23.11.48

Der Apfel ist ab (Helmut Käutner, 1948)

»Oh jemine, oh homine, / Wärst du doch sapiens gewesen.« Ein Mann, der sich nicht zwischen zwei Frauen entscheiden kann: hier die reine, dort die verführerische, die eine blond, die andere brünett. Apfelsafthersteller Adam Schmidt (Bobby Todd), von den Alternativen zerrissen, verzweifelt über sein Dilemma, denkt an Selbstmord. In der Nervenklinik von Professor Petri wird ihm erklärt, die ganze Welt sei krank, und jeder Einzelne trüge daran Schuld. Entgiftung und Selbsterziehung stehen auf dem Programm des Mediziners: Erst wenn der Mensch genäse, könne auch die Zeit wieder in den Takt kommen … Es ist eine sonderbare Chimäre, die Helmut Käutner in seiner filmischen Retorte erzeugt – das Studio als Laboratorium, wo Kabarett und Psychotherapie, Revue und Zeitkritik, Quatsch und Mysterienspiel ungeniert verpanscht werden. Das Ergebnis ist eine aparte Mißgeburt, die ihren spezifischen Reiz allenfalls aus der Disparität der zusammengerührten Elemente gewinnt. In einer bizarren Traumsequenz, die surreale Kulissen und naive Puppentricks, jubelnde Engelsorgeln und teuflische Jazzarrangements bemüht, streift Adam durch Himmel (mit Käutner als vollbärtigem Petrus) und Hölle (wo Arno Assmann als frivoler Luzifer um Kundschaft buhlt), gelangt – man weiß, warum – vom Paradies auf die Erde, erlebt Genesis und Sündenfall als (mehr oder weniger lustiges) Tingeltangel. Adams Problem erfährt schließlich eine göttliche Lösung: Eva, das weiße Häschen (Bettina Moissi), und Lily, die schwarze Schlange (Joana Maria Gorvin), werden zu einem einzigen Wesen verquickt. Wer mag, darf in dieser symbolischen Verschmelzung von Gut und Böse (≈ von Links und Rechts, von Ost und West) so etwas wie die treuherzige Vorstellung eines dritten Weges erkennen, auf dem der gesundete Mensch seinem Glück entgegenwandern darf.

R Helmut Käutner B Helmut Käutner, Bobby Todd V Kurd E. Heyne, Helmut Käutner, Bobby Todd K Igor Oberberg M Bernhard Eichhorn A Gerhard Ladner, Wolfgang Znamenacek S Wolfgang Wehrum P Helmut Käutner D Bobby Todd, Bettina Moissi, Joana Maria Gorvin, Helmut Käutner, Arno Assmann, Irene von Meyendorff | D (W) | 103 min | 1:1,37 | sw | 23. November 1948

# 881 | 15. Juni 2014

30.9.48

The Fallen Idol (Carol Reed, 1948)

Kleines Herz in Not 

»You know what happens to little boys who tell lies?« Ein elegantes Stadtpalais bietet den Schauplatz für ein (melo-)dramatisches Spiel um Geheimnis und Betrug, Mißtrauen und Vertuschung – gesehen aus der Perspektive eines 8jährigen Jungen. Phile (Bobby Henrey) wächst als Sohn des französischen Botschafters in London auf. Sein Held ist Baines, des Vaters Butler (Ralph Richardson), der aufregende Geschichten aus seinem früheren Leben in Afrika zu erzählen weiß: ein Hüter menschlicher Wärme in der kalten Welt der Erwachsenen. In Wirklichkeit hat Baines England nie verlassen; er lebt gefangen in der Ehe mit einer herrischen, alle Kindheitsängste inkarnierenden Frau (Sonia Dresdel) und träumt von der Freiheit an der Seite seiner feinfühligen Geliebten (Michèle Morgan). Phile wird in den Strudel der sich zuspitzenden Ereignisse gerissen, von den Großen instrumentalisiert, in ihre Täuschungsmanöver verwickelt, mal zum Mitspielen, mal zum Schweigen vergattert – bis er zwischen Lüge und Wahrheit die Orientierung verliert. »We make one another«, lautet einer der Kernsätze des Drehbuchs von Graham Greene, der keinen Zweifel daran läßt, daß die Menschen mit dieser Herausforderung heillos überfordert sind… Als Ermittler im nicht ausbleibenden Todesfall absolvieren Jack Hawkins und Bernard Lee knapp und sicher konturierte Kurzauftritte; Carol Reed inszeniert sein erstklassiges Ensemble mit gelassener Perfektion. Der eigentliche Star von »The Fallen Idol« ist indes Victor Kordas barock-labyrinthisches Bühnenbild, dessen luxuriös-triste Atmosphäre von Georges Périnal kongenial in verkantete, tiefenscharfe Bilder voller starker Kontraste gefaßt wird. PS: »Shall I tell you a secret?«

