26.12.46

Great Expectations (David Lean, 1946)

Geheimnisvolle Erbschaft

Mit David Leans komprimierter Adaption des voluminösen Bildungsromans von Charles Dickens wird Kino zur – visuell berückenden – Abfolge animierter Illustrationen: Die Geschichte vom armen, treuherzigen Waisenjungen Pip (Anthony Wager & John Mills), der ein Gentleman werden will, damit ihn die schöne, kalte Erbin Estella (Jean Simmons & Valerie Hobson) liebe, führt aus einsam-dörflicher Gegend in den hektischen Trubel der Metropole – nach den dunklen Landschaften der Angst, den engen Katen der Starrköpfigkeit, den heruntergekommenen Salons der Frustration öffen sich der Jahrmarkt der Möglichkeiten, die Ballnächte des Ehrgeizes, die Abgründe der Gefahr. »Great Expectations« – von John Bryan und William Shingleton so kunst- wie liebevoll ausgestattet, von Guy Green (schauer-)romantisch fotografiert – etabliert um das zentrale Paar ein skurriles Panoptikum präzise überzeichneter Charaktere, bietet damit Gelegenheit für eine ganze Reihe unvergeßlicher Darstellerleistungen: Francis L. Sullivan als monströs-nüchterner Anwalt Jaggers, Martita Hunt als bemitleidenswert-verbitterte alte Jungfer Miss Havisham, Finlay Currie als dämonisch-wohltätiger Kapitalverbrecher Abel Magwitch, Alec Guinness als liebenswürdig-honoriger Hallodri Herbert Pocket, Bernard Miles als linkisch-grundgütiger Schmied Joe Gargery. Leben präsentiert sich in diesem viktorianischen Zauberreich als Bündel selbstsüchtiger Hoffnungen, als Konglomerat falscher Interpretationen und ernüchternder Enthüllungen, die dem Irrenden letztlich den richtigen Weg weisen: Erst wenn die großen Erwartungen enttäuscht wurden, öffnet sich das Tor in eine glückliche Zukunft.

R David Lean B David Lean, Ronald Neame, Anthony Havelock-Allen, Kay Walsh, Cecil McGivern V Charles Dickens K Guy Green M Walter Goehr A John Bryan, William Shingleton S Jack Harris P Ronald Neame D John Mills, Valerie Hobson, Martita Hunt, Finlay Currie, Alec Guinness | UK | 118 min | 1:1,37 | sw | 26. Dezember 1946

18.12.46

Irgendwo in Berlin (Gerhard Lamprecht, 1946)

Die zerbombte Stadt als grenzenloser Abenteuerspielplatz: In den Ruinen spielen die Zehnjährigen das nach, was sie kennen, was sie erlebten: Krieg. Die Erziehungsberechtigten haben ausgedient, sind überfordert oder kriminell, im besten Falle wohlmeinend und doch wie gelähmt angesichts des Schlamassels, das sie angerichtet haben. Gerhard Lamprecht, der 15 Jahre zuvor Erich Kästners »Emil und die Detektive« adaptiert hatte, greift Motive des Klassikers auf, gibt Beispiele von jugendlicher Freundschaft und Solidarität. Aber eine konsistente Story ist in der Trümmerlandschaft mit ihren sittlichen Gefährdungen und tödlichen Gefahren nicht mehr zu erzählen: »Irgendwo in Berlin« reiht Episoden, setzt Schlaglichter, entwirft Portraitskizzen. Gustav erwartet sehnsüchtig die Rückkunft seines Vaters, der den zerstörten Garagenhof wiederaufbauen soll; der deprimierte Heimkehrer indes sieht keinen Sinn in einem Neuanfang; Gustavs Freund Willi hat Heimat und Eltern verloren, stromert durch die Schuttwüste, haust bei einer freundlich-besorgten Ladenbesitzerin, deren mieser Untermieter den Jungs Feuerwerk gegen Lebensmittel verkauft; ein traumatisierter Soldat steht reglos am Fenster, hält Wacht … Lamprecht scheut sich nicht, die Tränendrüsen zu massieren, um eine kathartische Wirkung zu erzielen: Der (dritte) Defa-Film schließt als gefühlsbetontes Pamphlet, mahnt pathetisch, es endlich besser zu machen, die geistige Lähmung zu überwinden, die destruktiven Energien in Kräfte für den Wiederaufbau umzupolen.

