26.6.69

Liebe ist kälter als der Tod (Rainer Werner Fassbinder, 1969)

»An MPs habe ich nur eine sehr schöne Attrappe da.« Melancholisch-gefrorene Gangsterposen im Frontalstil vor weißen Wänden: Franz (Rainer Werner Fassbinder), mürrischer Kleinkrimineller auf eigene Rechnung und Zuhälter der ergebenen Nutte Joanna (Hanna Schygulla), will nicht fürs Syndikat arbeiten, woraufhin ihm der engelhafte agent provocateur Bruno (mit Trenchcoat und Hut à la Jef Costello: Ulli Lommel) geschickt wird, der ihn eiskalt in Mord und Totschlag verwickelt … Fassbinder zitiert in seinem Regie-Debüt Godard und Melville (die ihrerseits Lang und Tuttle zitierten) arrangiert sich und seine Außenseiterbande zu lebenden Bildern, zu (laien-)bühnenhaften Arrangements, die an Aushangfotos von Remakes von Remakes gemahnen. Irgendwie und sowieso geht es in diesem somnambulen Rollenspiel natürlich auch um Liebe (die nur im gemeinsamen Töten Erfüllung finden kann) und um Verrat (der die kalte Konsequenz der Liebe ist) – radikal-maniriertes Autorenkino als plagiatorische Originalschöpfung, wie sie einem misanthropisch-ichbewußten Filmfreak wohl nur nach der double feature-Spätvorstellung einfallen kann. PS: »Woran denken Sie? Sex?« – »An die Revolution.« – »Schön.« – »Finden Sie?«

R Rainer Werner Fassbinder B Rainer Werner Fassbinder K Dietrich Lohmann M Peer Raben A Ulli Lommel, Rainer Werner Fassbinder S Franz Walsch (= Rainer Werner Fassbinder) P Peer Raben D Ulli Lommel, Hanna Schygulla, Rainer Werner Fassbinder, Hans Hirschmüller, Katrin Schaake | BRD | 88 min | 1:1,66 | sw | 26. Juni 1969

25.6.69

The Bed Sitting Room (Richard Lester, 1969)

Danach

Lord Fortnum fühlt sich unwohl, verliert gelegentlich einen Backstein und verwandelt sich in ein Wohnschlafzimmer (leider nicht in guter Gegend). ›Mother‹ erhält ihre Sterbeurkunde ausgehändigt, zieht eine Schublade aus ihrer Brust und metamorphosiert zu einem dreitürigen Kleiderschrank. ›Father‹, der aufgrund gewisser körperlicher Vorzüge politische Ambitionen verspürt, wird zum (wohlschmeckenden) Papagei. Töchterchen Penelope bringt nach anderthalbjähriger Schwangerschaft ein Ding zur Welt, das bis zu seinem frühen Tod in einer Reisetasche umhergetragen wird … Wir schreiben das Jahr 3 (oder 4) nach dem Dritten Weltkrieg, der genau 2 Minuten und 28 Sekunden dauerte. London ist nur mehr eine wüstenhafte Müllkippe, durchzogen von Halden zerbrochenen Porzellans, rostigen Autoschlangen und schwärenden Tümpeln. Die etwa 20 Überlebenden der »nuklearen Meinungsverschiedenheit« hatten alle Hände voll zu tun, die 40 Millionen Toten zu verscharren, jetzt geben sie, mit robuster Ignoranz und unerschütterlicher Würde in allen Lebens(?)lagen, ihr Bestes, die Maschinerie der guten alten Britannia am Laufen zu halten: als Elektrizitätswerk, als BBC oder als Gesundheitssystem. »Keep moving!« ist das Motto der Stunde – bloß kein festes Ziel bieten, falls es zu einem weiteren Angriff auf die stolze Nation und ihre ehernen Werte kommt. Richard Lester läßt seine brillant-zerklüftete postapokalyptische Gesellschaftskomödie mit einem dreifachen happy ending ausklingen: Blumen blühen, ein Baby wird geboren, Großbritannien ist wieder Atommacht.