R Carol Reed B Graham Greene V Graham Greene K Georges Périnal M William Alwyn A Vincent Korda S Oswald Hafenrichter P Carol Reed, Alexander Korda D Ralph Richardson, Michèle Morgan, Sonia Dresdel, Bobby Henrey, Jack Hawkins | UK | 95 min | 1:1,37 | sw | 30. September 1948

6.9.48

The Red Shoes (Michael Powell & Emeric Pressburger, 1948)

Die roten Schuhe 

»Put on your red shoes and dance.« Michael Powell und Emeric Pressburger verlängern Hans Christian Andersens Märchen über ein Paar roter Schuhe, die nicht mehr aufhören wollen zu tanzen und ihre Trägerin in den Tod befördern, in die synthetische Wirklichkeit ihrer melodramatischen Kinoerzählung: Es geht um die Relation von Kunst und Leben, und es geht um die Macht der Liebe, die – je nach Auffassung – das Fundament für alles Menschenwerk legt oder jeden Schöpfungsimpuls per se entweiht. Der mephistophelische Impressario Boris Lermontov (»Life is so unimportant.« – Adolf Wohlbrück), der Ballett nicht nur als »poetry of motion« betrachtet, sondern wie eine Religion zelebriert, entdeckt für seine weltberühmte Compagnie die vielversprechende Tänzerin Vicky Page (Moira Shearer). Er will sie zur Primaballerina formen und verlangt von ihr Entsagung (gegen das Leben) und Hingabe (an die Kunst) zugleich. Auf seine Frage: »What do you want from life? To live?« antwortet sie: »To dance.« Der Meister ist's zufrieden, sieht sich jedoch ent- und getäuscht, als Gefühle ins Spiel kommen, die seine Kreation an einen jungen Komponisten (Marius Goring) binden – und schließlich ins Unglück stürzen (= tanzen) lassen … »The Red Shoes« versammelt (neben der britischen Tänzerin Moira Shearer in der tragischen Hauptrolle) mit Léonide Massine, dem einstigen Chef-Choreographen der Ballets Russes, Robert Helpmann, der mit der Pavlova und Margot Fonteyn auftrat, und Ludmilla Tchérina, die von Serge Lifar entdeckt wurde, eine Reihe von Ballettgöttern seiner Zeit. Darsteller, die ihren eigenen Mythos einbringen, Jack Cardiffs dynamische Technicolor-Kamera, Hein Heckroths surrealistisch inspirierte Bühnenbilder, der romantische Score von Brian Easdale und (nicht zuletzt) die barocke Leidenschaft der Archers für das Milieu, in dem sie ihre Kunstbetrachtung an siedeln, schaffen eine »Poesie der Bewegung«, deren lyrischer Zauber jeder Mode trotzen wird.