R Gerhard Lamprecht B Gerhard Lamprecht K Werner Krien M Erich Einegg A Otto Erdmann, Wilhelm Vorwerg S Lena Neumann P Georg Kiaup D Charles Knetschke (= Charles Brauer), Hans Trinkaus, Harry Hindemith, Paul Bildt, Fritz Rasp | D (O) | 85 min | 1:1,37 | sw | 18. Dezember 1946

3.12.46

My Darling Clementine (John Ford, 1946)

Faustrecht der Prärie

Tombstone – Stadt an der Scheidelinie zwischen Wildnis und Zivilisation, zwischen Naturzustand und Ordnung, zwischen zwei (rein männlichen) Familien: den Clantons und den Earps. »When ya pull a gun, kill a man«, mahnt Old Man Clanton (Walter Brennan als Exponent der Gesetzlosigkeit) seine mißratenen Söhne. Wyatt Earp (Henry Fonda) tritt mit seinen Brüdern an, die Herrschaft der Anarchie zu beenden, vorgeblich als Sachwalter in eigener Angelegenheit (der Jüngste des Clans wurde von der Gegenseite erschossen, das Vieh wurde geraubt), im Grunde als Vertreter eines höheren Prinzips (= des Rechts) zum Wohle der Gemeinschaft … John Ford (der historische Figuren benutzt, ohne sich um historische Korrektheit zu kümmern) zeichnet Tombstone (»Wide-awake, wide-open town. You can get anything you want there.«) als Mikrokosmos einer Gesellschaft zwischen Lust an ungezügelter Freiheit und Verlangen nach Übersichtlichkeit, als kleine, paradoxe Welt, halb Friedhof, halb Idyll. Von Joseph MacDonald mal in die hoffnungslose Düsternis der Nacht getaucht, dann wieder ins kristallklare Licht des Sonntagmorgens gesetzt, wechselt »My Darling Clementine« auch die erzählerischen Tonlagen umstandslos von derber Komik zu sentimentaler Schwermut, von lyrischer Heiterkeit zu unvermittelter Gewalttätigkeit. Die schillerndste Figur dieses hintergründigen Westerns vereint alle Gegensätze in einer Person: Doc Holliday (Victor Mature), tuberkulöser Revolverheld, saufgieriger Akademiker, empfindsamer Spieler, ein Mann, der frei sein will und Anschluß sucht, einer, der Shakespeare zitiert, der sich hinüberträumt in Hamlets »undiscovered country, from whose bourn / No traveller returns«. Für ihn gibt es letztlich keine Zukunft: Niemand kann auf beiden Seiten der Grenze stehen.

R John Ford B Samuel G. Engel, Winston Miller V Stuart N. Lake K Joseph MacDonald M Cyril Mockridge A James Basevi, Lyle Wheeler S Dorothy Spencer P Samuel G. Engel D Henry Fonda, Linda Darnell, Victore Mature, Cathy Downs, Walter Brennan | USA | 97 min | 1:1,37 | sw | 3. Dezember 1946

Les portes de la nuit (Marcel Carné, 1946)

