23.10.68

Secret Ceremony (Joseph Losey, 1968)

Die Frau aus dem Nichts 

»Hush, little baby, cry no more. / Father’s gone fishing, / Mother’s a whore. / Back in the morning, to guard your life, / With two short prayers and a carving knife.« Eine hysterische Gruselposse, eine spieluhrenhafte Mißbrauchstragödie, eine trivial-kaputte Familienfarce, ein vulgär-barocker Horrorhaus-Streifen – »Secret Ceremony« erzählt ein schauderbares Mutter-Tochter-Drama (in dem sowohl Mutter als auch Tochter lange vor Beginn der eigentlichen Handlung gestorben sind) als grob-verfeinertes Psycho-Grand-Guignol, das auf höchstem Niveau (Drehbuch: George Tabori) die niedrigsten Instinkte befriedigt: Die üppige Prostituierte Leonora (Elizabeth Taylor) hat ihre kleine Tochter verloren, die zartgliedrige Millionenerbin Cenci (Mia Farrow) hat ihre schöne Mutter begraben. Auf dem Oberdeck eines Busses begegnen sich die beiden verwaisten Geschöpfe zum ersten Mal, auf einem Friedhof fallen sie sich, im Gegenüber das Verlorene erkennend, schluchzend in die Arme. Cenci nimmt Leonora mit, in das riesige Anwesen, in dem sie ganz alleine lebt, eine schwülstige Art-Nouveau-Monstrosität, eine wüste Entladung buntschillernder Fliesen, irisierender Bleiverglasungen, schimmernder Mosaiken, die zum zwielichtig-verwinkelten Schauplatz für ein zwielichtig-verwinkeltes Katz-und-Maus-Spiel der Berührung und der Verweigerung, der Berechnung und der Verzückung wird. Einen Angriff gieriger Tanten auf die künstliche Mutter-Tochter-Intimität kann Leonora abwehren, doch spätestens mit dem Auftritt von Cencis päderastischem Stiefvater Albert (Robert Mitchum in der wohl abseitigsten Rolle seiner Karriere) verwandelt sich der spukige nursery rhyme in heillose gothic fiction … »Secret Ceremony« ist ein unergründlich oberflächlicher, ein meisterhaft mißtönender Film am Rande des Nervenzusammenbruchs, von Joseph Losey inszeniert nach der Prämisse des infamen Verderbers Albert: »Sometimes one has to choose between good taste and being a human being.«

R Joseph Losey B George Tabori V Marco Denevi K Gerry Fischer M Richard Rodney Bennett A Richard Macdonald S Reginald Beck P John Heyman, Norman Priggen D Elizabeth Taylor, Mia Farrow, Robert Mitchum, Peggy Ashcroft, Pamela Brown | UK | 105 min | 1:1,85 | f | 23. Oktober 1968

17.10.68

Bullitt (Peter Yates, 1968)

Bullitt

»Frank, we must all compromise.« – »Bullshit.« Lieutenant Frank Bullitt und sein Team erhalten den Auftrag, einen aus Chicago nach San Francisco überführten Kronzeugen gegen die »organization« von dessen Ankunft am Freitagnachmittag bis zur Aussage vor dem Untersuchungsausschuß eines karriegegeilen Staatsanwalts (mit Vorsicht zu genießen: Peter Vaughn) am Montagmorgen zu beschützen. Der Kronzeuge wird ermordet, der Staatsanwalt kriegt einen dicken Hals, Bullitt kommt die Sache spanisch vor – der Polizist ermittelt, unorthodox, gegen die Regeln, auf eigene Faust ... Es ist nicht so sehr der schlanke Plot (dessen Auflösung immerhin Fragen über die wahren Hintergründe der Intrige offenläßt), auch nicht die von Peter Yates (der im Jahr zuvor mit »Robbery« den großen Postzugraub fürs Kino aufbereitete) untadelig inszenierte Action (inklusive einer legendären zwölfminütigen Verfolgungsfahrt über die Hügel von San Francisco, hinaus aus der Stadt, bis zu einer erwartungsgemäß explodierenden Tankstelle sowie einer furiosen Hetzjagd zwischen startenden und landenden Flugzeugen auf dem nächtlichen Airport), die »Bullitt« zu einer Ausnahmestellung im Genre verhelfen, es sind vielmehr die lakonische Präzision der (sichtlich vom britischen Kitchen-sink-Realismus beeinflußten) Regie und insbesondere Steve McQueens kompromißloses Underplay in der Titelrolle (die bisweilen an den von Lee Marvin verkörperten Walker in John Boormans – ebenfalls im sonnigen Kalifornien spielenden – schwarzen Meta-Thriller »Point Blank« denken läßt). Über die Redundanz der einzigen Frauenfigur des Films läßt Jacqueline Bisset (in ihrem ersten Hollywood-Engagement) betörend hinwegsehen.

