22.12.65

Doctor Zhivago (David Lean, 1965)

Doktor Schiwago

»This is an awful time to be alive.« Ein Mann zwischen zwei Frauen – und als wäre das nicht schon kompliziert genug, müssen die drei Protagonisten der ausschweifenden Erzählung sich auch noch (in verschiedenen Kombinationen) durch Weltbrand, Revolution und Bürgerkrieg schlagen: Jurij (Omar Sharif) schaut glutvoll, Lara (Julie Christie) schaut sehnsüchtig, Tonya (Geraldine Chaplin) schaut tapfer aus der epochalen Wäsche. David Lean bestreicht die russischen Weiten mit Blut und Schmalz und Tränen, Maurice Jarre läßt die Balalaikas flirren, Freddie Young träumt in Panavision von Steppe und Wäldern und Eis. Das Alte stirbt in epischer Breite, das Neue wird unter Schmerzen geboren, der (und die) Einzelne geht verloren im Zeitalter der (roten) Massen – aber im Frühjahr blühen wieder (leuchtend gelb) die Narzissen …

R David Lean B Robert Bolt V Boris Pasternak K Freddie Young M Maurice Jarre A John Box S Norman Savage P Carlo Ponti D Omar Sharif, Julie Christie, Geraldine Chaplin, Rod Steiger, Alec Guinness | USA & I | 197 min | 1:2,20 | f | 22. Dezember 1965

17.12.65

Der unheimliche Mönch (Harald Reinl, 1965)

»Er war ein Verbrecher, aber er muß sie sehr geliebt haben.« Ein Schloß des Schreckens und eine Familie im Streit, ein verschwundenes Testament und eine hübsche Erbin in Gefahr, ein Unschuldiger im Gefängnis und ein Kuttenträger mit Peitsche, ein allzu serviler Diener und ein schrulliger Künstler im Turmstübchen, nebelige Nächte und trübe Tage, ungezügelte Triebe und verirrte Gefühle, Mädchenhandel und Totenmasken, Brieftauben und Fallgruben, Schrottplätze und Windmühlen, böse Onkels und schleimige Vettern, zufällig verbundene Handlungsstränge und ein Täter aus dem Hut. Fast scheint es, als wolle Harald Reinl mit seinem fünften Beitrag zu Reihe ein definitives Edgar-Wallace-Kompendium schaffen. Der Mörder trägt passenderweise den unscheinbarsten Rollennamen, und eine küchenpsycholgische Erläuterung der Motivation seines destruktiven Verhaltens gibt es auch: »Er muß in seiner Jugend einmal sehr enttäuscht worden sein. So empfand er nur Haß und Rache gegen alles Weibliche. Daher auch die symbolhafte Verkleidung als Mönch.« Danke, Dr. Reinl.

R Harald Reinl B J. Joachim Bartsch, Fred Denger V Edgar Wallace K Ernst W. Kalinke M Peter Thomas A Wilhelm Vorwerg, Walter Kutz S Jutta Hering P Horst Wendlandt D Harald Leipnitz, Karin Dor, Eddi Arent, Siegfried Schürenberg, Ilse Steppat | BRD | 85 min | 1:1,66 | sw | 17. Dezember 1965

# 796 | 11. November 2013

16.12.65

The Spy Who Came in from the Cold (Martin Ritt, 1965)

Der Spion, der aus der Kälte kam 

Die Atmosphäre ist grau, verregnet und alkoholisch: Richard Burton als Geheimagent, der glaubt, das Spiel zu spielen, aber nur wie eine beliebige Figur übers Brett geschoben wird. Spionage ohne Martinis, ohne Smokings, ohne Gadgets – die einzige Regel ist Nützlichkeit, und die Lizenz zu töten haben die anderen. Ein frostiger Film mit imposantem Cast: Claire Bloom als ehrliche Dumme, Cyril Cusack, Michael Hordern, Oskar Werner und Peter van Eyck als Lemuren des Kalten Krieges. Die Hoffnung, so sagt man, stirbt zuletzt. »The Spy Who Came in from the Cold« spielt anschließend.

