Elf Uhr nachts
Un film d’aventure. Un roman d’amour. Un saison en enfer. Jean-Luc Godard schickt sein irres Liebespaar Pierrot (»Je m’appelle Ferdinand!«) (= Jean-Paul Belmondo) und Marianne Renoir (= Anna Karina) auf eine lange, sommerliche Kino-Flucht vor und zu sich selbst. Sam Fuller weist ihnen (und dem Publikum) die Richtung: »Film is like a battleground: love, hate, action, violence, death. In one word: emotion.« Pierrot und Marianne verlassen die Stadt (die gute Gesellschaft, das dumme Geschwätz, die reichen Büffets), überfallen Tankstellen, erzählen Geschichten, lesen Comics, klauen, jagen, fischen. Während Rudimente von Handlung (irgend etwas mit Terrorismus, politischem Mord und Waffenschmuggel) wie Müll am Wegesrand liegenbleiben, geht die Reise immer weiter hinaus ins Freie – durch Realismus und Surrealismus, Zärtlichkeit und Grausamkeit, Schrecken und Komik – über Felder durch Wälder ans Meer. Die Tage vergehen. Die Liebe auch. Der Versuch der Freiheit endet – beau comme tout – mit einem Loch in der Schläfe und einem explodierenden blauen Kopf. Das Meer schweigt dazu und glitzert in der Sonne.
R Jean-Luc Godard B Jean-Luc Godard V Lionel White K Raoul Coutard M Antoine Duhamel S Françoise Collin P Georges de Beauregard D Jean-Paul Belmondo, Anna Karina, Graziella Galvani, Samuel Fuller, László Szabó | F & I | 110 min | 1:2,35 | f | 28. August 1965
25.8.65
Marie-Chantal contre Dr. Kha (Claude Chabrol, 1965)
M. C. contra Dr. Kha
»Vous êtes comme Alice. Vous êtes passées de l’autre côté du miroir.« Auf einer Zugfahrt erhält Marie-Chantal (Marie Lafôret) von einem Mitreisenden ein Schmuckstück zur vorübergehenden Aufbewahrung. Im Moment, da sie den blauen Pantherkopf mit den Rubinaugen annimmt, betritt das maliziöse Lebefräulein ein wundersames Land hinter den Spiegeln, eine Sphäre des tödlichen Wettstreits feindlicher Organisationen. Claude Chabrol erzählt (mit Anleihen bei Langs »Dr. Mabuse« und Hitchcocks »The Man Who Knew Too Much«) eine bizarre Farce um ein Killervirus, das seinen Besitzer zum Herren der Welt machen würde. Der Film, eine märchenhafte Reise von den Alpen nach Marokko, lebt vor allem von seinen Darstellern: Serge Reggiani und Charles Denner als grenzdebile Comicspione Ivanov und Johnson; Stéphane Audran als schwarze Witwe Olga, die den ganzen Horror des Lebens an der unsichtbaren Front schildert: dauernd Mord, Entführung, Sabotage, und dann noch die Sexpartys mit den Ministern; Akim Tamiroff als doppelbödiger Dr. Kha, genialischer Spieler gegen alle und gegen sich selbst. Die Heldin engagiert sich weniger aus Überzeugung denn aus Renitenz: la petite snob will das Kleinod, das man ihr überlassen hat, einfach nicht wieder hergeben. Im übrigen findet sie die Agenda des Superschurken bedauernswürdig: Absolute Macht bedeute nichts anderes als absoluten Tod. Und während die junge Frau zur Ablenkung ihr Nonnenschulen-Programm von Liebe, Zärtlichkeit und Vertrauen entwickelt, nestelt sie einen Revolver aus der Bluse … Die angelegte Fortsetzung von Marie-Chantals phantastischen Abenteuern wird Chabrol der Filmgeschichte leider schuldig bleiben.