R Michael Powell, Emeric Pressburger B Michael Powell, Emeric Pressburger V Hans Christian Andersen K Jack Cardiff M Brian Easdale A Hein Heckroth S Reginald Mills P Michael Powell, Emeric Pressburger D Moira Shearer, Anton Walbrook (=Adolf Wohlbrück), Marius Goring, Robert Helpmann, Léonide Massine | UK | 133 min | 1:1,37 | f | 6. September 1948

28.8.48

Rope (Alfred Hitchcock, 1948)

Cocktail für eine Leiche

Im Bewußtsein ihrer geistigen Überlegenheit erwürgen die Freunde Brandon (John Dall) und Phillip (Farley Granger) einen ehemaligen Kommilitonen: »Nobody commits a murder just for the experiment of committing it. Nobody except us.« Das Konzept des Übermenschen à la Nietzsche wird im Verlauf der sich an die Tat anschließenden Cocktailparty (zu Gast ist auch der Vater des Toten) direkt verhandelt, aber Alfred Hitchcock, der noch nie ein spezifisches Interesse für Thesenstücke zeigte, nutzt das Drama (das einen realen Fall aus den 1920er Jahren variiert) in erster Linie als Anlaß für eine inszenatorische Etüde über die Einheit von Zeit, Ort und Handlung. Die ehrgeizige Idee, »Rope« als eine einzige, ununterbrochene Einstellung (in einem Apartment mit Blick über die langsam ins Dunkel der Nacht sinkende Stadt) zu gestalten, erweist sich als ziemlich forciert, zumal die harten Schnitte des Films unsichtbarer sind als die sogenannten unsichtbaren Bildübergänge zwischen den einzelnen Rollen – paradoxerweise betont der Verzicht auf die Mittel der Montage die selbstzweckhafte Künstlichkeit des Dargebotenen. Süffisante Dialoge (»Do you know when I was a girl I used to read quite a bit.« – »We all do strange things in our childhood.«) und eine eindrucksvolle Performance von James Stewart (als intellektuell mißbrauchter Mentor der Mordbuben) verkürzen die Wartezeit bis zum Eintreffen der Polizei. PS: Die für das Jahr 1948 ungewöhnliche Präsenz eines schwulen Paares auf der Leinwand wird vermutlich durch den Umstand gerechtfertigt, daß es sich um psychopathische (dabei tadellos gekleidete) Kriminelle handelt.

R Alfred Hitchcock B Arthur Laurents, Hume Cronyn V Patrick Hamilton K Joseph Valentine, William V. Skall M diverse A Perry Ferguson Ko Adrian S William H. Ziegler P Alfred Hitchcock, Sidney Bernstein D James Stewart, John Dall, Farley Granger, Cedric Hardwicke, Edith Evanson | USA | 80 min | 1:1,37 | f | 28. August 1948

20.8.48

A Foreign Affair (Billy Wilder, 1948)

Eine auswärtige Affäre

»Amidst the ruins of Berlin / Trees are in bloom as they have never been.« Billy Wilders böse Komödie aus den Gründerjahren der deutsch-amerikanischen Freundschaft handelt über eine politisch-militärisch-private Dreieckgeschichte in den Ruinen von Berlin: Da ist die spröde republikanische Congresswoman Phoebe Frost (!) (Jean Arthur), die die ethische Konstitution der US-Besatzungstruppen scharf unter die Lupe nehmen will, da ist der scheinbar so adrette Captain John Pringle (John Lund), der einen reichlich erweiterten Moralbegriff hat, und da ist die magnetische Diseuse Erika von Schlütow (mit der Betonung auf ›von‹) (Marlene Dietrich), die sich mit Uniformträgern aller Couleur gut stand und steht. Es geht um Liebe (was man nach einem verlorenen bzw. gewonnenen Krieg halt so Liebe nennt), Schwarzmarkt (»Laces for the missis, chewing gum for kisses.«) sowie historische Altlasten (und deren (versuchte) Entsorgung). Nachdem die Protagonisten über das breite Trümmerfeld zwischen Tugend und Laster gestolpert sind, kriegen sie am Ende ihres (Erkenntnis-)Weges vom illusionslosen Wilder (der ein gewisses Maß an Unsittlichkeit der Bigotterie stets vorzieht) allesamt das, was sie verdienen. PS: Friedrich Hollaender steuert drei tolle Chansons für Marlene bei (und begleitet höchstselbst am Klavier).

