15.10.63

Le feu follet (Louis Malle, 1963)

Das Irrlicht 

»Pauvre Alain, comme vous êtes mal.« Als er jung und schön war, hat Alain Leroy fröhlich gefeiert, hat die Frauen reihenweise flachgelegt, hat gesoffen wie ein Loch. Die Zeit verging. Die Freunde wurden ernsthaft – seriöse Bürger, salbungsvolle Intellektuelle, echte Verbrecher. Alain verabscheut dies alles, findet es hohl, verlogen, medioker, dumm. Erwachsen werden ist für ihn keine Option: »Difficile d’être un homme. Il faut avoir envie.« Die Freunde, die Frauen, sie sind auf der Strecke seines Lebens geblieben, nur die Flasche, sie steht immer noch auf dem Tisch … Der Anfang von »Le feu follet« findet Alain (versteinert: Maurice Ronet) am Ende einer Entziehungskur, die er scheinbar erfolgreich hinter sich brachte. Doch Alain ist nicht nüchtern, er ist leer, ohne jede Hoffnung, kann weniger als je zuvor die Dinge, die Menschen berühren, spürt nichts im Gegenüber, fühlt nichts in seinem Inneren. »Alain, la vie est bonne«, behauptet sein Arzt. »Dites-moi en quoi, docteur«, antwortet der an sich selbst und der Menschheit zutiefst Verzweifelnde. Das Datum seines Todes (23 juillet) fest notiert, macht Alain eine letzte Runde durch alte Zeiten, streift noch einmal durch die Stadt vormaliger Abenteuer, besucht die Kameraden, die Geliebten von einst. Als wandelnder Vorwurf sitzt, steht, geht er zwischen den Gespenstern seiner Vergangenheit, empört sich über ihre Ruhe, ihre Zufriedenheit, ihre Selbstgewißheit: »Croyez-vous dans vos actes?« Louis Malle schildert die letzten 48 Stunden seines unglücklichen Protagonisten mit lakonischer Anteilnahme, äußerster Akribie und formaler Strenge, hält dabei die Quintessenz der Erzählung diskret in der in der Schwebe: Ist Alain das Irrlicht? Oder die Welt, die ihn umgibt? Kennzeichnet Alains stolze Verweigerung die anderen als Kompromißler, die einen falschen Seelenfrieden in ewiger Langeweile akzeptiert haben? Oder ist Alain ein anmaßender Feigling, der nicht wahrhaben will, daß Glück nicht immer lustig ist, ein Dandy, der sein Scheitern zur tödlichen Krankheit stilisiert? Ob es sich um wirkliches Leiden oder um einen Phantomschmerz handelt, spielt letzten Endes keine Rolle – für Alain gibt es nur einen (Aus-)Weg: »C’est fini pour moi. Je m’en vais.«

R Louis Malle B Louis Malle V Pierre Drieu la Rochelle K Ghislain Cloquet A Bernard Evein S Suzanne Baron P Alain Quefféléan D Maurice Ronet, Bernard Noël, Jacques Sereis, Alexandra Stewart, Jeanne Moreau | F | 108 min | 1:1,66 | sw | 15. Oktober 1963

10.10.63

From Russia with Love (Terence Young, 1963)

James Bond 007 – Liebesgrüße aus Moskau

»I've seen places, faces and smiled for a moment / But oh, you haunted me so.« SPECTRE spielt Briten und Russen gegeneinander aus, um in den Besitz einer Verschlüsselungsmaschine aus der Istanbuler Sowjet-Botschaft zu gelangen – und um James Bond in die Pfanne zu hauen… Ein klarer, kühler, trockener »007«, frei von Superstar-Allüren und Welteroberungsphantastereien: Bond (Sean Connery – the one and only) trinkt keinen einzigen Martini, konzentriert sich stattdessen (so wie der Rest der Crew) ganz auf die effiziente Erledigung seines Jobs. Abgesehen von einem überflüssigen ethnographischen Intermezzo im Zigeunerlager (inklusive Bauchtanz und Damen-Catchen), stimmt so ziemlich alles: die villainess (Lotte Lenya als stalinistische Kampflesbe Rosa Klebb: »Training is useful, but there is no substitute for experience.«), der henchman (Robert Shaw als (fast) perfekter, blondierter Schlagetot Donald Grant: »My orders are to kill you. How I do it is my business. It'll be slow and painful.«), der sidekick (Pedro Armendáriz als väterlicher Kontaktmann Kerim Bey: »All of my key employees are my sons. Blood is the best security in this business.«), das girl (Daniela Bianchi als ergebene Russin Tatiana Romanova: »Oh James, will you make love to me all the time in England?«). Auch wenn »From Russia with Love« (in Form von explosiven Koffern, Hubschrauberattacken sowie Bootsrennen) einen Ausblick auf die things to come der unsterblichen Reihe gibt, dominiert mit Touren durch jahrhundertealte Geheimgänge und Prügelei im Orientexpreß ein sympathisch-anschaulicher Naturalismus das Geschehen.

