifter werden lassen … Ein Actionkrimi als üppige Stilblüte – Seijun Suzukis ironisch-pathetische Ballade der Einsamkeit schwelgt in sentimentaler Musik, artifiziellen Dekorationen und absurd-abstrakten Choreographien. Form follows form.

R Seijun Suzuki B Kohan Kawauchi K Shigeyoshi Mine M Hajime Kaburagi A Takeo Kimura S Shinya Inoue P Tetsuro Nakagawa D Tetsuya Watari, Chieko Matsubara, Hideaki Nitani, Ryuji Kita, Tsuyoshi Yoshida | JP | 89 min | 1:2,35 | f | 10. April 1966

29.3.66

Alfie (Lewis Gilbert, 1966)

Der Verführer läßt schön grüßen

»What’s it all about?« Leben und Treiben eines Londoner Schürzenjägers – von ihm selbst erzählt, respektive: dem Publikum in (fast) allen – amüsanten und charmanten, unappetitlichen und hundserbärmlichen – Einzelheiten direkt ins Gesicht gesagt. Alfie Elkins (Michael Caine), cockney vom Scheitel bis zur Sohle, ist immerhungriger Genußmensch, einfallsreicher Süßholzraspler, straßenköterhafter Leichtfuß und, auf seine Art, lupenreiner Demokrat. Denn in seinen Augen sind sie alle gleich: das nette Mädchen von nebenan und die notorisch untervögelte Ehefrau, das Landei mit dem melancholischem Blick und die bumsfidele Dame in den besten Jahren – eine wie die andere nur Gelegenheit, Objekt, Verbrauchsmaterial, Zwischenspiel. Lewis Gilberts lehrreich-schonungsloses (Selbst-)Portrait eines – zunächst gewinnenden, später bestenfalls mitleiderregenden – Chauvinisten, der auch nach der kaltschnäuzigsten Niedertracht lediglich um sich selber weint, bestrickt bei aller Trostlosigkeit durch Caines authentisch-distanziertes Spiel und den intensiv-unterkühlten Jazz-Score von Sonny Rollins. PS: »My understanding of women only goes as far as the pleasure. When it comes to the pain I’m like any other bloke: I don’t want to know.«

R Lewis Gilbert B Bill Naughton V Bill Naughton K Otto Heller M Sonny Rollins A Peter Mullins S Thelma Connell P Lewis Gilbert D Michael Caine, Julia Foster, Shelley Winters, Jane Asher, Vivien Merchant, Denholm Elliott | UK | 114 min | 1:2,35 | f | 29. März 1966

# 1163 | 2. Juli 2019

17.3.66

Es (Ulrich Schamoni, 1966)

Es: das Kind, das sie (Sabine Sinjen) nicht will, weil sie glaubt, daß er (Bruno Dietrich) es nicht will. Es: das ungestüme Bauwesen, das auch das noch zerstört, was der Bombenkrieg verschonte. Es: das Westberlin kurz nach dem Mauerbau – Stadt der Brachflächen und Brandmauern, der Schnellstraßen und Friedhöfe, der Witwen und Abschreibungsritter, der modischen jungen Paare und der alten Tanten aus dem Osten. Ulrich Schamonis dynamisches Debüt offeriert weniger tieflotende Analyse denn feuilletonistische Momentaufnahmen, weniger Soziologie einer abgewrackten Metropole denn Kaleidoskop eines weltläufigen Provinzkaffs; als intuitiv-impulsiver Sammler von Augenblicken und Tonfällen, als rasender Reporter der privaten, beruflichen, gesellschaftlichen Beziehungen stellt der Autor die Lockerheit des Entwurfs über die Präzision der Ausführung. So entsteht, stickpunktartig, notizenhaft, elliptisch, das anschauliche Stimmungsbild eines Ortes zwischen Aufbruch und Erstarrung, einer Ära zwischen Ungezwungenheit und Sprachlosigkeit. »Es«: eine Zeitkapsel.

R Ulrich Schamoni B Ulrich Schamoni K Gérard Vandenberg M Hans Posegga S Heidi Genée P Horst Manfred Adloff D Sabine Sinjen, Bruno Dietrich, Horst Manfred Adloff, Bernhard Minetti, Tilla Durieux | BRD | 86 min | 1:1,37 | sw | 17. März 1966

12.3.66

Erogotoshi-tachi yori: Jinruigaku nyumon (Shohei Imamura, 1966)

Einführung in die Menschenkunde

Der nette Herr Ogata verdient sein Geld mit der Herstellung von Sexfilmen, mit Zuhälterei (Spezialität: Jungfrauen – irgendwann waren sie es jedenfalls mal) und mit der Organisation von Swinger-Partys. Leicht ist das Leben des Erotikgeschäftsmannes nicht: Polizei und Yakuza setzen ihm ebenso zu wie seine in den Wahnsinn driftende Lebensgefährtin, deren unbotmäßige Kinder sowie ihr verstorbener Gatte, der – als stumm-beredter Zierkarpfen wiedergeboren – die Patchworkfamilie komplettiert. Kein Wunder also, daß Ogata impotent wird – und sich Heilung (nicht nur) seines Leidens von der Konstruktion einer (Sex-)Puppe verspricht: Maschinen sind wenigstens ehrlich ... Shohei Imamuras wundersame Sozialsatire verhandelt – ohne visuell explizit zu werden – Themen wie Pornographie, Prostitution und Promiskuität als Ausdruck der (geschlechtlichen) Frustration einer (hab-)gierigen, zutiefst gestörten (Konsum-)Gesellschaft, in der menschliche Beziehungen nur noch als Austausch von Ware begriffen werden. Eine burleske Einführung in die Anthropologie der Moderne.

R Shohei Imamura B Shohei Imamura, Koji Numata V Akiyuki Nosaka K Shinsaku Himeda M Toshiro Kusunoki, Toshiro Mayuzumi A Hiromi Shiozawi S Matsuo Tanji P Jiro Tomoda D Shoichi Ozawa, Sumiko Sakamoto, Masaomi Kondo, Keiko Sagawa, Ganjiro Nakamura | JP | 128 min | 1:2,35 | sw | 12. März 1966