Die Pforten der Nacht

»Les enfants qui s'aiment s'embrassent debout / contre les portes de la nuit.« Eine Nacht im langen, harten Winter, der auf den kurzen, wunderbaren Sommer der Befreiung von Paris folgt – zwischen Abenddämmerung und Morgengrauen begegnen sich vormalige Widerständler und saturierte Ex-Kollaborateure, kleine Leute und falsche Helden, ein verträumter Draufgänger (Yves Montand) und »la plus belle fille du monde« (Nathalie Nattier); ein allgegenwärtiger Straßensänger mit flachem Hut und schäbigem Mantel (Jean Vilar) macht das Versprechen der ganz großen Liebe und verkündet in gleichem Atemzug die Erfüllung des unentrinnbaren (= tödlichen) Schicksals … Marcel Carné (Regie) und Jacques Prévert (Drehbuch) versuchen den Spagat zwischen teilnehmend-präziser Beschreibung der schwierigen französischen Nachkriegswirklichkeit und melodramatischer Mystifikation; Alexandre Trau­ners poetisch überhöhte (Studio-)Bauten – eine quirlig belebte Métro-Station, ein archetypisches Mietshaus, ein verkramter Lagerschuppen, eine Brücke über den Kanal, einsame Straßen und Bahngleise am Gasometer – erschaffen ein theatralisches Kondensat urbaner (und menschlicher) Randzonen; Philippe Agostinis nachtfarbene Bilder beschwören die Schatten der Vergangenheit und die Unbestimmtheit der Zukunft; Joseph Kosmas Kompositionen schwelgen in der Sehnsucht nach einem fernen Glück, das so nah zu liegen scheint: hinter der Scheibe eines haltenden Automobils, hinter den Streben eines Gitters, in einem Lied, in einem Namen.

R Marcel Carné B Jacques Prévert K Philippe Agostini M Joseph Kosma A Alexandre Trauner S Jean Feyte P Raymond Borderie D Yves Montand, Nathalie Nattier, Pierre Brasseur, Serge Reggiani, Jean Vilar | F | 120 min | 1:1,37 | sw | 3. Dezember 1946

1.11.46

A Matter of Life and Death (Michael Powell & Emeric Pressburger, 1946)

Irrtum im Jenseits

»This is the story of two worlds …« Eine phantastische Romanze? Eine romantische Phantasie? Eine Beziehungskomödie zwischen Alter und Neuer Welt? Ein transatlantisches Melodram? Eine Reise vom (farbigen) Diesseits ins (schwarzweiße) Jenseits (und wieder zurück)? Eine Krankengeschichte? Ein Wunderbericht? Ein Gerichtsdrama? … In den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs gerät der englische Pilot Peter (David Niven) über dem Kanal in Lebensgefahr; kurz vor dem Absturz hat er Sprechkontakt zur amerikanischen Funkerin June (Kim Hunter) – zwei Stimmen treffen sich im Äther, verlieben sich in Hörweite des Todes. Der Flieger (der auch ein Dichter ist) überlebt den Absprung ohne Fallschirm (!) – und findet zu seinem Mädchen. Wieso ist Peter nicht tot? Hat der überirdische Conductor 71 (Marius Goring) im dichten Nebel am Unglücksort seine Zielperson verfehlt? Oder leidet der Davongekommene schlicht an Halluzinationen infolge einer schweren Geistesstörung? Powell und Pressburger halten ihr erstaunlich vielschichtiges Werk sorgsam in der Schwebe zwischen Leben und Tod, zwischen Materie und Metaphysik, zwischen Ewigkeit und Tagesaktualität; die Liebe, welche nimmer aufhört, ist ebenso Thema dieser barocken Vision wie die komplizierte special relationship zwischen England und Amerika: Alliierte, die einstmals autoritäres Mutterland und rebellierende Kolonie waren, Gleichgesinnte, die heute dieselbe und doch eine ganz andere Sprache sprechen. »A Matter of Life and Death« erzählt emphatisch und scharfsinnig (sowie visuell überaus erfindungsreich) von schicksalhaft Verbundenen, die sich kaum kennen und einander (vielleicht gerade darum) tief vertraut sind, die trotz aller Gegensätze nur gemeinsam eine Chance haben: »Love rules the court, the camp, the grove, and men below, and saints above; for love is heaven, and heaven is love.«

R Michael Powell, Emeric Pressburger B Michael Powell, Emeric Pressburger K Jack Cardiff M Allan Gray A Alfred Junge S Reginald Mills P Michael Powell, Emeric Pressburger D David Niven, Kim Hunter, Roger Livesey, Marius Goring, Raymond Massey | UK | 104 min | 1:1,37 | f | 1. November 1946

15.10.46

Die Mörder sind unter uns (Wolfgang Staudte, 1946)

