26.8.66

La voleuse (Jean Chapot, 1966)

Schornstein Nr. 4

1966. Was macht eigentlich Romy Schneider? Sie ist längst nicht mehr Sissi, und die skandalträchtige Liaison mit Alain Delon liegt ebenfalls hinter ihr. Sie ist auch noch nicht der große französische Star in Meisterwerken von Sautet, Chabrol, Zulawski. Mitte der 60er Jahre lebt Romy Schneider in Berlin. Eigentlich will sie Theater spielen. Stattdessen dreht sie einen Film: die französisch-deutsche Koproduktion »La voleuse«. Schneider ist Julia Kreuz, eine junge Berlinerin, die ihrem Gatten Werner, einem leitenden Angestellten (Michel Piccoli), eines Tages mitteilt, daß sie aus der Zeit vor ihrer Ehe einen siebenjährigen Sohn habe, ein Kind, das nach der Geburt zu Pflegeeltern im Ruhrgebiet gegeben wurde. Jetzt fordert sie den Jungen zurück. Der polnischstämmige Stahlarbeiter Kostrowicz (Hans-Christian Blech) wehrt sich nach Kräften gegen das Ansinnen der leiblichen Mutter. Als ihm der Kleine weggenommen wird, droht er, sich vom höchsten Schornstein seines Werkes in den Tod zu stürzen … Ein Film zwischen allen Stühlen: zwischen den Sprachen, zwischen den Klassen, zwischen den Zeiten, zwischen Großstadt und Industrierevier, zwischen Gefühlsexplosion und Abstraktion, zwischen formierter Gesellschaft und maßlosem Individualismus. Die hochbewußt komponierten schwarzweißen Franscope-Bilder (Kamera: Jean Penzer), die literarischen Wortwechsel (Dialoge: Marguerite Duras), die Auflösung der Erzählung in Szenenbruchstücke (Regie: Jean Chapot) enträtseln – bewußt, wie zu vermuten ist: – nicht den Impuls, der die weibliche Hauptfigur treibt: Ist ihre Obsession Spätfolge eines nichtgelebten Lebens? Oder pathologisches Alleshabenwollen? Oder Leiden an den Verhältnissen? Oder ein Überschuß an Liebe? Julia Kreuz bleibt unerklärlich. Vielleicht spielt Schneider vor den weißen Wänden des Neubau-Apartments ein wenig zu offensichtlich gegen ihr vormaliges Herziges-Mädel-Image an, vielleicht duftet die Beschwörung von Leere und Desorientierung, von Entfremdung und Fragmentierung ein bißchen zu sehr nach ›Antonioni Nº 5‹ oder ›Miss Resnais‹ – dabei aber entwirft »La voleuse« sowohl ein außergewöhnliches Frauenportrait als auch eine bemerkenswerte Darstellung der Bundesrepublik zwischen wirtschaftswunderlicher Restauration und kulturrevolutionärem Umbruch.

R Jean Chapot B Marguerite Duras, Jean Chapot K Jean Penzer M Antoine Duhamel A Willy Schatz S Ginette Boudet P Claude Jaeger, Hans Oppenheimer D Romy Schneider, Michel Piccoli, Hans-Christian Blech, Sonia Schwarz, Mario Huth | F & BRD | 88 min | 1:2,35 | sw | 26. August 1966

24.8.66

Fantastic Voyage (Richard Fleischer, 1966)

Die phantastische Reise

Kaum ist der Weltraum mittels Raketentechnik in greifbare Nähe gerückt, wendet sich das Kino nach Innen: Der menschliche Körper wird zum Universum, dessen unendliche Weiten gefahrvolle Abenteuer bereithalten. Dank der Möglichkeit, jedes beliebige Objekt (wenn auch nur für eine Zeitspanne von 60 Minuten) auf Mikrobengröße zu miniaturisieren, kann ein U-Boot mit fünfköpfiger Besatzung ins Gehirn eines eminent wichtigen Gelehrten entsandt werden, um dort ein von außen nicht operables Blutgerinsel zu entfernen. Richard Fleischer überspielt die spinnerte Prämisse der Story durch eine betont sachlich inszenierte, auf jede Musikuntermalung verzichtende erste halbe Stunde, die gleichsam die realistische Rampe für die folgende sagenhafte Fahrt durch Blutbahnen und Lungenbläschen, Gehörgänge und Sehnerven bildet. Auf der Reise offeriert Fleischer reichlich Lavalampen-Psychedelik (die Ausstattung besorgte Jack Martin Smith, der unter anderem Minnellis bunt-nostalgisches St. Louis und Cleopatras überkandideltes Ägypten entwarf) sowie manchen pseudophilosophischen Gemeinplatz (»We stand in the middle of infinity between outer and inner space, and there’s no limit to either.«), doch die wirkungsvoll mit Thriller- und Actionelementen angereicherte, in Echtzeit erzählte Wissenschaftsphantasmagorie bietet auch unvergeßliche Momente: Raquel Welch von Antikörpern gewürgt, Arthur Kennedy im Laserkampf gegen einen Thrombus, Donald Pleasence von Leukozyten attackiert, zu guter Letzt Menschen im Tränenbad – »things no one has ever seen before«.