R Martin Ritt B Paul Dehn, Guy Trosper V John le Carré K Oswald Morris M Sol Kaplan A Tambi Larsen, Hal Pereira S Anthony Harvey P Martin Ritt D Richard Burton, Claire Bloom, Cyril Cusack, Oskar Werner, Peter van Eyck | UK | 112 min | 1:1,85 | sw | 16. Dezember 1965

10.12.65

Viva Maria! (Louis Malle, 1965)

Viva Maria!

Umsturz und Froufrou: Höchst charmante Revolutionsoperette um zwei aufgerüschte Tingeltangel-Diseusen, die Anfang des 20. Jahrhunderts das darbende Volk einer lateinamerikanischen Bananenrepublik zum Aufstand führen. Wer Brigitte Bardot (Maria I) und Jeanne Moreau (Maria II) beim sexy Freiheitskampf zusieht, bekommt bald schon selber Lust, einmal ans Maschinengewehr zu treten, um schwitzenden Exploiteuren und ihren elenden Schergen gehörig eins vor den Latz zu knallen.

R Louis Malle B Louis Malle, Jean-Claude Carrière K Henri Decaë M Georges Delerue A Bernard Evein S Kenout Peltier, Suzanne Baron P Oscar Dancigers D Brigitte Bardot, Jeanne Moreau, George Hamilton, Gregor von Rezzori, Paulette Dubost | F & I | 120 min | 1:2,35 | f | 10. Dezember 1965

9.12.65

Thunderball (Terence Young, 1965)

James Bond 007 – Feuerball 

»His fight goes on and on and on.« James Bond (zu routiniert: Sean Connery) auf der Suche nach zwei in erpresserischer Absicht entführten NATO-Atomsprengköpfen. Die Spur führt ziemlich umweglos auf die Bahamas, wo der Doppelnull-Agent in schier endlose Unterwasserermittlungen verwickelt wird. Das Hirn des Bombnappings, SPECTREs ›Number Two‹ (Adolfo Celi), hat, trotz Augenklappe, Haifischbecken und Millionärsyacht, leider nur die Strahlkraft eines Hilfsteufels – wodurch der badeferienhaft-submarine Erzählrhythmus nicht eben an Dramatik gewinnt. So sorgen lediglich die Heimtücke von henchwoman Fiona Volpe (Luciana Paluzzi) sowie Ken Adams märchenhafte Konferenzraum-Architekturen (ultramodern-simplizistisch bei den Bösen, neobarock-monumental bei den Guten) für sporadische Aha-Effekte.

R Terence Young B Richard Maibaum, John Hopkins, Jack Whittingham V Ian Fleming, Kevin McClory, Jack Whittingham K Ted Moore M John Barry A Ken Adam S Peter Hunt P Kevin McClory, Albert R. Broccoli, Harry Saltzman D Sean Connery, Claudine Auger, Adolfo Celi, Luciana Paluzzi, Rik Van Nutter | UK | 130 min | 1:2,35 | f | 9. Dezember 1965

8.12.65

Fantômas se déchaîne (André Hunebelle, 1965)

Fantomas gegen Interpol

In der Maske der Unschuld schaut das Medium Kino zurück auf seine Kindertage, beschwört noch einmal die Welt der unterirdischen Gewölbe, wo geheimnisvolle Verschwörungen ausgeheckt werden, eine Welt, in der sich Holzbeine in Maschinenpistolen verwandeln und Autos in Flugzeuge. »Fantômas se déchaîne« – der zweite Teil des Serial-Aufgusses um den niederträchtigen Blaumann, den heroischen Reporter und den zappeligen Kommissar (der sich den Gegner verwandlungstechnisch zum Vorbild nimmt und nacheinander als Eisenbahnschaffner, italienischer General, Hoteldiener, Monsignore und Pirat auftritt) – wirkt naiv im unmittelbaren Sinne des Wortes: unbefangen und kindlich, ist dabei Lichtjahre entfernt vom formalen Modernismus der silbernen Sechziger (der nichtsdestoweniger spielerisch als Kulisse genutzt wird), zugleich durchdrungen vom Schwung einer Ära, die den Citroën DS erfindet, blind an die Zukunft glaubt und sich (beinahe) erfolgreich die eigene Arglosigkeit vorlügt. Die Innovation des Films liegt (wenn überhaupt) weder in der Erzählform, noch in Bildkomposition oder Montage sondern in der Verbindung von gnadenlosem Slapstick (ein weiterer Rückgriff auf die Frühzeit der Filmkunst) und gnadenlosem Verbrechen – es ist ein sehr subtiler Zynismus, der hier waltet. »Die Menschen«, heißt es in einem Film von Jean-Pierre Melville, »werden unschuldig geboren, aber sie bleiben es nicht.« Dieser Satz könnte auch für das Kino gelten. PS: »Fantômas, je te retrouverai, tu seras puni!«