R Billy Wilder B Billy Wilder, Charles Brackett K Charles Lang M Friedrich Hollaender A Hans Dreier, Walter Tyler S Doane Harrison P Charles Brackett D Jean Arthur, Marlene Dietrich, John Lund, Millard Mitchell, Peter von Zerneck | USA | 116 min | 1:1,37 | sw | 20. August 1948

16.7.48

Key Largo (John Huston, 1948)

Gangster in Key Largo

Die Handlung des Films – Kriminelle halten die Bewohner eines Florida-Hotels in Schach – basiert auf einem Bühnenstück, und John Hustons Inszenierung fühlt sich entsprechend stagy an. Der Magnetismus zwischen Humprey Bogart (als desillusionierter Ex-Offizier) und Lauren Bacall (als junge Witwe) ist zwar nicht ganz so ausgeprägt wie bei früheren Gelegenheiten, aber Edward G. Robinson als altgewordener Mobster Johnny Rocco und Claire Trevor als seine alkoholische Geliebte liefern vollreife Leistungen. In der besten Szene des Films zwingt Rocco, seine um einen Drink bettelnde Freundin für Whisky zu singen – eine gnadenlos-peinliche Infamie und genau der Moment, in dem sich der gebrochene Bogey-Charakter endlich zum Widerstand entschließt.

R John Huston B Richard Brooks, John Huston V Maxwell Anderson K Karl Freund M Max Steiner A Leo K. Kuter S Rudie Fehr P Jerry Wald D Humphrey Bogart, Edward G. Robinson, Lauren Bacall, Lionel Barrymore, Claire Trevor | USA | 100 min | 1:1,37 | sw | 16. Juli 1948

9.7.48

Grube Morgenrot (Erich Freund & Wolfgang Schleif, 1948)

Es weht noch viel Ufa-Flair durch die Inszenierung des ersten Defa-Films, der sich ganz der Schilderung von Proletarierschicksalen verschreibt – rhetorisches Pathos, idealisierende Kameraarbeit und schmetternde Musikbegleitung werden auch nach der historischen Katastrophe ganz selbstverständlich zum Einsatz gebracht. Das Stück selbst kündet indes von einer neuen Zeit. Es beginnt kurz nach dem Krieg, in der arg ramponierten Grube Morgenrot im Erzgebirge: Arbeiter übernehmen das Regiment – und erinnern sich an die (kurze) Zeitspanne, als sie schon einmal Grubenherren waren. 1931, während der Weltwirtschaftkrise, hatten die Bergleute den (damals unwirtschaftlichen) Betrieb von den Zechenbesitzern geschenkt bekommen (und nach 71 Tagen wieder verloren) … Den Regisseuren Erich Freund und Wolfgang Schleif (der sein Handwerk als Cutter und Assistent von Veit Harlan lernte) gelingt es, trotz gelegentlicher Phraseologie, sehr überzeugend, die harten Lebens- und Arbeitsbedingungen der Kumpel und den verzweifelten, ja selbstmörderischen Kampf der Hauer, Stößer, Schrämer gegen die Schließung ihres Bergwerks, gegen die Vernichtung ihrer Existenz anschaulich zu gestalten. Zentralfigur der (auf tatsächlichen Ereignissen beruhenden) Erzählung ist ein junger Steiger (Claus Holm), der als einziger darauf beharrt, daß es nur besser werden kann, wenn sich die (Besitz-)Verhältnisse insgesamt ändern, wenn Rentabilität und Sicherheit keinen Widerspruch mehr darstellen. Am Ende darf er mahnend aber zukunftsfroh verkünden: »Arbeiten müssen wir mehr denn je, denn ihr wißt ja, was heute die Kohle bedeutet. Für uns bedeutet sie Schweiß und Brot, für unser Volk Arbeit und besseres Leben, und daß sie Frieden bedeutet, das soll unser aller Sorge sein.«