R Richard Fleischer B Harry Kleiner, David Duncan K Ernest Laszlo M Leonard Rosenman A Jack Martin Smith, Dale Hennesy S William B. Murphy P Saul David D Stephen Boyd, Donald Pleasence, Arthur Kennedy, Raquel Welch, Edmond O’Brien | USA | 100 min | 1:2,35 | f | 24. August 1966

# 1080 | 12. Oktober 2017

22.8.66

Lange Beine – lange Finger (Alfred Vohrer, 1966)

»Heller Kopf und edle Rasse – / ja, dann stimmt es mit der Kasse.« Die junge, hübsche Baronesse Holberg steht in einer dreihundertjährigen Familientradition des Schmuck- und Taschendiebstahls; von ihrer Großmutter erbte sie das Anderthalb-Finger-System, das sie virtuos zur Perfektion brachte. Der stolze Vater (Martin Held) muß zu seinem Entsetzen erleben, daß sich die kriminell hochtalentierte Tochter (Senta Berger) ausgerechnet in einen Anwalt aus angesehener englischer Unternehmerfamilie (Joachim Fuchsberger) verliebt und beschließt, bürgerlich zu werden. Welche Schande! … Zwischen seine zahllosen Edgar-Wallace-Variationen schiebt Alfred Vohrer eine kreuzbrave, wenig trickreiche Liebes- und Diebeskomödie, die nicht ungeschickt internationales Flair, anrüchiges Laissez-faire und satirischen Aufmupf vortäuscht. Doch auch ein ausgelassenes Ensemble, ein courrègeskes Kostümbild und die Erkenntnis, daß die Ehrlichen den Unehrlichen längst überlegen sind, weil sie gelernt haben, auf ehrliche Weise unehrlich zu sein, verwandeln die biedersinnigen Gewagtheiten einer ungelüfteten Boulevardbühne nicht in zubeißende Gesellschaftspersiflage.

R Alfred Vohrer B Peter Lambda, Eberhard Keindorff, Johanna Sibelius K Karl Löb M Martin Böttcher A Isabella Schlichting, Werner Schlichting S Jutta Hering P Artur Brauner D Senta Berger, Martin Held, Joachim Fuchsberger, James Robertson Justice, Irene von Meyendorff | BRD | 90 min | 1:1,66 | f | 26. August 1966

12.8.66

Hokuspokus oder Wie lasse ich meinen Mann verschwinden? (Kurt Hoffmann, 1966)

Noch einmal inszeniert Kurt Hoffmann die Justizkomödie »Hokuspokus« von Curt Goetz, wobei er sich weniger geschmackssicher zeigt als bei seiner ersten Adaption 13 Jahre zuvor: Ein überflüssiger Prolog breitet Nebenumstände der zu verhandelnden Tat aus (wenn es denn überhaupt eine »Tat« gibt) und verzögert den Einstieg in die eigentliche Handlung; weder der gutbürgerlich-onkelhafte Heinz Rühmann noch die affektiert-neckische Liselotte Pulver treffen den weltläufigen Goetz-Ton. Hohen visuellen Reiz entfaltet indes das von Otto Pischinger entworfene Bühnenbild, das für Außen- und Innenszenen des Stücks eine gleichermaßen modernistisch-artifizielle Kulissenwelt schafft und das Lustspiel um hypothetische Tatsachen und tatsächliche Hypothesen stellenweise in eine schicke Rechtsgroteske verwandelt. Helmut Käutners verspielte Scribe-Verfilmung »Das Glas Wasser« (1960) oder die antiillusionistischen Ausstattungen zeitgenössischer Fernsehspiele mögen hier Pate gestanden haben.

R Kurt Hoffmann B Eberhard Keindorff, Johanna Sibelius V Curt Goetz K Richard Angst M Franz Grothe A Otto Pischinger S Dagmar Hirtz P Hans Domnick, Heinz Angermeyer D Heinz Rühmann, Liselotte Pulver, Fritz Tillmann, Richard Münch, Stefan Wigger | BRD | 100 min | 1:1,66 | f | 12. August 1966

# 816 | 19. Dezember 2013