Die Stunde Null, die keine ist. Schatten der schuldhaften Vergangenheit liegen über der zerstörten Stadt, über den geschlagenen Menschen. Ernst Wilhelm Borchert als Chirurg Dr. Mertens (= der Trübsinn) – ein Arzt, der kein Blut sehen kann, ein Mann, der über seine schlimmen Kriegserinnerungen zum Säufer wird. Hildegard Knef als junge KZ-Überlebende Susanne Wallner (= die Zuversicht), die dem gebrochenen Mediziner aufmunternde Stütze, gutes Gewissen, schließlich verständnisvolle Gefährtin ist. Der Mörder (einer stellvertretend für viele) erscheint als gemütlicher Dicker (Arno Paulsen), der als Wehrmachtsoffizier am Weihnachtsabend 1942 irgendwo im Osten ein Dorf ausradieren ließ. Nach Kriegsende ist Ferdinand Brückner (so heißt der joviale Unmensch) schnell wieder obenauf, verarbeitet Stahlhelme zu Kochtöpfen. Am Weihnachtsabend 1945 soll der Täter für seine Taten zur Rechenschaft gezogen werden ... Der erste deutsche Film nach der bedingungslosen Kapitulation, entstanden bei der sowjetisch lizensierten Defa. Wolfgang Staudte orientiert sich weniger am kargen Verismus des italienischen Nachkriegsfilms, eher an der delikaten Stimmungsmalerei des traditionellen Studiokinos. Nie (außer vielleicht in den Bombennächten) waren die Ruinen von Berlin so effektvoll illuminiert wie in diesem neoexpressionistischem Trümmermelodram, das auf die erzieherische Moral hinausläuft, nichts zu vergessen, aber stets auch hoffnungsvoll nach vorne zu schauen.

R
Wolfgang Staudte B Wolfgang Staudte K Friedl Behn-Grund, Eugen Klagemann M Ernst Roters A Otto Hunte, Bruno Monden S Hans Heinrich P Herbert Uhlich D Hildegard Knef, Ernst Wilhelm Borchert, Arno Paulsen, Erna Sellmer, Robert Forsch | D (O) | 90 min | 1:1,37 | sw | 15. Oktober 1946

10.10.46

So Dark the Night (Joseph H. Lewis, 1946)

»I don’t know which way to turn.« Henri Cassin, bester Mann der Pariser Sûreté, macht, von elf Jahren erfolgreicher Ermittlungsarbeit nervlich erschöpft, Urlaub auf dem Lande. Der Film beginnt possierlich-idyllisch, mit einem morgendlichen Abschiedsbummel durch die Metropole, gefolgt von einer leicht amüsierten Betrachtung des pittoresken Dorfes Ste. Margot, wo sich der brave Kriminalbeamte in Nanette, die hübsche Tochter des örtlichen Gastwirts, verguckt und seiner Flamme, ungeachtet ihrer Verlobung mit einem eifersüchtigen Landwirt, nachdrücklich den Hof macht. Doch unversehens verwandelt Regisseur Joseph H. Lewis (der eher mittelmäßige Darstellerleistungen souverän durch visuelle Stringenz ausgleicht) die friedvollen Ferien des Monsieur Cassin in einen düsteren Alptraum: Nanette wird erwürgt aufgefunden, kurz darauf auch ihr dringend tatverdächtiger Verlobter, es folgen krakelige Drohbriefe (»You will die next.«) und ein weiterer Mord. Der Kommissar aus der Hauptstadt, der natürlich umgehend die Suche nach dem Täter übernimmt, steht vor einem Rätsel: »The murderer is as elusive as my own shadow.« Bald offenbart sich, daß der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde in der französischen Provinz eine Wiederholung findet: »So Dark the Night« schildert das Schicksal eines zerrütteten Geistes, das Drama einer gespaltenen Persönlichkeit, die der ungläubig-entsetzten Mitwelt ihr eigenes Unglück überstülpt. Zuletzt gleicht die Mörderjagd (auch bildlich) einer erschütternden Selbstbegegnung: »Henri Cassin is no more. I caught him. I killed him.«