R Erich Freund, Wolfgang Schleif B Joachim Barckhausen, Alexander Graf Stenbock-Fermor K Ernst Wilhelm Fiedler M Wolfgang Zeller A Franz F. Fürst S Hermann Ludwig P Adolf Hannemann D Claus Holm, Karl Hellmer, Arno Paulsen, Gisela Trowe, Lotte Loebinger | D (O) | 88 min | 1:1,37 | sw | 9. Juli 1948

11.6.48

The Pirate (Vincente Minnelli, 1948)

Der Pirat 

»There’s a pirate known to fame / Black Macoco was the pirate’s name.« Ein fahrender Schauspieler («It's hard to kill an actor.« – Gene Kelly), der vorgibt ein berüchtigter Seeräuber zu sein; ein einst berüchtigter Seeräuber (»The sound of my name was like thunder rolling in from the sea!« – Walter Slezak), der vorgibt, ein wohlhabender Ehrenmann zu sein; dazwischen Judy Garland (»Underneath this prim exterior, there are depths of emotion, romantic longings, unfulfilled dreams.«), die sich danach sehnt, von einem berüchtigten Seeräuber aus der gepflegten Langeweile ihrer Mädchenjahre erlöst zu werden. Mit allem, was MGM an Talent (Songs: Cole Porter / Technicolor-Kamera: Harry Stradling / Bauten: Jack Martin Smith / Kostüme: Irene) auf die Leinwand knallen konnte, phantasiert Vincente Minnelli nach der Devise »more is more« ein hochparodistisches, extravagant ausstaffiertes, karibisch-romantisches Swashbuckler-Musical zusammen, das in hermetischer Irrealität und budenzauberhaftem overstatement die Wechselwirkung von Tatsachen und Wunschbildern ausmalt. »And I’m ›loco‹ for Mack, Mack / Mack the Black, Macoco!«

R Vincente Minnelli B Albert Hackett, Frances Goodrich V S. N. Behrman K Harry Stradling M diverse A Cedric Gibbons, Jack Martin Smith S Blanche Sewell P Arthur Freed D Judy Garland, Gene Kelly, Walter Slezak, Gladys Cooper, George Zucco | USA | 102 min | 1:1,37 | f | 11. Juni 1948

1.5.48

Berlin Express (Jacques Tourneur, 1948)

Berlin-Express

Eine Eisenbahnfahrt von Paris nach Berlin kurz nach dem Zweiten Weltkrieg: Im Zug sitzen ein Amerikaner (patent: Robert Ryan), ein Brite, ein Franzose, ein Russe, ein Deutscher und eine polyglotte Sekretärin (stylisch: Merle Oberon). Set-up und Handlung – im Mittelpunkt steht ein Repräsentant des besseren Deutschland (geistesadlig: Paul Lukas), dem verschlagene Nazi-Untergründler an den Kragen wollen, was die Vertreter der Alliierten zu verhindern suchen – wirken ein wenig schematisch; die aus der Erzählung sprießenden Blütenträume von der Versöhnung der Ideologien und der staatlichen Vereinigung der geschlagenen, in Besatzungszonen zerteilten deutschen Nation erscheinen, eingedenk der weiteren historischen Entwicklung (kaum zwei Monate nach der Premiere des Films werden die Sowjets die Blockade über Westberlin verhängen) einigermaßen naiv. Die Inszenierung allerdings beweist Sinn für die unwirkliche Atmosphäre der Ruinenlandschaften (anders als der Titel vermuten läßt, spielt »Berlin Express« hauptsächlich in Frankfurt am Main), und die eindrücklichen Bilder der zerstörten Städte (Kamera: Lucien Ballard) machen Jacques Tourneurs politisch grundierten film noir zu einem wertvollen Dokument der Trümmersteinzeit.

