Außer Atem
Es ist nicht nur die lässige Verachtung der Konvention, die spielerische Befreiung des Kinos von den filmischen Sprachregelungen, die »À bout de souffle« auszeichnet (und so wundersam frisch halten wird), es ist vor allem die ganz beiläufige Befreiung des Kinos von, nein, nicht von der Literatur, sondern vom: Literarischen, die Befreiung vom Diktat der konstruierten Authentizität, der fein gesponnenen Handlungsfäden, der psychologisch stimmigen Charaktere. Nach den Regeln der klassischen Erzählkunst stimmt hier nichts – Michel (Belmondo) und Patricia (Seberg) verhalten sich weder wie Menschen noch wie Kinofiguren, sie verhalten sich wie Menschen, die sich verhalten wir Kinofiguren (oder umgekehrt). Das Paris, durch das sie laufen, in dem sie miteinander aneinander vorbeireden, in dem sie sich lieben (oder was sie dafür halten), ist trotz Handkamera und natürlichen Lichts kulissenhafter als jeder Studiobau. Die Geschichte der beiden: aus Kinoversatzstücken generiert. Ihr Verhalten, ihre Gesten, ihre Gefühle: Abzüge von Negativen, die das Kino geliefert hat. Mit Godards Debütfilm wird das Erleben im Kino zur zweiten Wirklichkeit, zur ganz unmittelbaren Erfahrung, die sich im Leben (und in den Filmen!) der Kinogänger genauso niederschlägt wie die sogenannten realen Ereignisse in der sogenannten wirklichen Welt. Und neben der ganzen Theorie (die ja sowieso nicht mehr interessiert, wenn die Leinwand ins Dunkel strahlt) ist da Michels nonchalantes Dem-Tod-Entgegensegeln, dieser post-pubertäre après-guerre-Fatalismus, der so gar nicht zum revolutionären Gestus der Form passen will: »C’est normal. Les dénonciateurs dénoncent. Les assassins assassinent. Les amoureux s’aiment.« Und Patricia, die so viel redet und nicht weiß was das ist: »dégeulasse«. Und der unsterbliche Satz aus dem Mund von Jean-Pierre Melville alias Parvulesco, der auf die Frage nach seinem Lebensziel antwortet: »Devenir immortel et puis mourir.« Ein zum Kotzen schöner Film.
R Jean-Luc Godard
B Jean-Luc Godard
K Raoul Coutard
M Martial Solal
S Cécile Decugis, Lila Herman
P Georges de Beauregard
D Jean-Paul Belmondo, Jean Seberg, Daniel Boulanger, Jean-Pierre Melville, Henri-Jacques Huet |
F | 90 min | 1:1,37 | sw | 16. März 1960