R Joseph H. Lewis B Martin Berkeley, Dwight Babcock V Aubrey Wisberg K Burnett Guffey M Hugo Friedhofer A Carl Anderson S Jerome Thoms P Ted Richmond D Steven Geray, Micheline Cheirel, Eugene Borden, Ann Codee, Gregory Gaye | USA | 71 min | 1:1,37 | sw | 10. Oktober 1946

# 1085 | 5. Dezember 2017

28.9.46

Cloak and Dagger (Fritz Lang, 1946)

Im Geheimdienst

»There was a time when I thought I wanted to be some kind of secret agent. I gave it up when I was eight.« Dennoch läßt sich der amerikanische Kernphysiker Alvah Jesper, von Gary Cooper mit kraftvollem Understatement gespielt, kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs überzeugen, in den Dienst des Office of Strategic Services einzutreten, um den Stand der großdeutschen Atom(bomben)forschung zu eruieren. Jespers Weg führt durch die (spionisch unterwanderte) Schweiz ins faschistische Italien, wo er nicht nur einen von braunen Schurken zur Mitarbeit gepreßten Wissenschaftler aufspürt, sondern auch der spröden Widerstandkämpferin Gina (Lilli Palmer) näherkommt; die (vom Produzenten geschnittene) Schlußetappe der Expedition hätte ihn das Herz der Finsternis, das unter Zurücklassung von zigtausend toten Zwangsarbeitern geräumte (mutmaßlich nach Südamerika verlegte) deutsche Nuklearlabor, entdecken lassen sollen ... Die Figur des geheimdienstlichen Laien erinnert an die unheldischen Helden der frühen Romane von Eric Ambler, Journalisten, Ingenieure, Geschäftsleute, die sich nolens volens in unübersichtlichen (und lebensgefährlicher) Umständen bewähren müssen. »The Dark Frontier«, »Uncommon Danger«, »Journey Into Fear« wären denn auch passende Titel für Fritz Langs (vierten und letzten) Anti-Nazi-Thriller, der seinen Protagonisten zumeist beobachtend, zuhörend, reagierend, in Momenten der Gefahr aber entschlossen handelnd zeigt: Mit der betont nüchtern gestalteten Szene des lautlosen Totmachens eines Verfolgers nimmt Lang gar die (ungleich kokettere) Darstellung eines ähnlichen Vorgangs in Alfred Hitchcocks vergleichbarem Amateuragentenstück »Torn Curtain« vorweg.

R Fritz Lang B Ring Lardner Jr., Albert Maltz, Boris Ingster, John Larkin V Corey Ford, Alastair MacBain K Sol Polito M Max Steiner A Max Parker S Christian Nyby P Milton Sperling D Gary Cooper, Lilli Palmer, Robert Alda, Vladimir Sokoloff, Marc Lawrence | USA | 106 min | 1:1,37 | sw | 28. September 1946

# 1112 | 18. Mai 2018

1.9.46

Unter den Brücken (Helmut Käutner, 1946)

»Auf der Brücke Tuledu / Gehn die Mädchen ab und zu.« Helmut Käutners dem Bombenkrieg abgetrotztes poetisch-realistisches Meisterwerk – eine hinreißende, zärtliche Dreiecksgeschichte, schwerelos und vollkommen ungekünstelt: zwei befreundete Binnenschiffer und eine Frau (Gustav Knuth, Carl Raddatz und Hannelore Schroth), eine bande à part im Gewoge der Liebe. Schauplätze sind die Havellandschaft – Flüsse, Seen, Kanäle, Wolken am weiten Himmel, flirrende Reflexe an Brückenbögen – und die Metropole Berlin: dunkle Wohnungen, enge Hinterhöfe, Ruderboote auf den Teichen im sonntäglichen Park … Eines Nachts an der Glienicker Brücke begegnen Willi und Henrik der jungen Anna, die mutterseelenallein am Geländer steht; beide verlieben sich in das feingliedrige Wesen, das widerstrebend zu ihnen auf den Schleppkahn steigt, um zurückzugelangen in die Stadt. Während sie, ein wenig verängstigt, den unbekannten Geräuschen lauscht, dem Wind im Schilf, dem Glucksen der Wellen am Schiffsrumpf, dem Knarren der Taue und des Ruders, denken die Männer schon weiter: »Wer mit ihr klarkommt, muß runter vom Kahn.« – »Ja, der müßte vom Kahn.« Trotz aller handfesten Probleme, die das Zueinander­finden mit sich bringt, unbeschadet der Konflikte, die sich zwischen den Kameraden entzünden, und auch wenn eine nette Gans dran glauben muß (»Gib Pfötchen, Vera!«), läßt Käutner das Schiff wie eine schwimmende Insel der Seligen erscheinen, wie ein Versprechen, daß Glück, gegen jede Wahrscheinlichkeit, möglich ist. »Wer mit ihr klarkommt, muß runter vom Kahn.« Wirklich? Am Ende bleiben die drei, wie sie sind: zu dritt – und der Kahn heißt nicht mehr ›Liese-Lotte‹ sondern ›Anna‹. »Da sprach da der Südwind / Muschemusch / Und langte in dein Haar.«

