1.12.70

The Music Lovers (Ken Russell, 1970)

Tschaikowski – Genie und Wahnsinn

Ein »Film Pathétique« über Leben, Zeiten und Wirken des russischen Komponisten Pjotr Iljitsch Tschaikowski. Ken Russell – dem gesicherte historische Tatsachen und guter Geschmack nicht viel, höchstpersönliche Ausdeutungen und schamlose Impertinenz dagegen alles bedeuten – startet fulminant: ein Festtag im Schnee, ein Morgen im Bett, die Uraufführung eines Klavierkonzertes. In 20 atemlosen Minuten werden Dynamik und Widersprüche, Gefährdung und Möglichkeiten, Angst und Leidenschaften des (von Richard Chamberlain gespielten) Protagonisten in Form einer komplexen dramatischen Konstellation etabliert: ein schwuler Mann zwischen drei (eigentlich vier) Frauen (Schwester, Gattin, Gönnerin – und toter Mutter), ein Künstler zwischen Talent, Libido und gesellschaftlichem Komment. In den folgenden anderthalb Stunden von »The Music Lovers«, einem Werk, das auch den Titel »Sex, Lies, and Symphony« tragen könnte, wird das Tempo kaum je gedrosselt: visueller Exzess, erzählerischer Hochdruck, romantischer Volldampf bis zum (heißen) Tod des innerlich zum Zerreißen gespannten Tonschöpfers. Das gesprochene Wort aufs Wesentliche reduzierend, legt Russell alles in die üppigen Bilder (Douglas Slocombe) und in die expressive Musik: Tschaikowskis Kompositionen werden zur Folie für Erinnerungen und Visionen, für Angstträume und Glücksfiktionen. In diesem inszenatorischen Überschwang entsteht selbstredend kein wirklichkeitsgetreues Lebensbild. Soll es wohl auch nicht: Die aus effektvoller Kolportage und drastischer Alltagspsychologie gespeiste biographische Phantasie zielt nicht auf faktische, sondern auf emotionale Wahrheit – vielleicht die des filmisch Portraitierten, vielleicht die des Regisseurs.

R Ken Russell B Melvyn Bragg V Catherine Drinker Bowen, Barbara von Meck K Douglas Slocombe M Pjotr Iljitsch Tschaikowski A Natashe Kroll S Michael Bradsell P Ken Russell D Richard Chamberlain, Glenda Jackson, Izabella Telezynska, Christopher Gable, Kenneth Colley | UK | 123 min | 1:2,35 | f | 1. Dezember 1970

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