12.2.76

Cadaveri eccellenti (Francesco Rosi, 1976)

Die Macht und ihr Preis

»Die Wahrheit zu sagen ist revolutionär.« (Antonio Gramsci, italienischer Marxist) … »Was ist Wahrheit?« (Pontius Pilatus, römischer Präfekt) … In verschiedenen Städten im Süden des Landes sterben Richter und Staatsanwälte wie die Fliegen – zielsicher abgeschossen von einem unbekannten Killer. Ist der Täter ein Psychopath? Ein Chaot? Ein Extremist? Kommissar Rogas (Lino Ventura), stoisch-integrer Kriminalist aus der Hauptstadt, entdeckt einen möglichen Zusammenhang zwischen den erlauchten Leichnamen: Rächt sich das Opfer eines Justizirrtums an denjenigen, die ihn einst zu Unrecht verurteilten? Klarheit ist in diesem Fall nicht zu gewinnen: Je tiefer Rogas in die Ermittlung eintaucht, desto unübersichtlicher werden die Hintergründe, desto verschlungener erscheinen die Beziehungen der Betroffenen und Beteiligten – bis sich hinter der Mordserie das schwarze Loch einer allumfassenden Verschwörung auftut: In altehrwürdigen Palästen wird der Staatsstreich vorbereitet. Die unheimliche Macht, die im Namen von Sicherheit und Ordnung an die Grundfesten von Sicherheit und Ordnung rührt, bleibt wesenlos, ungreifbar, schattenhaft; Politiker und Militärs sind am Komplott ebenso beteiligt wie Geheimdienstler und Wirtschaftbosse. Die Kriminalerzählung wandelt sich peu à peu in die intensive Beschreibung einer Landschaft der Angst; am abgründigsten ist Francesco Rosis morbider Paranoia-Thriller da, wo er, statt eine erklärende Auflösung zu bieten, die politischen Gegner der konspirativen Dunkelmänner mit bitterernster Ironie als Mitglieder des Kartells demaskiert. Auch die linke Opposition ist Teil und Stütze eines geschlossenen, ausweglosen Systems: »La verità non è sempre rivoluzionaria«, subsumiert der kommunistische Parteifunktionär – die Wahrheit ist nicht immer revolutionär. PS: »Cadaveri eccellenti« endet mit folgender Schrifttafel: »I fatti e i personaggi di questo film non hanno riferimento con fatti e persone reali.« 1981 werden italienische Untersuchungsbehörden die Aktivitäten der Geheimorganisation »Propaganda Due« (»P2«) enthüllen, deren tatsächliche Subversionstätigkeit zur Vorbereitung eines Umsturzes der von Rosi ausgemalten fiktiven Intrige auf verblüffende Weise ähnelte.

R Francesco Rosi B Francesco Rosi, Tonino Guerra, Lino Iannuzzi V Leonardo Schiaschia K Pasqualino De Santis M Piero Piccioni A Andrea Crisanti S Ruggero Mastroianni P Alberto Grimaldi D Lino Ventura, Alain Cuny, Max von Sydow, Fernando Rey, Charles Vanel | I & F | 120 min | 1:1,85 | f | 12. Februar 1976

Hostess (Rolf Römer, 1976)

Rolf Römers zweiter und letzter Autorenfilm, eine (n)ostalgische Flaschenpost aus dem kurzen Scheinsommer der frühen Ära Honecker, ist ebensosehr Hommage an seine herb-sinnliche Ehefrau Annekathrin Bürger wie an die bieder-weltniveauvolle Hauptstadt der DDR. Die komödiantische Beziehungsgeschichte – sie verläßt ihn; sie denkt nach: über sich, über ihn, über die Liebe im allgemeinen und im besonderen; sie kehrt zu ihm zurück – ist so dünn wie das Papier, auf dem eine Frauenzeitschrift gedruckt wird, doch der Kunstgriff, die weibliche Hauptfigur zur (polyglotten) Fremdenführerin (= Hostess) zu machen, erlaubt es der Kamera, einen ausgedehnten Bummel durch die Straßen der real-existierenden Kapitale zu unternehmen: Ostberlin erstrahlt in schönstem Grau, die milde Luft vibriert vom Knattern der Zweitakter, das Leben ist leicht und rosarot. Zu den illustriertenhaft-weichgespülten Bildstrecken singt aus dem Off Veronika Fischer, aber auch die knalljunge Nina Hagen hat einen poppig-angepunkten (Konzert-)Auftritt: »Zur Aktuellen Kamera / am Sonntag war ich wieder da. / Die Mutter informiert die Polizei, / daß ich soeben eingetroffen sei.«

R Rolf Römer B Rolf Römer, Gisela Steineckert K Siegfried Mogel M Günther Fischer A Christoph Schneider S Monika Schindler P Siegfried Kabitzke D Annekathrin Bürger, Jürgen Heinrich, Roswitha Marks, Berndt Stichler, Manfred Karge | DDR | 99 min | 1:1,66 | f | 12. Februar 1976

4.2.76

Next Stop, Greenwich Village (Paul Mazursky, 1975)

Ein Haar in der Suppe

Bohemian Rhapsody im New York der frühen 1950er. Larry Lapinsky (schlaksig: Lenny Baker), Brando-Fan aus Brooklyn, Schauspielschüler auf der Flucht vor seiner jüdischen Übermutter (göttlich: Shelley Winters), und seine exzentrischen Freunde – die depressive Dichterin und die schwarze Tunte, der arrogante junge Romancier (vielversprechend: Christopher Walken) und der vegetarische Saftladenbesitzer – treiben sich rum, schlagen sich durch, verkrachen sich, vertragen sich, lieben sich und schneiden sich die Pulsadern auf. »Next Stop, Greenwich Villlage« ist Paul Mazurskys »I Remember«, ein Film wie das Wühlen in einer Fotokiste: Echos von Momenten – existenziell und belanglos, hysterisch lustig und herzzerreißend traurig, ungeschminkt und posenhaft. Wie das Leben eben ist.

R Paul Mazursky B Paul Mazursky K Arthur J. Ornitz M Bill Conti A Philip Rosenberg S Richard Halsey P Paul Mazursky, Anthony Ray D Lenny Baker, Shelley Winters, Ellen Greene, Lois Smith, Christopher Walken | USA | 111 min | 1:1,85 | f | 4. Februar 1976