R Claude Chabrol B Claude Chabrol, Christian-Yve, Daniel Boulanger V Jacques Chazot K Jean Rabier M Pierre Jansen A Guy Litaye S Jacques Gaillard P Georges de Beauregard D Marie Lafôret, Francisco Rabal, Stéphane Audran, Akim Tamiroff, Serge Reggiani, Roger Hanin, Charles Denner | F & I & E | 110 min | 1:1,66 | f | 25. August 1965
»Vous êtes comme Alice. Vous êtes passées de l’autre côté du miroir.« Auf einer Zugfahrt erhält Marie-Chantal (Marie Lafôret) von einem Mitreisenden ein Schmuckstück zur vorübergehenden Aufbewahrung. Im Moment, da sie den blauen Pantherkopf mit den Rubinaugen annimmt, betritt das maliziöse Lebefräulein ein wundersames Land hinter den Spiegeln, eine Sphäre des tödlichen Wettstreits feindlicher Organisationen. Claude Chabrol erzählt (mit Anleihen bei Langs »Dr. Mabuse« und Hitchcocks »The Man Who Knew Too Much«) eine bizarre Farce um ein Killervirus, das seinen Besitzer zum Herren der Welt machen würde. Der Film, eine märchenhafte Reise von den Alpen nach Marokko, lebt vor allem von seinen Darstellern: Serge Reggiani und Charles Denner als grenzdebile Comicspione Ivanov und Johnson; Stéphane Audran als schwarze Witwe Olga, die den ganzen Horror des Lebens an der unsichtbaren Front schildert: dauernd Mord, Entführung, Sabotage, und dann noch die Sexpartys mit den Ministern; Akim Tamiroff als doppelbödiger Dr. Kha, genialischer Spieler gegen alle und gegen sich selbst. Die Heldin engagiert sich weniger aus Überzeugung denn aus Renitenz: la petite snob will das Kleinod, das man ihr überlassen hat, einfach nicht wieder hergeben. Im übrigen findet sie die Agenda des Superschurken bedauernswürdig: Absolute Macht bedeute nichts anderes als absoluten Tod. Und während die junge Frau zur Ablenkung ihr Nonnenschulen-Programm von Liebe, Zärtlichkeit und Vertrauen entwickelt, nestelt sie einen Revolver aus der Bluse … Die angelegte Fortsetzung von Marie-Chantals phantastischen Abenteuern wird Chabrol der Filmgeschichte leider schuldig bleiben.
R Claude Chabrol B Claude Chabrol, Christian-Yve, Daniel Boulanger V Jacques Chazot K Jean Rabier M Pierre Jansen A Guy Litaye S Jacques Gaillard P Georges de Beauregard D Marie Lafôret, Francisco Rabal, Stéphane Audran, Akim Tamiroff, Serge Reggiani, Roger Hanin, Charles Denner | F & I & E | 110 min | 1:1,66 | f | 25. August 1965
6.8.65
The Face of Fu Manchu (Don Sharp, 1965)
Ich, Dr. Fu Man Chu
»He’s cruel, callous, brilliant, and the most evil and dangerous man in the world«, sagt Scotland-Yard-Inspektor Nayland Smith (Nigel Green, ein Inbild des britischen Stiff-upper-lip-Kolonialoffiziers) über seinen Gegenspieler: Dr. Fu Manchu (Christopher Lee), ein besonders abgefeimtes Exemplar aus der langen Galerie promovierter Erzschurken – Dr. Caligari, Dr. Mabuse, Dr. No –, greift, wie es sich für den bösartigsten Mann der Welt gehört, nach der Herrschaft über die gesamte Menschheit. Es ist die sprichwörtliche »gelbe Gefahr«, die Fu Manchu in Harry Alan Towers’ englisch-deutscher Koproduktion fratzenhaft verkörpert, der personifizierte Angsttraum des zivilisierten Westens vor der orientalischen Despotie. Nichts weniger als »the secret of universal life« will der Superverbrecher (assistiert von seiner sadistischen Tochter Lin Tang) enträtseln, besser gesagt: aus seltenen tibetischen Samenkörnern destillieren (wozu er die mehr oder weniger freiwillige Hilfe europäischer Gelehrter benötigt), wobei es ihm als großem Zerstörer um die Überwindung des irdischen Lebens geht, um »the life after this life«, kurz: um den Tod. Der Spielort des von Don Sharp mit spröder Eleganz inszenierten, im Zwischenreich von James Bond und Edgar Wallace angesiedelten Pulp-Dramas, das behaglich-graue London der 1920er Jahre, erweist sich als längst unterhöhlt von Geheimgängen und Folterkellern, und immer wieder durchzuckt das grelle Rot einer letalen Bedrohung die stolze Selbstgewißheit der Metropole des Empire. »Remember Fleetwick«, läßt Fu Manchu mit alarmierend ruhiger Stimme über Radio verlauten; kurz darauf ist eine Kleinstadt ausgelöscht – als erpresserische Ankündigung des kommenden, noch verheerenderen Unheils. Am Ende siegt das Gute, und das Böse bekundet seine Unbesiegbarkeit: »The world shall hear from me again.«