R André Hunebelle B Jean Halain, Pierre Foucaud V Pierre Souvestre, Marcel Allain K Raymond Lemoigne M Michel Magne A Max Douy S Jean Feyte P Paul Cadéac, Alain Poiré D Jean Marais, Louis de Funès, Mylène Demongeot, Jacques Dynam, Robert Dalban | F & I | 94 min | 1:2,35 | f | 8. Dezember 1965

4.12.65

Les tribulations d’un Chinois en Chine (Philippe de Broca, 1965)

Die tollen Abenteuer des Monsieur L.

Jean-Paul Belmondo als poor little rich boy Arthur Lempereur, der von seinem sorgenfreien aber glücklosen Leben zu Tode gelangweilt ist und einfach nur sterben möchte. Weil alle Suizidversuche kläglich scheitern, beauftragt der Daseinsmüde einen wohlmeinenden Freund, die Vollstreckung seines letalen Wunsches zu organisieren. Just zu diesem Zeitpunkt verliebt sich Arthur in die hinreißende Alexandrine (Ursula Andress als unternehmungs­lustige Stripteasetänzerin) – wodurch sich dem Milliardär Wert und Sinn der menschlichen Existenz urplötzlich erschließen. Die nun folgende halsbrecherische Flucht (bzw. Jagd) vor (bzw. nach) den Killern, die ihn von seinem Seelenleiden befreien sollten, führt den Todeskandidaten – nebst taffer Flamme und würdevollem Butler Léon (Jean Rochefort) – von Hongkong nach Indien, hoch hinauf in den Himalaya und tief in den asiatischen Dschungel, hinaus aufs Meer zu tropi­schen Inseln und wieder zurück in den heimischen Hafen. Frei nach einem Roman von Jules Verne (und mit reichlich Anspielungen auf die gefahrvollen Abenteuer von Tim und Struppi versehen) entzündet de Philippe de Broca ein chinesisches Feuerwerk des tollkühnen Slapstick und der possenhaften Nervenkitzel, ohne allerdings die saloppe Leichtigkeit des brillanten Vorgängers »L’homme de Rio« noch einmal zu erreichen.

R Philippe de Broca B Daniel Boulanger V Jules Verne K Edmond Séchan M Georges Delerue A François de Lamothe S Françoise Javet P Georges Dancigers, Alexandre Mnouchkine D Jean-Paul Belmondo, Ursula Andress, Jean Rochefort, Valéry Ikijinoff, Mario David | F & | 104 min | 1:1,85 | f | 4. Dezember 1965

1.12.65

Io la conoscevo bene (Antonio Pietrangeli, 1965)