R Helmut Käutner B Helmut Käutner, Walter Ulbrich K Igor Oberberg M Bernhard Eichhorn A Anton Weber, Hans Ender S Wolfgang Wehrum P Walter Ulbrich D Carl Raddatz, Hannelore Schroth, Gustav Knuth, Margarete Haagen, Hildegard Knef | D (Überläufer) | 99 min | 1:1,37 | sw | 1. September 1946

28.8.46

The Killers (Robert Siodmak, 1946)

Rächer der Unterwelt

»I did something wrong … once.« In einem abgelegenen Kaff wird ein scheinbar unbescholtener Tankwart (Burt Lancaster als ›the Swede‹) von zwei sarkastischen Profikillern erschossen; seine Lebensversicherung hatte der schweigsame Fremde zugunsten einer Frau abgeschlossen, die sich der Person ihres Gönners kaum noch erinnert; ein skeptischer Assekuranzdetektiv (Edmond O’Brien) macht sich daran, die finsteren Hintergründe dieser rätselhaften Mordtat zu beleuchten … Im Laufe der komplexen Ermittlung (die aus zahlreichen Schilderungen eine fesselnd-multiperspektivische Rückblendenerzählung generiert) rollt »The Killers« nicht nur einen spektakulären Raubzug (gefilmt in einer großartigen Plansequenz) und ein niederträchtiges Gespinst von double- und triple-crossings auf – im Gewand einer artistisch-vertrackten crime story wird auch (und vor allem) ein verpfuschtes Leben geschildert, das geradezu folgerichtig in einem billigen Pensionszimmer endet. Inspiriert von einer Erzählung Ernest Hemingways, entwirft Robert Siodmak ein geschlossenes Noir-Universum, aus dem es kein Entkommen gibt: Alle Hintertüren führen auf die dunkle Straße des Verderbens. Neben Lancaster, dem intuitiv-treuherzigen Exboxer, der wegen einer gebrochenen Rechten (= einer gebrochenen Seele) auf die abschüssige Bahn gerät, schimmert die betörend-brünette Ava Gardner als verlockend-verhängnisvolle Sirene Kitty Collins in vielsagendem Schwarz: bald samten, bald aschig, sowohl (flüchtigen!) Gewinn verheißend als auch (sicheren!) Untergang bedeutend. PS: »There ain't anything to do.«

R Robert Siodmak B Anthony Veiller V Ernest Hemingway K Elwood Bredell M Miklós Rózsa A Mark Obzina, Jack Otterson S Arthur Hilton P Mark Hellinger D Burt Lancaster, Ava Gardner, Edmond O’Brien, Albert Dekker, Sam Levene | USA | 103 min | 1:1,37 | sw | 28. August 1946

23.8.46

The Big Sleep (Howard Hawks, 1946)