R Terence Young B Richard Maibaum, Johanna Herwood V Ian Fleming K Ted Moore M John Barry A Syd Cain S Peter Hunt P Albert R. Broccoli, Harry Saltzman D Sean Connery, Daniela Bianchi, Pedro Armendáriz, Lotte Lenya, Robert Shaw | UK | 115 min | 1:1,85 | f | 10. Oktober 1963

9.10.63

Le mani sulla città (Francesco Rosi, 1963)

Hände über der Stadt

Ein Politdrama ohne all das, was Politdramen allzuoft verwässert, was sie leichter konsumierbar und damit letzten Endes unergiebig macht, ein Politdrama ohne love interest, ohne human touch, ohne happy ending. »Le mani sulla città« zeigt nichts als die Mechanik der Macht, das Triebwerk der Gier, das Ballett der Interessen, die Verhöhnung des Rechts. Francesco Rosi zergliedert das System, in dem es nur eine Sünde gibt: zu verlieren. Ort der Enquête ist Neapel. Es könnte jeder andere Ort im Reich des Geldes sein. Zeit ist die Gegenwart des demokratischen Kapitalismus. Anlaß der Recherche: Einsturz einer altersschwachen Mietskaserne neben einer Baustelle des Immobilienlöwen und Abgeordneten Eduardo Nottola (Rod Steiger). Ein gegen den Widerstand der (rechten) Regierungsfraktionen von der (linken) Opposition durchgesetzter Parlamentsausschuß soll die Hintergründe des Unglücks ermitteln. Doch im Zirkus der administrativen Zuständigkeiten ist keine Verantwortung auszumachen, im geölten Räderwerk des politischen Betriebes kann kein Schuldiger benannt werden … In einem Schlüsselmoment des Films erklärt ein Verwaltungsbeamter der Untersuchungskommission, daß es zwei Städte gebe: die oberirdische, sichtbare Stadt und die subterrane, verborgene Stadt, die sei wie ein Schweizer Käse, voller unbekannter Gänge, Tunnel und Spalten: »Voi non avete idea, voi non sapete che cosa nel sottosuolo esiste.« Ihr habt keine Ahnung, was sich da unten tut. Im Gegensatz zu den versteckten Schlünden der Topographie liegen die Abgründe der Politik offen zu Tage. Aber das spielt keine Rolle. Denn wie sagt ein Volksvertreter: Die öffentliche Meinung, das sind wir … Ein kalter, kluger Film in analytisch-entlarvenden Bildern (Gianni Di Venanzo), getrieben von einem brutalistisch-dissonanten Score (Piero Piccioni), ein leidenschaftlicher, zeitloser Film über Häuser und Menschen, Gesetz und Vorteil, Hände und Taschen.

R Francesco Rosi B Francesco Rosi, Raffaele La Capria, Enzo Forcella, Enzo Provenzale K Gianni Di Venanzo M Piero Piccioni A Massimo Rosi S Mario Serandrei P Lionello Santi D Rod Steiger, Carlo Fermariello, Guido Alberti, Salvo Randone, Angelo D’Alessandro| I & F | 105 min | 1:1,85 | sw | 9. Oktober 1963

4.10.63

Schloß Gripsholm (Kurt Hoffmann, 1963)

Sie heißt Lydia, aber er nennt sie »Prinzessin« oder »Alte«; er heißt Kurt, aber sie nennt ihn »Daddy« oder »Peter«. Die beiden (abgeklärt gespielt von Jana Brejchová und Walter Giller) sind ein Liebespaar; ihrer Romanze eignet – die wechselseitigen Spitznamen lassen es anklingen – eine gewisse ironische Reserve. Kurt Hoffmann verlegt Kurt Tucholskys beschwingt-wehmütige Sommergeschichte aus den krisengeschüttelten frühen 1930ern in die wirtschaftswunderlichen frühen 1960er Jahre, übernimmt aus der Vorlage die erotischen Kabbeleien und das verbale Geschmuse, die illustren Nebenfiguren – Peters kauzigen Kumpel Karlchen (Hanns Lothar) und Lydias aufgeschlossene Freundin Billie (Nadja Tiller) – sowie das ländliche Schwedenidyll, läßt die dunkleren Aspekte der Geschichte (die um ein freudloses Kinderheim kreisen) kurzerhand weg, arrangiert solchermaßen – in Ultrascope und Eastmancolor – eine adrette Gefühlskomödie von mildem Humor und dezenter Frivolität, ohne unliebsame Tiefschürfigkeit oder gar scharfe Ecken und Kanten.