R Richard Lester B John Antrobus, Charles Wood V Spike Milligan, John Antrobus K David Watkin M Ken Thorne A Assheton Gorton S John Victor-Smith P Oscar Lewenstein, Richard Lester D Rita Tushingham, Michael Hordern, Mona Washbourne, Ralph Richardson, Dudley Moore, Marty Feldman | UK | 90 min | 1:1,66 | f | 25. Juni 1969

# 824 | 9. Januar 2014

18.6.69

La sirène du Mississipi (François Truffaut, 1969)

Das Geheimnis der falschen Braut

»Est-ce que l'amour fait mal?« – »Oui, l’amour fait mal.« Louis Mahé (Jean-Paul Belmondo), alleinstehender Zigarettenproduzent auf der Île de la Réunion im Indischen Ozean, trägt sich mit der Absicht, Julie Roussel zu heiraten, die er per Heiratsanzeige kennen- und brieflich schätzen gelernt hat. Die Frau, die mit dem Liniendampfer eintrifft, ist eine andere als diejenige auf dem Foto, das Louis in den Händen hält, aber da sie dem Bräutigam eine charmante Erklärung geben kann, und weil sie so aussieht wie Catherine Deneuve, wird planmäßig Hochzeit gefeiert … Ein Verbrechen, das steht bald fest, hat auf der ›Mississipi‹ stattgefunden, und als die so schöne wie falsche Braut Marion Bergamo mit dem Vermögen ihres Gatten auf und davon gegangen ist, beginnt die Suche nach einer gewerbsmäßigen Schwindlerin. Doch mit der Enttäuschung, mit dem Betrug kommen, so verschlungen ist der Pfad der Gefühle, auch die wahre Liebe, die große Leidenschaft. François Truffaut vereint Louis und Marion in Hingabe und Schuld, in Euphorie und Haß, in Freude und Schmerz: »C'est une joie et une souffrance.« Ihre Liebe, überbreit wie die Franscope-Bilder, in denen sie geschildert wird, geht über Sinn und Verstand, über Geld und auch über Leichen. Ihre gemeinsame Reise, die zur Flucht wird, führt aus der Hitze der Tropen an die Côte d’Azur, über Aix-en-Provence nach Lyon, bis in die winterlichen Alpen. Durch tiefen, reinweißen Schnee stapfen Marion und Louis in Richtung Grenze. Sie wissen nicht, wohin ihr Weg sie führt. Aber sie gehen ihn zu zweit. »Je vous aime.« – »Je te crois.«

R François Truffaut B François Truffaut V William Irish (= Cornell Woolrich) K Denys Clerval M Antoine Duhamel A Claude Pignot S Agnès Guillemot P François Truffaut D Jean-Paul Belmondo, Catherine Deneuve, Michel Bouquet, Marcel Berbert, Nelly Borgeaud | F & I | 123 min | 1:2,35 | f | 18. Juni 1969

# 959 | 6. Juli 2015

12.6.69

Nebelnacht (Helmut Nitzschke, 1969)

Ein toter Motorradfahrer wird am Straßenrand gefunden; der Lenker eines weißen Wartburg gerät in Verdacht, den nächtlichen Unfall mutwillig verursacht zu haben. Oberleutnant Kreutzer und Unterleutnant Arnold von der volkseigenen Kriminalpolizei haben einige Mühe, die Beziehungsgespinste der außerordentlich schablonenhaft gezeichneten Beteiligten (Ärzte, Binnenschiffer, Autoschlosser, Museumskustoden) zu entwirren und den Täter zu stellen. Helmut Nitzschke setzt die ebenso langwierige wie ermüdende Ermittlungsarbeit der pflichtbewußten Beamten in spießbürgerlicher Provinzgesellschaft und kleinkriminellem Milieu auf bestenfalls hölzernem Fernsehfunkniveau in Szene.

R Helmut Nitzschke B Heiner Rank, Helmut Nitzschke V Heiner Rank K Wolfgang Pietsch M Hans-Dieter Hosalla A Harry Leupold S Brigitte Krex P Bernd Gerwien D Peter Borgelt, Hanjo Hasse, Hans-Peter Minetti, Inge Keller, Rolf Hoppe | DDR | 85 min | 1:1,66 | sw | 12. Juni 1969

# 1012 | 2. August 2016