R Don Sharp B Peter Welbeck (= Harry Alan Towers) V Sax Rohmer K Ernest Steward M Christopher Whelen A Frank White S John Trumper P Harry Alan Towers D Christopher Lee, Nigel Green, Joachim Fuchsberger, Karin Dor, Tsai Chin, Walter Rilla | UK & BRD | 96 min | 1:2,35 | f | 6. August 1965
# 864 | 21. Mai 2014
»He’s cruel, callous, brilliant, and the most evil and dangerous man in the world«, sagt Scotland-Yard-Inspektor Nayland Smith (Nigel Green, ein Inbild des britischen Stiff-upper-lip-Kolonialoffiziers) über seinen Gegenspieler: Dr. Fu Manchu (Christopher Lee), ein besonders abgefeimtes Exemplar aus der langen Galerie promovierter Erzschurken – Dr. Caligari, Dr. Mabuse, Dr. No –, greift, wie es sich für den bösartigsten Mann der Welt gehört, nach der Herrschaft über die gesamte Menschheit. Es ist die sprichwörtliche »gelbe Gefahr«, die Fu Manchu in Harry Alan Towers’ englisch-deutscher Koproduktion fratzenhaft verkörpert, der personifizierte Angsttraum des zivilisierten Westens vor der orientalischen Despotie. Nichts weniger als »the secret of universal life« will der Superverbrecher (assistiert von seiner sadistischen Tochter Lin Tang) enträtseln, besser gesagt: aus seltenen tibetischen Samenkörnern destillieren (wozu er die mehr oder weniger freiwillige Hilfe europäischer Gelehrter benötigt), wobei es ihm als großem Zerstörer um die Überwindung des irdischen Lebens geht, um »the life after this life«, kurz: um den Tod. Der Spielort des von Don Sharp mit spröder Eleganz inszenierten, im Zwischenreich von James Bond und Edgar Wallace angesiedelten Pulp-Dramas, das behaglich-graue London der 1920er Jahre, erweist sich als längst unterhöhlt von Geheimgängen und Folterkellern, und immer wieder durchzuckt das grelle Rot einer letalen Bedrohung die stolze Selbstgewißheit der Metropole des Empire. »Remember Fleetwick«, läßt Fu Manchu mit alarmierend ruhiger Stimme über Radio verlauten; kurz darauf ist eine Kleinstadt ausgelöscht – als erpresserische Ankündigung des kommenden, noch verheerenderen Unheils. Am Ende siegt das Gute, und das Böse bekundet seine Unbesiegbarkeit: »The world shall hear from me again.«
R Don Sharp B Peter Welbeck (= Harry Alan Towers) V Sax Rohmer K Ernest Steward M Christopher Whelen A Frank White S John Trumper P Harry Alan Towers D Christopher Lee, Nigel Green, Joachim Fuchsberger, Karin Dor, Tsai Chin, Walter Rilla | UK & BRD | 96 min | 1:2,35 | f | 6. August 1965
# 864 | 21. Mai 2014
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20er Jahre,
Abenteuer,
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London,
Phantastik,
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Thriller,
Tibet,
Tod,
Wissenschaft
3.8.65
Darling (John Schlesinger, 1965)
Darling
»I’m as happy as anyone could possibly be.« London, die Hauptstadt der swingenden Sechziger: Aufbruch, Hedonismus, Ungezwungenheit, das Leben als endlose Party. Eine old fashioned Metropole wird zum Epizenztrum der kapitalistischen Kulturrevolution – hier spielt John Schlesingers fellineskes Gesellschaftspanorama »Darling«: ein Röntgenbild der Oberflächlichkeit, ein leichtfüßig-frostiges Soziogramm, ein silbriges Glanzstück. Julie Christie ist Diana Scott. Sie ist jung und schön, sie wirkt natürlich und unkompliziert, sie weiß genau, was sie will, besser gesagt wohin: nach oben. Darling Diana ist ein Archetyp der Ära, »happiness girl« und »ideal woman«, Hure und Prinzessin. Männer pflastern ihren Weg: Dirk Bogarde, der Intellektuelle, Laurence Harvey, der Zyniker, José de Vilallonga, der Fürst. Darling benutzt und läßt sich benutzen. Am Ende ist sie da, wo sie immer sein wollte. Sie residiert in einem Schloß, sie sieht ihr Gesicht im Spiegel, und sie weiß: »Darling’s life is a great big steaming mess.«