R Kurt Hoffmann B Herbert Reinecker V Kurt Tucholsky K Günther Anders M Hans-Martin Majewski A Otto Pischinger S Ursula Kahlbaum P Heinz Angermeyer, Kurt Hoffmann D Walter Giller, Jana Brejchová, Nadja Tiller, Hanns Lothar, Carl-Gustaf Lindstedt | BRD | 99 min | 1:2,35 | f | 4. Oktober 1963

# 1074 | 4. September 2017

Les tontons flingueurs (Georges Lautner, 1963)

Mein Onkel, der Gangster

»Non, mais t’as déjà vu ça?« Seit fünfzehn Jahren ist Fernand Naudin (Lino Ventura) raus aus dem krummen Geschäft, handelt er in der südfranzösischen Provinz mit Baumaschinen, als ihn der Ruf seines im Sterben liegenden Kumpanen Louis le Mexicain erreicht, der den alten Freund bittet, nicht nur seinen illegal wirtschaftenden Betrieb (Alkohol, Glücksspiel, Sex) zu übernehmen, sondern sich auch um die Erziehung seiner flott-halbwüchsigen Tochter zu kümmern, die von der ungesetzlichen Natur des väterlichen Business nichts ahnt ... Frei nach einem Roman von Albert Simonin (der auch die Vorlage zum Klassiker »Touchez pas au grisbi« lieferte): eine Noir-Travestie, die mit tödlicher Rohheit nicht geizt, ein Gangsterfilm, der jede Niedertracht als Scherz betrachtet, eine Familiengeschichte, in der kein Konflikt unterdrückt wird. Der beschwingt-geniale Aberwitz der »tontons flingueurs« (≈ Killer-Onkels) liegt zuallererst in Michel Audiards Dialogen, dem rasanten Wechsel von absurden Tiraden und furztrockenen Repliken, dem kapriziösen Mix aus verballhornten philosophischen Sentenzen und kunstvoll überhöhtem Rotwelsch, auch in Georges Lautners Fähigkeit, Genrekonventionen im selben Moment ironisch zu bedienen und entschlossen zu unterlaufen, last but not least im sichtbaren Vergnügen der Schauspieler (allen voran Bernard Blier als ewiger Prügelknabe), mit (un-)feierlichem Bier-(bzw. Schnaps-)ernst den allergrößten Quatsch darzubieten und dabei die eigenen Leinwandmythen durchaus würdevoll auf die Schippe zu nehmen.

R Georges Lautner B Michel Audiard, Albert Simonin, Georges Lautner V Albert Simonin K Maurice Fellous M Michel Magne A Jean Mandaroux S Michelle David P Robert Sussfeld, Irenée Leriche D Lino Ventura, Bernard Blier, Jean Lefebvre, Claude Rich, Sabine Sinjen, Horst Frank | F & I & BRD | 105 min | 1:1,66 | sw | 4. Oktober 1963

# 1051 | 27. Mai 2017

2.10.63

Muriel ou le temps d'un retour (Alain Resnais, 1963)

Muriel oder Die Zeit der Wiederkehr 

Boulogne-sur-Mer, Herbst 1962: Die Stadt trägt die neonglänzenden Wunden des Weltkrieges – der Wiederaufbau war in Wirklichkeit eine zweite Zerstörung. Hier lebt Hélène, Antiquitätenhändlerin, die ihre Wohnung zum Geschäft gemacht hat – an jedem ihrer alten Möbel hängt ein Preisschild. Sie wohnt mit ihrem Stiefsohn Bernard, den die Erinnerung an Algerien nicht losläßt, wo er im Krieg gekämpft hat – und am grausamen Tod des Mädchens Muriel (mit-)schuldig wurde. Hélène wird besucht von Alphonse, dem Geliebten ihrer Jugend, einem Windbeutel und Großsprecher, der von seiner großen Zeit in Afrika schwadroniert – wo er nie war. Mit ihm kommt Françoise, die er als seine Nichte vorstellt – und die seine Geliebte ist. Alain Resnais (Regie) und Jean Cayrol (Buch) berichten14 Tage aus dem äußerlich banalen Alltag der Protagonisten, doch der Fluß der Erzählung wird – durch brüsk wechselnde Perspektiven, durch sprunghafte Schnitte, durch Zerfetzen der Handlung in kleinste Einheiten – fragmentiert und verfremdet. »Muriel« thematisiert die Verfassung des Menschen in der Moderne, wo Leben nicht mehr als Einheit zu begreifen ist, sondern in eine Abfolge von Momenten zerfällt, schildert eine Gegenwart – Städte, Biographien, Beziehungen –, die vom Gestern in Stücke geschlagen wurde, umschreibt am Beispiel von vier Figuren auf der Flucht vor der verlorenen Zeit: Erinnern und Verdrängen, panische Angst und hektische Lustigkeit, die richtungslose Bewegung der Gefühle und die fatale Bewußtlosigkeit des Denkens. Die visuellen und inhaltlichen Dissonanzen dieses einfachen, schwierigen Films werden immer wieder von einem lyrischen Lamento (zur Musik von Hans Werner Henze) akzentuiert: »Man verliert sich / verirrt sich im Leben. / Wer zog denn den Pfad / die Spur eines Körpers? / War es Traum / war es Ahnung? / Das Unwetter schläft unterdes / schläft in der Sonne.«

R Alain Resnais B Jean Cayrol K Sacha Vierny M Hans Werner Henze A Jacques Saulnier S Kenout Peltier, Eric Pluet P Pierre Braunberger, Anatole Dauman D Delphine Seyrig, Jean-Pierre Kérien, Nita Klein, Jean-Baptiste Thiérée, Claude Sainval | F & I | 115 min | 1:1,85 | f | 2. Oktober 1963