R Peter Yates B Alan Trustman, Harry Kleiner V Robert L. Pike K William A. Fraker M Lalo Schifrin A Albert Brenner S Frank P. Keller P Philip D’Antoni D Steve McQueen, Robert Vaughn, Jacqueline Bisset, Simon Oakland, Robert Duvall | USA | 113 min | 1:1,85 | f | 17. Oktober 1968

# 1096 | 22. Februar 2018

16.10.68

Ho! (Robert Enrico, 1968)

Die Nr. 1 bin ich

Nach einem von ihm verursachten Unfall mit Todesfolge wird dem Rennfahrer François Holin (Jean-Paul Belmondo) die Lizenz entzogen; fünf Jahre später verdingt er sich als Fahrer von Fluchtwagen in der Pariser Unterwelt, wobei er fortgesetzt die Herablassung seiner berufsverbrecherischen Kollegen zu spüren bekommt. Erst ein spektakulärer Ausbruch aus dem Untersuchungsgefängnis verschafft dem kleinen Ganoven jenen Starnimbus, den er von jeher für sich beansprucht hat: »Arsène Lupin + Al Capone = François Holin« titelt eine Boulevardzeitung nach dem Bravourstück, und der solchermaßen Bekomplimentierte pflastert ein ganzes Zimmer mit den Bildern und Schlagzeilen, die sein öffentliches Image erschaffen. Nach einem Roman von José Giovanni liefert Robert Enrico das eindrückliche Porträt des Gangsters als eitler Mann, das Psychogramm eines seelisch Lädierten, der sein aufgeputschtes Medienbild für die Wahrheit nimmt – eine fatale Disproportion, die François de Roubaix’ zwischen sanfter Wehmut und hektischer Unruhe wechselnder (Klavier-)Soundtrack musikalisch virtuos ausgestaltet. Wenn Ho/Holin am Ende seines zunehmend blutigen Weges durch ein Gewitter von Blitzlichtern schwankt, ist er endlich die Berühmtheit, die er immer sein wollte, einer, der alles gewonnen und dabei alles verloren hat.

R Robert Enrico B Lucienne Hamon, Pierre Pelegri, Robert Enrico V José Giovanni K Jean Boffety M François de Roubaix A Jacques Saulnier S Jacqueline Meppiel P Paul Laffargue D Jean-Paul Belmondo, Joanna Shimkus, Raymond Bussières, Paul Crauchet, Sidney Chaplin | F & I | 103 min | 1:1,66 | f | 16. Oktober 1968

# 1054 | 5. Juni 2017

3.10.68

Schamlos (Eddy Saller, 1968)

On the other side of 68: der junge Spund (sexy: Udo Kier) gegen den alten Sack (klasse: Rolf Eden). Eddy Saller erzählt mit viel Gespür für Rhythmus und visuelle Reize eine weniger kohärente denn assoziativ-sprunghafte Gangster-Kolportage – in labyrinthischen Kelllerbars, gutbürgerlichen Villen und schmierigen Wohnwagen-Bordellen, auf übervollen Schrottplätzen, in neonglänzenden Straßen und bei einem veritablen Happening der Wiener Aktionisten (von und mit Otto Muehl). Im Zentrum der ruppigen Handlung steht Annabella (»so heiß wie ’ne leergeschossene MP«): von allen begehrt, von einem geliebt, arbeitet sie lieber auf eigene Rechnung – was ihr zum Verhängnis wird. Die Aufklärung des Mordes (in Form eines Femegerichts) hinterläßt einen Berg von Leichen. Wer übrigbleibt, wird nicht verraten. Ist auch gar nicht nötig. Am Ende gewinnt ja eh immer das Establishment.

R Eddy Saller B Theodor Ottawa, Karl Hans Koizar K Walter Partsch M Gerhard Heinz S Dagmar Koschu P Herbert Heidmann D Udo Kier, Rolf Eden, Thomas Astan, Marina Paal, Vladimir Medal | A & BRD & F | 74 min | 1:1,37 | sw | 3. Oktober 1968