R John Schlesinger B Frederic Raphael K Kenneth Higgins M John Dankworth A Ray Simm S Jim Clark P Joseph Janni D Julie Christie, Dirk Bogarde, Laurence Harvey, José Luis de Vilallonga, Roland Curram | UK | 128 min | 1:1,66 | sw | 3. August 1965
»I’m as happy as anyone could possibly be.« London, die Hauptstadt der swingenden Sechziger: Aufbruch, Hedonismus, Ungezwungenheit, das Leben als endlose Party. Eine old fashioned Metropole wird zum Epizenztrum der kapitalistischen Kulturrevolution – hier spielt John Schlesingers fellineskes Gesellschaftspanorama »Darling«: ein Röntgenbild der Oberflächlichkeit, ein leichtfüßig-frostiges Soziogramm, ein silbriges Glanzstück. Julie Christie ist Diana Scott. Sie ist jung und schön, sie wirkt natürlich und unkompliziert, sie weiß genau, was sie will, besser gesagt wohin: nach oben. Darling Diana ist ein Archetyp der Ära, »happiness girl« und »ideal woman«, Hure und Prinzessin. Männer pflastern ihren Weg: Dirk Bogarde, der Intellektuelle, Laurence Harvey, der Zyniker, José de Vilallonga, der Fürst. Darling benutzt und läßt sich benutzen. Am Ende ist sie da, wo sie immer sein wollte. Sie residiert in einem Schloß, sie sieht ihr Gesicht im Spiegel, und sie weiß: »Darling’s life is a great big steaming mess.«
Labels:
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1.8.65
The Alphabet Murders (Frank Tashlin, 1965)
Die Morde des Herrn ABC
»This is London. Nothing is going to happen.« Eigentlich ist der belgische (!) Meisterdetektiv Hercule Poirot nur an die Themse gereist, um seinen Schneider aufzusuchen, doch die nach Aufklärung schreienden Mordtaten lassen (natürlich) nicht lange auf sich warten. Albert Aachen, Betty Bernard, Sir Carmichael Clarke, Duncan Doncaster heißen die Opfer, die mit vergifteten Pfeilen abgeschossen werden – offenbar von einer alphabetfixierten Psychotikerin (Anita Ekberg als schöne, große, blonde und völlig verrückte (?) Serienkillerin Amanda Beatrice Cross) … Mit parodistischem Gusto, cartoonesken Bilderfindungen sowie einer absolut überzeugenden Fehlbesetzung der Hauptrolle (wie aus dem Ei gepellt: Tony Randall) stellt Frank Tashlin seine absurd-vergnügliche, cool-klamaukige Kriminalfarce in die Tradition der 1960er Miss-Marple-Adaptionen (insbesondere hörbar gemacht durch den Komponisten Ron Goodwin) und geht zugleich einen Schritt über die altjüngferlichen Verbrecherjagden hinaus. Eine dysfunktionale Familie und ein großes Vermögen, atemberaubende Schlußfolgerungen des kombinatorischen Genies und polizeiliche Blindheit, ein Labyrinth falscher Spuren und ein Club voller Exzentriker – »The Alphabet Murders« ist verarschende Huldigung und respektvolle Dekonstruktion erzbritischer Whodunit-Stereotypen in einem filmischen Atemzug. Robert Morley als schnaufender Poirot-Sidekick Captain Hastings gibt der aparten Genrepersiflage den fetten Rest.
R Frank Tashlin B David Pursall, Jack Seddon V Agatha Christie K Desmond Dickinson M Ron Goodwin A William C. Andrews S John Victor-Smith P Lawrence P. Bachmann D Tony Randall, Anita Ekberg, Robert Morley, Maurice Denham, Guy Rolfe | UK | 90 min | 1:1,66 | sw | 1. August 1965
R Frank Tashlin B David Pursall, Jack Seddon V Agatha Christie K Desmond Dickinson M Ron Goodwin A William C. Andrews S John Victor-Smith P Lawrence P. Bachmann D Tony Randall, Anita Ekberg, Robert Morley, Maurice Denham, Guy Rolfe | UK | 90 min | 1:1,66 | sw | 1. August 1965
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