29.2.72

Die Angst des Tormanns beim Elfmeter (Wim Wenders, 1972)

»Es ist sehr schwierig, von den Stürmern und vom Ball wegzuschauen und dem Tormann zuzuschauen.« Bei einem Auswärtsspiel in Wien gerät der Tormann Bloch (Arthur Brauss) mit dem Schiedsrichter aneinander und wird vom Spielfeld geschickt. Wim Wenders läßt darauf Szenen folgen, die sich kaum zu einer konsistenten Handlung fügen: Begebenheiten, Momente, Beobachtungen, durch Schwarzblenden mehr getrennt als verbunden, Fragmente eines »Thrillers ohne Spannung«. Bloch streift durch die Stadt, mietet sich in einem schäbigen Hotel ein, geht ins Kino (»Rote Linie 7000«), bändelt mit der Kassiererin (Erika Pluhar) an, die ihn mitnimmt in ihre Wohnung am Flughafen und die er am nächsten Morgen erwürgt, nach dem gemeinsamen Frühstück, einfach so, ohne erkennbares Motiv, woraufhin er oberflächlich seine Spuren verwischt und weiterzieht, zu einer Bekannten von früher (Kai Fischer), die einen Gasthof in einem Dorf an der Grenze bewirtschaftet, wo er die Zeit totschlägt, Unruhe verbreitet, ins Kino geht (»Nur 72 Stunden«), die Zeitungsnachrichten über die Suche nach einem verschwundenen stummen Schüler und die Fahndung nach dem Mörder der Kassiererin verfolgt, ein Fußballspiel besucht, den Tormann beobachtet, der einen Elfmeter hält. Ebensosehr wie für die vereinzelten Menschen, die in Robby Müllers kühlen Bildern aneinander vorbeireden, vorbeisehen, vorbeihören, interessiert sich Wim Wenders für die Objekte, die das entfremdete Leben möblieren, den Fotoautomat, das Transistorradio, die Telefonzelle, den Fernsehapparat und, nicht zu vergessen, immer wieder: die Musikboxen. »Drücken Sie Q4.«

R Wim Wenders B Wim Wenders, Peter Handke V Peter Handke K Robby Müller M Jürgen Knieper A Rudolf Schneider-Manns Au, Burghard Schlicht S Peter Prygodda P Peter Genée D Arthur Brauss, Kai Fischer, Erika Pluhar, Libgart Schwarz, Marie Bardischewski | BRD & A | 100 min | 1:1,37 | f | 29. Februar 1972

# 1036 | 28. November 2016

24.2.72

Sette orchidee macchiate di rosso (Umberto Lenzi, 1972)

Das Rätsel des silbernen Halbmonds

In Rom geht ein rätselhafter Frauenkiller um (sein klassisches Outfit: schwarzer Hut, schwarzer Mantel, schwarze Handschuhe). Er tötet eine Nutte in freier Natur, eine Malerin in ihrem Atelier, dann versucht er Giulia (Uschi Glas), die frischvermählte Ehefrau des Modemachers Mario (Antonio Sabàto) in einem Eisenbahnabteil zu schlitzen. Signatur des Täters: ein halbmondförmiges Amulett, zurückgelassen am jeweiligen Ort des Verbrechens. Auch nach dem mißglückten Anschlag auf die junge Gattin, deren Mann fortan auf eigene Faust ermittelt, geht das Metzeln weiter … Eine komplizierte Recherche fördert die noch komplizierteren Hintergründe eines Rachefeldzugs zu Tage, in die unter anderem sieben Frauen, ein schwuler Partyhengst, ein toter Amerikaner und ein protestantischer Priester verwickelt sind. Umberto Lenzi kümmert sich erst gar nicht um plausible Gestaltung der Handlungsabläufe, er konzentriert sich – begünstigt von schönen Mordopfern (Rosella Falk, Marisa Mell, Petra Schürmann) und einem cool perlenden Score (Riz Ortolani) – ganz auf stimmungsvolle Verwirrung und bohrende Schau(er)effekte. PS: Mit Edgar Wallace hat dieser gediegene Giallo, außer der in der (gekürzten) deutschen Version untergejubelten »Hallo, hier spricht …«-Kennung, rein gar nichts zu tun.

R Umberto Lenzi B Umberto Lenzi, Roberto Gianviti, Paul Hengge K Angelo Lotti M Riz Ortolani A Giacomo Calò Carducci S Eugenio Alabiso, Clarissa Ambach P Lamberto Palmieri, Horst Wendlandt D Uschi Glas, Antonio Sabàto, Pier Paolo Capponi, Marisa Mell, Rosell Falk | I & BRD | 92 min | 1:2,35 | f | 24. Februar 1972

# 801 | 18. November 2013

13.2.72

Cabaret (Bob Fosse, 1972)