R Jacques Tourneur B Harold Medford, Curt Siodmak K Lucien Ballard M Friedrich Hollaender A Albert S. D’Agostino S Sherman Todd P Bert Granet D Robert Ryan, Merle Oberon, Charles Korvin, Paul Lukas, Robert Coote | USA | 87 min | 1:1,37 | sw | 1. Mai 1948

3.4.48

The Emperor Waltz (Billy Wilder, 1948)

Kaiserwalzer

»Ich küsse Ihre Hand, Madame / und träum’, es wär’ Ihr Hund.« Äh … nein, genau umgekehrt. Oder doch nicht? Billy Wilders technicolorierte Promenadenmischung aus Musical, Romcom und Tierfilm beschreibt einen schmalzig-bizarren clash of civilizations im Wien der ausgehenden Kaiserzeit: Der amerikanische Grammophon-Vertreter Virgil Smith (Bing Crosby) verliebt sich in die österreichische Gräfin Johanna von Stolz(!)enburg-Stolz(!!)enburg (Joan Fontaine), die natürlich (zunächst) nichts, aber auch gar nichts von dem dahergelaufenen Handelsreisenden zu wissen wünscht. Erst die nichtebenbürtige Zuneigung ihrer Köter – ›Buttons‹ (proletarischer US-Mischling) und ›Helena‹ (aristokratische Großpudeldame) – verkündet das baldige Fallen der Klassenschranken. Es scheint, als würde Wilder im Jahre 1948 alle Platitüden der kommenden Heimat- und Sissi-Filme hellseherisch verspotten: Mit »The Emperor Waltz« empfiehlt er sich als Trivial-Lubitsch und liefert Kitsch as Kitsch can durch die parodistische Hintertür. PS: Grandioser Auftritt von Sig Ruman als Hofveterinär Dr. Zwieback (Studienkollege von Sigmund Freud), der seinen kläffenden Patienten die Geheimnisse ihrer tierischen Seelen entlockt.

R Billy Wilder B Billy Wilder, Charles Brackett K George Barnes M Victor Young A Hans Dreier, Franz Bachelin S Doane Harrison P Charles Brackett D Bing Crosby, Joan Fontaine, Roland Culver, Lucille Watson, Sig Ruman | USA | 106 min | 1:1,37 | f | 3. April 1948

13.2.48

Call Northside 777 (Henry Hathaway, 1948)

Kennwort 777

»What’s the matter, won’t the pieces fit together?« Einmal mehr nutzt Henry Hathaway semidokumentarische Gestaltungsmittel, um eine Geschichte aus dem wahren Leben in ein kühles Noir-Drama zu verwandeln. Elf Jahre nach der Verurteilung von Frank Wiecek (Richard Conte) wegen Polizistenmordes bietet die Mutter des vermeintlichen Täters per Zeitungsannonce demjenigen 5.000 Dollar, der die Unschuld ihres Sohnes beweist. P. J. McNeal (James Stewart), Reporter der ›Chicago Times‹, wird von seinem Chefredakteur (Lee J. Cobb) auf die Spur des Falles gesetzt. Der mit allen journalistischen Wassern gewaschene Skeptiker sieht zunächst lediglich eine (in wilden Prohibitionszeiten wurzelnde) human-interest story, stößt jedoch bald schon – im nagenden Widerspruch zur eigenen (= vorgefaßten) Meinung – in Akten und Archivalien auf diverse Ungereimtheiten, die ihn schließlich von der Unsauberkeit des Verfahrens überzeugen. Hathaway dreht nicht nur an Originalschauplätzen (in den proletarisch-pittoresken polnischen Vierteln von Chicago), er bringt auch modernste Technik wie Funkbildübertragung und den Lügendetektor (vorgestellt und bedient von seinem Erfinder Leonarde Keeler) erzählerisch zum Einsatz, um das kriminalistische Puzzle filmisch wirkungsvoll zusammenzusetzen. Am Ende steht, neben einer Apologie der (späten) Gerechtigkeit und der Selbstheilungskräfte des Systems, die Erkenntnis, daß die Teile des Ganzen nie ein falsches Bild ergeben – sofern sie aus der richtigen Perspektive betrachtet werden.