Tote schlafen fest

»Why did you have to go on?« – »Too many people told me to stop.« Humphrey Bogart als Privatdetektiv Philip Marlowe (»I collect blondes and bottles too.«), der von dem ebenso reichen wie maladen General Sternwood angeheuert wird, um in einem Fall von Erpressung zu ermitteln, und sich bald schon mit Ehebruch, Glücksspiel, Mord sowie den Fisimatenten der beiden schönen Töchter seines Auftraggebers konfrontiert sieht. Der Schauplatz Los Angeles erweist sich als labyrinthisches Treibhaus unguter Bande zwischen Upperclass und Unterwelt, die Nachforschungen ziehen immer weitere, immer dunklere Kreise, und fast scheint es so, als widerspiegele die verworrene Handlung mit schwarzer Boshaftigkeit die prinzipielle Unübersichtlichkeit des modernen Lebens. Wichtiger als die Entwicklung einer bis ins Detail nachvollziehbaren Story sind Regisseur Howard Hawks (wie wohl auch Raymond Chandler, dem Autor der Romanvorlage) jedoch ohnehin die Stimmigkeit der einzelnen Szenen, die lakonisch-bissigen Dialoge, die Beziehungen zwischen den Figuren, insbesondere zwischen dem eigensinnigen Marlowe und den taffen Frauen, auf die er trifft: Lauren Bacall und Martha Vickers als geheimnisvolle Sternwood-Schwestern, Dorothy Malone als gefällige Buchhändlerin, Sonia Darrin als naßforsche Ganovin. Ein straight inszeniertes Noir-Verwirrspiel mit nicht zu überhörenden Untertönen von Erotik und Ironie. »Your story didn’t sound quite right.« – »Oh, that's too bad. You got a better one?«

R Howard Hawks B William Faulkner, Leigh Brackett, Jules Furthman V Raymond Chandler K Sidney Hickox M Max Steiner A Carl Jules Weyl S Christian Nyby P Howard Hawks D Humphrey Bogart, Lauren Bacall, Martha Vickers, John Ridgely, Dorothy Malone, Elisha Cook Jr. | USA | 114 min | 1:1,37 | sw | 23. August 1946

# 986 | 1. März 2016

15.8.46

Notorious (Alfred Hitchcock, 1946)

Berüchtigt

»This is a very strange love affair.« Die sehr seltsame Liebesaffäre beginnt in Miami, Florida, um drei Uhr zwanzig nachmittags, am vierundzwanzigsten April des Jahres neunzehnhundertsechsundvierzig. Ein in den USA lebender Deutscher wird wegen Landesverrats zu zwanzig Jahren Haft verurteilt. Dem amerikanischen Agenten Devlin (Cary Grant) gelingt es, Alicia Huberman (Ingrid Bergman), leichtlebiges party girl und Tochter des Verräters, dafür zu gewinnen, einen nach Brasilien geflohenen Nazi-Freund ihres Vaters auszuforschen ... Die Spionagestory (in der unter anderem eine nicht mit 1934er Pommard sondern mit Uranerz gefüllte Weinflasche eine wichtige Rolle spielt) bildet die Folie für eine dramatisch-ironische Thriller-Romanze, deren suspense sich in erster Linie aus dem erotisch-angespannten Verhältnis zwischen Devlin und Alicia entwickelt: Er kann es nicht ertragen, sein Herz an ein Flittchen verloren zu haben, während sie von der Gefühlskälte des ersehnten Mannes ins Ehebett ihrer Zielperson getrieben wird. So gelingt Alfred Hitchcock mit »Notorious«, von Ted Tetzlaff in stilvollem Hochglanz-Noir fotografiert, eine komplex angelegte Studie menschlicher Beziehungen im Spannungsfeld von Liebe und Pflicht, Vertrauen und Betrug. Mit Madame Sebastian (Leopoldine Konstantin als eisige Matrone), deren Sohn Alex (Claude Rains als treuherziger Schurke) von Alicia observiert wird, eröffnet der Regisseur überdies seine Galerie markanter Mutterfiguren.