Ich habe sie gut gekannt

Sie heißt Adriana. Sie ist noch keine zwanzig. Sie lebt in einem Städtchen am Meer. Sie arbeitet in einem Frisiersalon. In der Mittagspause liegt sie in der Sonne. Sie träumt vom Abenteuer des süßen Lebens. Sie macht sich keine Gedanken. Sie hat einen schönen Körper. Sie ist fröhlich. Sie zieht nach Rom. Sie findet Beschäftigung als Komparsin, als Mannequin, als Hosteß. Sie geht auf Partys. Sie kann sich ein modernes Apartment leisten, ein kleines Auto, schicke Kleider und extravagante Perücken. Sie hört immerzu Schlager, aus dem Kofferradio und vom Plattenspieler. Die Schlager sprechen vom Glück, das sie erhofft, ohne zu wissen, wie es sich anfühlen könnte. Ihr Dasein zerfällt in flüchtige Momente, in folgenlose Begegnungen: mit einem Agenten, mit einem Gigolo, mit einem Fotografen, mit einem Boxer, mit einem Produzenten, mit einem Garagisten, mit einem Nachbarsjungen. Sie ist ohne Scheu. Sie wird benutzt. Sie bleibt alleine in der (Männer-)Welt. Ein Schriftsteller sagt über sie, sie möge jeden, sie sei immer zufrieden, sie wolle nichts, sie beneide niemanden, sie sei nicht neugierig, man könne sie nicht überraschen, ihr geschähen schlimme Dinge, ohne Spuren zu hinterlassen, sie habe keine Moral und keinen Ehrgeiz, sie sei keine Hure, denn Geld sei ihr egal, für sie existierten weder Vergangenheit noch Zukunft, sie lebe auch nicht von Tag zu Tag, denn das würde sie überfordern, sie lebe von Minute zu Minute, allzeit auf der Suche nach neuen, vorübergehenden Zusammentreffen, egal mit wem … Stefania Sandrelli spielt Adriana, das austauschbare It-Girl der besinnungslosen Konsumgesellschaft, die beschwingte Märtyrerin des demokratischen Materialismus. Adriana gibt alles, was sie hat; sie bekommt dafür nichts, was ihr bleibt. Antonio Pietrangeli erzählt keine Biographie; er setzt seine Protagonistin in Szene(n): jeder Auftritt so schön, so scheußlich, so eskapistisch, so abgrundtief, so falsch, so wahr, so ausdrucksvoll, so komprimiert wie ein Schlager.

R Antonio Pietrangeli B Antonio Pietrangeli, Ettore Scola, Ruggero Maccari K Armando Nannuzzi M Piero Piccioni A Maurizio Chiari S Franco Fraticelli P Turi Vasile, Luggi Waldleitner D Stefania Sandrelli, Jean-Claude Brialy, Nino Manfredi, Joachim Fuchsberger, Ugo Tognazzi, Franco Nero, Mario Adorf | I & F & BRD | 115 min | 1:1,85 | sw | 1. Dezember 1965

La decima vittima (Elio Petri, 1965)

Das zehnte Opfer

Zur Kanalisierung von Aggressionen, zur präventiven Abfuhr von Gewalt hat die Staatengemeinschaft ein weltweites Todesspiel initiiert: »Die große Jagd« ersetzt Verbrechen und Krieg. Zehnmal müssen die Teilnehmer antreten, immer abwechselnd als Jäger und Opfer. Wer alle Runden überlebt, erwirbt den Titel »Dekathlet« und eine Million Dollar als Siegesprämie. Elio Petris exzentrische Action-Satire führt von New York, wo Caroline Meredith (rassig: Ursula Andress) im »Club Masoch« souverän einen Jäger austrickst, nach Rom (die alte Heimat von »panem et circenses«), wo die Kandidatin ihr nächstes (zehntes = letztes) Opfer erledigen muß. Der lässige Latin Lover Marcello Poletti (blondiert: Marcello Mastroianni), selbst ein erfahrener Wettkämpfer, weiß sich freilich seiner Haut nonchalant zu wehren. »La decima vittima« befaßt sich hinlänglich mit den medialen Implikationen des modernen Gladiatorenkampfs: Caroline will ihren Gegner für »Ming Tea« im Tempel der Venus (!) abknallen, Marcello plant, seine Kontrahentin für »Cola 80« an ein Krokodil zu verfüttern – Töten als definitiver Werbegag. Letzten Endes tritt jedoch die Gesellschaftskritik zugunsten von dekorativ-futuristischen Op’n’Pop-Fantasien in den Hintergrund: Kostüm und Dekor scheinen Petri allemal wichtiger zu sein als Analyse und Reflexion – Töten als extravagante (von Gianni Di Venanzo delikat fotografierte) Modestrecke.

R Elio Petri B Tullio Pinnelli, Ennio Flaiano, Giorgio Salvioni, Elio Petri V Robert Shackley K Gianni Di Venanzo M Piero Piccioni A Piero Poletto S Ruggero Mastroianni P Carlo Ponti D Marcello Mastroianni, Ursula Andress, Elsa Martinelli, Massimo Serrato, Jacques Herlin | I & F | 96 min | 1:1,85 | f | 1. Dezember 1965

# 967 | 8. August 2015