R Henry Hathaway B Jerome Cady, Jay Dratler, Leonard Hoffman, Quentin Reynolds V James P. McGuire K Joseph MacDonald M Alfred Newman A Lyle R. Wheeler, Mark-Lee Kirk Ko Kay Nelson S J. Watson Webb Jr. P Otto Lang D James Stewart, Lee J. Cobb, Richard Conte, Helen Walker, Kasia Orzazewski | USA | 112 min | 1:1,37 | sw | 13. Februar 1948

# 1185 | 5. Januar 2020

24.1.48

Film ohne Titel (Rudolf Jugert, 1948)

Ein Drehbuchautor, ein Regisseur und ein Schauspieler (Willy Fritsch als er selbst) sitzen vor einer Laube und denken nach: über einen gemeinsamen Film, ihren ersten nach der »Stunde Null«. Jeder von ihnen weiß genau, was er nicht will: Kein Trümmerfilm soll es sein, kein Heimkehrerfilm, kein Anti-Nazifilm (»Das wäre ja auch taktlos.«), kein politischer Film, kein Bombenfilm, überhaupt kein Film für oder gegen etwas. »Was für ein Film soll es denn nun aber sein?« Vielleicht ein Film über das glückliche Paar, das gerade vorbeispaziert ist. Der Autor kennt ihre Geschichte: Im ersten Teil verschlägt es Christine Fleming (Hildegard Knef), eine agile Bauerntochter aus dem Niedersächsischen, kurz vor Kriegsende als Dienstmädchen nach Berlin, in den großbürgerlichen Haushalt des Antiquitätenhändlers Martin Delius (Hans Söhnker), eines Feingeistes, der alles Störende (Fliegeralarm, Gefühle) mit stoischem Gleichmut auszublenden pflegt; sie verlieben sich, aber die gesellschaftlichen Umstände stehen zwischen ihnen; im zweiten Teil verschlägt es Martin kurz nach Kriegsende in das kleine Dorf, wo Christine nun wieder bei Vater und Mutter lebt; sie lieben sich immer noch, aber der wohlhabende Hofbesitzer wünscht sich für seine Tochter etwas Besseres als einen abgerissenen Flüchtling, der alles verloren hat; es gilt ein Liebesverbot mit umgekehrten Vorzeichen – zunächst … Helmut Käutner (Produktion und Drehbuch) und Rudolf Jugert (Regie) nutzen die reziproke Fish-out-of-water-Romanze, um mit den erzählerischen Möglichkeiten des Stoffes zu jonglieren, um denkbare Szenarien und Kinoklischees durchzuspielen, vom pathetischen Melodram über zeitkritische Sachlichkeit bis zur heimatseligen Komödie. Indem alle Optionen verworfen werden, gelingt die Quadratur des Kreises, und es entsteht der »Film ohne Titel«: »eine Komödie, die mit beiden Beinen auf der Erde steht, vor dem düsteren Hintergrund der Zeit«.

R Rudolf Jugert B Helmut Käutner, Ellen Fechner, Rudolf Jugert K Igor Oberberg M Bernhard Eichhorn A Robert Herlth S Wolfgang Wehrum, Luise Dreyer-Sachsenberg P Helmut Käutner D Hans Söhnker, Hildegard Knef, Irene von Meyendorff, Willy Fritsch, Fritz Odemar, Peter Hamel | D (W) | 99 min | 1:1,37 | sw | 24. Januar 1948

# 875 | 8. Juni 2014