R Alfred Hitchcock B Ben Hecht K Ted Tetzlaff M Roy Webb A Carroll Clark, Albert S. D’Agostino Ko Edith Head S Theron Warth P Alfred Hitchcock D Ingrid Bergman, Cary Grant, Claude Rains, Leopoldine Konstantin, Louis Calhern, Reinhold Schünzel | USA | 101 min | 1:1,37 | sw | 15. August 1946

# 1044 | 14. Februar 2017

1.5.46

Cluny Brown (Ernst Lubitsch, 1946)

Cluny Brown auf Freiersfüßen

»Some people like to feed nuts to the squirrels. But if it makes you happy to feed squirrels to the nuts, who am I to say: ›Nuts to the squirrels‹?!« Ernst Lubitschs »Cluny Brown« ist eine nonchalante Verweigerung von »Erzählkino«, von Handlungsdruck, von Zuspitzung. »Cluny Brown« ist zärtliches Betrachten, neugieriges Belauschen, interessiertes Beschnuppern von Filmfiguren, die unter den Augen, den Ohren, dem Herzen ihres Erschaffers unversehens zu menschlichen Wesen werden: Cluny (Jennifer Jones), das naive Mädchen mit der bunten Phantasie, das leidenschaftlich gerne klempnert (auch zur Unzeit), Professor Belinsky (Charles Boyer), der exilierte Charmeur, dem jeder dankbar ist, wenn er ihm 20 Pfund leihen darf (später gerne mehr), Andrew (Peter Lawford), der schüchterne Idealist, der mit der Nase in sein Glück gestoßen werden muß (das gut zu Pferde sitzt), die unerschütterlichen Lords und ewiggärtnernden Ladies, die traditionsbewußten Butler und naserümpfenden Hausdamen, die pedantischen Apotheker und ihre mißbilligend hüstelnden Mütter, die allesamt das – latent kriegsbedrohte – Vorkriegsengland dieses Films bevölkern. Der Strippenzieher schickt seine geliebten Geschöpfe auf die Suche nach ihrem Platz im Leben, ermutigt sie inständig, das Richtige zum falschen Zeitpunkt zu tun. (Eichhörnchen für die Nüsse!) Lubitsch, ›the master of innuendo‹, wird nach dieser anmutigen Komödie kein weiteres Werk mehr vollenden – so ist »Cluny Brown« (man verzeihe das Pathos) auch das Vermächtnis eines großen Humanisten.

R Ernst Lubitsch B Samuel Hoffenstein, Elizabeth Reinhardt V Margery Sharp K Joseph LaShelle M Cyril Mockridge A J. Russell Spencer, Lyle Wheeler S Dorothy Spencer P Ernst Lubitsch D Charles Boyer, Jennifer Jones, Peter Lawford, Helen Walker, Reginald Owen | USA | 100 min | 1:1,37 | sw | 1. Mai 1946

9.4.46

The Dark Corner (Henry Hathaway, 1946)

Feind im Dunkel

»I feel all dead inside. I'm backed up in a dark corner, and I don't know who's hitting me.« Bradford Galt (Mark Stevens), ein New Yorker private eye, der ehedem von seinem Partner gelinkt wurde und, mehr oder weniger unschuldig, zwei Jahre im Knast abbüßte, will sich eigentlich nur ein kleines, ruhiges Schnüffelei-Geschäft in einem Bürohaus an der Hochbahn aufbauen – doch die Vergangenheit läßt ihn nicht los … Henry Hathaway verwickelt seinen Protagonisten in ein (reichlich konstruiertes) Gestrüpp stockfinsterer Machenschaften, macht ihn zum Spielball bösartiger Intrigen in einer Welt, die fast nur von Lüge, Verrat und Rachsucht angetrieben zu sein scheint. Fast: »The Dark Corner« ist bei aller Nachtschwärze auch eine Hymne an die Solidarität, genauer gesagt: eine Apotheose der loyalen Sekretärin – Kathleen Stewart (Lucille Ball) ist mindestens so abgebrüht wie ihr vom Schicksal gebeutelter Chef, dem sie auch dann noch vertraut, wenn sie ihn mit der Tatwaffe in der Hand neben der Leiche seines ärgsten Feindes antrifft: »What's done to you is done to me.«

R Henry Hathaway B Jay Dratler, Bernard C. Schoenfeld K Joseph MacDonald M Cyril Mockridge A James Basevi, Leland Fuller S J. Watson Webb Jr. P Fred Kohlmar D Mark Stevens, Lucille Ball, Clifton Webb, Kurt Kreuger, William Bendix | USA | 99 min | 1:1,37 | sw | 9. April 1946