22.11.44

Meet Me in St. Louis (Vincente Minnelli, 1944)

Heimweh nach St. Louis

»But at least we all will be together, if the Fates allow.« Wenn Versuche zur Wiederverzauberung der Welt jemals annähernd von Erfolg gekrönt waren, dann vielleicht in den Musicals, die Hollywood während seiner Glanzperiode hervorbrachte. »Meet Me in St. Louis« rückt eine x-beliebige und darum mustergültige Familie Smith des Jahres 1903 in den Fokus des episodischen Geschehens. In den wahrhaftig-unwirklichen Farben von Technicolor und mit dem ganzen glitz von Arthur Freeds production unit bei MGM malt Vincente Minnelli stimmungsvoll-innig ein privates und gesellschaftliches Idyll im historisch-euphorischen Umfeld der St. Louis World’s Fair, läßt aber zugleich – sehr überhöht – die dunkle Ahnung von der jederzeit möglichen Implosion dieses Traumbildes spürbar werden. Die Szene, in der ›Tootie‹, das jüngste Smith girl (Margaret O’Brien erhielt als 8jährige für ihre Leistung einen Oscar), in einem Akt von hysterischer Verzweiflung über den drohenden Verlust ihres Heims eine Gruppe von Schneemännern im häuslichen Vorgarten zerstört (»I’d rather kill them if we can’t take them with us!«), gehört zu den nachhaltig verstörenden Momenten der Kinogeschichte – und gibt ein versteckten Hinweis auf die Entstehungszeit des Films inmitten der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs. PS: Außerdem dabei: Judy Garland als Tochter in Liebesnöten (und -freuden), Mary Astor als rechtschaffene Dame des Hauses, Leon Ames als Familienvater mit (beinahe) fatalem Drang in die Fremde, Marjorie Main als spätes Mädchen für alles.

R Vincente Minnelli B Irving Brecher, Fred F. Finklehoffe V Sally Benson K George Folsey M diverse A Cedric Gibbons, Jack Martin Smith, Lemuel Ayers S Albert Akst P Arthur Freed D Judy Garland, Margaret O’Brien, Mary Astor, Lucille Bremer, Leon Ames | USA | 113 min | 1:1,37 | f | 22. November 1944

3.11.44

The Woman in the Window (Fritz Lang, 1944)

Gefährliche Begegnung

Ein schwarzes Traumspiel: »Some Psychological Aspects of Homicide« heißt der Vortrag, den Richard Wanley (Edward G. Robinson) zu Beginn des Films am New Yorker Gotham College hält. Später, nachdem er Frau und Kinder in den Sommerurlaub verabschiedet hat, verbringt er einen beschaulichen Klubabend mit zwei Bekannten: Psychologe, Arzt und Staatsanwalt sprechen über das Altern, über »the end of brightness of life, the end of spirit and adventure«. Aber endet das Leben wirklich mit 40? Im Schaufenster der Kunsthandlung neben dem Klub erblickt Wanley das Bildnis einer Frau: »Extraordinary portrait, extraordinary woman, too.« Während der Betrachter das Gemälde versonnen-begehrlich studiert, erscheint in der Scheibe ein Spiegelbild, das der Gemalten überraschend ähnlich sieht: Das Glücksversprechen scheint lebendig geworden zu sein. Wanley folgt dem leibhaften Sirenenruf des Abenteuers, läßt sich von Alice Reed (Joan Bennett) Champagner servieren, beäugt die Brustwarzen des dream girls unter dem durchsichtigem schwarzen Stoff ihres Kleides. Unversehens verkehrt Fritz Lang den Traum in einen Alptraum: ein anderer Mann, eine wütende Attacke, verzweifelte Gegenwehr. Der Angegriffene sticht mit einer Schere zu, der Eindringling bricht tot zusammen. Statt der Erfüllung geheimer Sehnsüchte erlebt Wanley die Materialisation seiner schlimmsten Ängste. Mit sarkastischer Lakonie schildert »The Woman in the Window« die (einigermaßen stümperhaften) Versuche des erbarmungswürdigen Helden, seine Tat zu vertuschen, Spuren zu beseitigen, seine bürgerliche Existenz zu retten, sich aus Schuld und Verantwortung zu winden. Das Auftauchen eines gierigen Erpressers (Dan Duryea) ist für den Gehetzten schließlich zuviel: »I am too tired.« Indem er den Traumtänzer aus der Ausweglosigkeit seiner nächtlichen Fantasie zurück in die Wirklichkeit stürzen läßt, verwandelt Lang die absurde Tragödie zu guter Letzt in eine makabre Komödie: »It's 10:30, sir.«

R Fritz Lang B Nunnally Johnson V J. H. Wallis K Milton Krasner M Arthur Lange A Duncan Kramer S Marjorie Johnson P Nunnally Johnson D Edward G. Robinson, Joan Bennett, Dan Duryea, Raymond Massey, Edmond Breon | USA | 99 min | 1:1,37 | sw | 3. November 1944

# 932 | 12. Januar 2015