Cabaret

»I am a camera with its shuter open, quite passive, recording, not thinking«, heißt es am Anfang von Christopher Isherwoods Roman »Goodbye to Berlin«, auf dem »Cabaret« sehr frei basiert (man könnte auch sagen: aus dem es sich bedient). Genau wie das Buch bleibt der Film betont zurückhaltend in der Bewertung des Aufgezeichneten, auch wenn Regisseur Bob Fosse mitunter eine leicht verzerrende Linse vor seine Optik schraubt. Der Ort des Geschehens: Berlin, kurz vor dem Machtantritt der Nazis. Das Personal: ein Querschnitt durch die damalige Spaßgesellschaft, die puppenlustig ins Verderben schwoft. »Cabaret« nimmt die abgedroschene Formulierung vom »Tanz auf dem Vulkan« konsequent wörtlich und erzählt die Höllenfahrt in die historische Katastrophe als mitreißendes Musical (das zudem einiges über die nostalgische Gefühlswelt der 1970er Jahre verrät). Vor allem die durchweg herausragenden Darsteller und die exzellenten Choreographien machen den Film zum Klassiker (nicht nur) seines Genres. Neben Liza Minnellis und Joel Greys fulminanten Kit-Kat-Club-Auftritten brennt sich besonders jene Szene ins Gedächtnis, in der (fast) alle Besucher eines Biergartens nach und nach in den sentimentalen, national-erweckten Gesang eines Hitlerjungen einstimmen: »Tomorrow belongs to me!« – tja, wie man’s nimmt... Ganz ohne jede Gefühlsduselei, fast wie nebenbei, beobachtet »Cabaret« auch noch zwei sehr schöne, sehr wehmütige Liebes geschichten.

R Bob Fosse B Jay Presson Allen V Christopher Isherwood, John Van Druten K Geoffrey Unsworth M John Kander A Rolf Zehetbauer S David Bretherton P Cy Feuer D Liza Minnelli, Michael York, Joel Grey, Helmut Griem, Marisa Berenson, Fritz Wepper | USA | 124 min | 1:1,85 | f | 13. Februar 1972

10.2.72

Händler der vier Jahreszeiten (Rainer Werner Fassbinder, 1972)

»Alles, was man will, das kann man nicht haben.« Hans Epp (Hans Hirschmüller), der von seiner Umgebung (von Mutter, Geschwistern, Ehefrau) in Rollen gedrängt wird, die ihm nicht wesensgemäß sind, sieht sich außer Stande, Pressionen und Zwängen etwas anderes entgegenzusetzen als seinen Tod … Mechaniker möchte Hans werden, aber die Mutter akzeptiert für ihren Sohn keinen schmutzigen Beruf; nach dem Gymnasium geht er aus verzweifeltem Protest zur Fremdenlegion, später zur Polizei, wird nach unehrenhafter Entlassung aus dem Staatsdienst schließlich ambulanter Obsthändler (en français: ›marchand des quatre-saisons‹), weswegen ihn seine »große Liebe« (Ingrid Caven) als Gatten verschmäht, und heiratet eine mißfällige Frau (Irm Hermann) … Die traurige Geschichte eines Überflüssigen, das tödliche Melodram einer unerwiderten Zuneigung zum Leben. Hans, der Sensible, der so viel Warmherzigkeit in seine Stimme zu legen weiß, wenn er auf den Höfen Birnen feilbietet, wird zum Säufer, zum Schläger, zum Herzkranken, zum Schwermütigen, der nicht mehr will, weil seine anpasserisch-kleinbürgerliche Welt ihn verachtet für eben das, was er sich von ihr hat überstülpen lassen. Rainer Werner Fassbinder wartet auf mit trister Alltagsprosa aus poetisch überhöhten Wirtschaftswunderzeiten, mit einfachen, klaren Bilder (Kamera: Dietrich Lohmann) von deprimierend prekären (Familien-)Verhältnissen, mit überreicher arte povera, die auch den Überlebenden des Dramas wenig Hoffnung macht: »Deine Sehnsucht kann keiner stillen, / Wenn die Träume sich auch erfüllen.«

R Rainer Werner Fassbinder B Rainer Werner Fassbinder K Dietrich Lohmann A Kurt Raab S Thea Eymèsz P Rainer Werner Fassbinder D Hans Hirschmüller, Irm Hermann, Klaus Löwitsch, Ingrid Caven, Hanna Schygulla | BRD | 88 min | 1:1,37 | f | 10. Februar 1972

# 896 | 14. Juli 2014

Der Mann, der nach der Oma kam (Roland Oehme, 1972)

Die Piesolds – er (Rolf Herricht): Fernsehkomiker; sie (Marita Böhme): Schauspielerin – sind in ernsten Schwierigkeiten: Omi, die bislang den Künstlerhaushalt ihrer Kinder schmiß, heiratet erneut und kann sich fortan weder um Putzen/Waschen/Kochen/Bügeln noch um das Wohl der drei Enkel kümmern. Ersatz muß her und wird per Annonce gefunden: Erwin Graffunda, ein anstelliger (und ziemlich gutaussehender) junger Mann (Wilfried Glatzeder), tritt als Mädchen für alles in den Dienst der ansprüchlichen Bohemiens … Unter dem fadenscheinigen Vorwand, Geschlechterrollenmuster in der entwickelten sozialistischen Gesellschaft ironisch-kritisch zu überprüfen, läßt Roland Oehme eine launige (und recht dialogwitzige) Familenklamotte abrollen, in der Mixer explodieren und Waschmaschinen überschäumen, in der ungehemmt gestolpert und mißverstanden, mit den Augen gerollt und mit den Händen gefuchtelt wird, wobei einige spöttische Seitenblicke auf kleinbürgerliche Verhaltsformen wie Klatschsucht und Eigennutz geworfen werden. Manfred Krug singt (im Off) die aufklärerisch-lehrhaften Begleitschlager zur soziologischen Recherche: »Denn Männer sind tüchtig, / es fragt sich nur, wo.«

R Roland Oehme B Mauriycy Janowski, Lothar Kusche V Renate Holland-Moritz K Wolfgang Braumann M Gert Natschinski A Hans Poppe S Hildegard Conrad P Siegfried Kabitzke D Wilfried Glatzeder, Rolf Herricht, Marita Böhme, Ilse Voigt, Herbert Köfer | DDR | 93 min | 1:1,66 | f | 10. Februar 1972