30.8.68

Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos (Alexander Kluge, 1968)

»Die Dickhäuter schwören: Wir vergessen nichts.« Ein gleichermaßen faszinierender wie ermüdender Elefantenritt durch Alexander Kluges Assoziationsmanege. Der Zirkus als Metapher für ... ja, für was eigentlich? ... für Kreativität, für Kunstproduktion, für die Situation des Kinos in der BRD. Leni Peickert (Hannelore Hoger), Tochter eines visionären Hochseilakrobaten, der sich in einem Anfall von Melancholie zu Tode stürzte, will einen Reformzirkus aufbauen, der dem Publikum nicht nur Sensationen zeigt, sondern es für die Zustände sensibilisiert, in denen die große Schau dargeboten wird. Ihre ehrgeizig-originellen Vorstellungen (»Sieben Tiger versuchen, sechzig rote Mäuse aufzuhalten. Das gelingt nicht. Daraufhin bauen die Tiger eine Pyramide und machen ›schön‹«.) scheitern an ökonomischen Realitäten und an eingefahrenen Erwartungshaltungen: »Tut der Kapitalist, was er liebt, und nicht was ihm nützt, wird er von dem, was ist, nicht unterstützt.« Leni denkt um (»Mit großen Schritten macht man sich nur lächerlich. Aber mit lauter kleinen Schritten könnte ich Staatssekretärin im Auswärtigen Amt werden.«), und geht auf den langen Marsch durch die Institutionen: Das Fernsehen verspricht, ihrer »Liebe zur Sache« eine taugliche Plattform zu bieten. Kluge, der seine eigene glanzvolle Zukunft als TV-Impressario vorauszuahnen scheint, zieht so flott, daß seinen gedanklichen Zaubertricks schwerlich zu folgen ist, Anekdoten und Zitate, Kuriosa und Theorien aus dem Zylinder; das Bild dient ihm dabei vor allem als Folie für halsbrecherische Gedankensprünge und hinreißende intellektuelle Kalendersprüche: »Die Utopie wird immer besser, während wir auf sie warten.«

R Alexander Kluge B Alexander Kluge K Günther Hörmann, Thomas Mauch M diverse S Beate Mainka-Jellinghaus P Alexander Kluge D Hannelore Hoger, Alfred Edel, Sigi Graue, Bernd Hoeltz, Klaus Schwarzkopf | BRD | 103 min | 1:1,37 | f & sw | 30. August 1968

# 898 | 24. Juli 2014

23.8.68

The Blood of Fu Manchu (Jess Franco, 1968)

Der Todeskuß des Dr. Fu Man Chu

Jess Franco meets Fu Manchu. Eine Karawane von aneinandergeketteten, in sexy Lumpen gehüllten Frauen wird durch den südamerikanischen Urwald gepeitscht. Kein schlechter Anfang für ein sexistisches Mystery-Abenteuer. Auch die Prämisse klingt vielversprechend: Fu Manchu nutzt ein uraltes, verderbenbringendes Geheimnis, um seine Feinde zu bekämpfen: tödliches Schlangengift, das den gekidnappten Schönen per Biß in die Kehle (oder den Busen) verabfolgt wird, damit es über deren Blut und Lippen die wehrlosen Opfer weiblicher Reize erreiche. Nayland Smith (gespielt von Richard Greene, dem dritten und mit Abstand fadesten Darsteller des wackeren Scotland-Yard-Beamten) ist der Erste einer ganzen Reihe von hochrangigen, aber im filmischen Verlauf unsichtbar bleibenden Zielpersonen, der den Todeskuß empfängt, woraufhin er erblindet und lediglich bis zum nächsten Vollmond Zeit hat, ein wirksames Gegenmittel zu finden. Die simpel-verworrene Handlung läßt – neben den lebensgefährlichen Evastöchtern – einen taffen Archäologen, eine rotbestrumpfte Krankenschwester sowie einen feisten, unentwegt lachenden Schießbudenbanditen unzählige überflüssige Pirouetten drehen, während der chinesische Strippenzieher in einem unterirdischen Inkatempel sitzt, ohne je das Tageslicht zu sehen, ein fast bedauernswerter Gefangener seiner gekränkten Eitelkeit und der daraus resultierenden quasipubertären Allmachtsphantasie. »Everlasting death, horrible, inescapable, universal death«, wünscht Fu Manchu der gehaßten Menschheit an den Hals, doch seine toxische Botschaft bleibt ungehört. Am Ende heißt es wie gehabt: »The world shall hear from me again.«

R Jess Franco B Peter Welbeck (= Harry Alan Towers) V Sax Rohmer K Manuel Merino M Daniel White A Peter Gasper S Allan Morrison P Harry Alan Towers D Christopher Lee, Richard Greene, Götz George, Maria Rohm, Tsai Chin | UK & E & BRD | 94 min | 1:1,66 | f | 23. August 1968

# 867 | 24. Mai 2014

15.8.68

Targets (Peter Bogdanovich, 1968)

Bewegliche Ziele

»My kind of horror isn’t horror anymore.« Schauspieler Byron Orlok (Boris Karloff), Veteran des klassischen Horrorkinos, Verkörperung des alten Hollywood, will sich zur Ruhe setzen (»I’m an antique, out of date.«); der junge Bobby Thompson (Tim O’Kelly), ein archetypischer boy next door wird zum schießenden Massenmörder (»I know they’ll get me. But before that many more will die.«) Mittels einer ingeniösen Verschränkung der beiden Erzählstränge reflektiert film buff und Nachwuchsregisseur Peter Bogdanovich (der den film buff und Nachwuchsregisseur Sammy Michaels spielt) sowohl die Wechsel­beziehung von kinematographischer und gesellschaftlicher Realität wie auch die politischen und kulturellen Umbrüche im Amerika der 1960er Jahre. Gedreht mit kleinem Budget und weitgehend an Originalschauplätzen in Los Angeles (»What an ugly town this has become«, stellt der betagte Star fest), erscheint »Targets« als melancholischer Abgesang auf den von der (Alp-)Traumfabrik produzierten wohlig-viktorianischen Grusel. Orlok steht für diese vergangene Welt, in der selbst der Schrecken noch seine Ordnung hatte, während Bobbys kalte Raserei (die an einen tatsächlichen Fall aus dem Jahr 1966 angelehnt ist) die zunehmend unverständliche Gegenwart repräsentiert, in der blutiger Schrecken einer vermeintlich festgefügten Norman-Rockwell-Idylle entspringt. Bevor Orlok endgültig in Rente geht, präsentiert er seinen letzten Film »The Terror« in einem drive-in theater, genau dort, wo Bobby sich am Ende seines Amoklaufs hinter der Leinwand verschanzt: Die Ungeheuer des Kinos und die Monster der Wirklichkeit treten einander Auge in Auge gegenüber.

R Peter Bogdanovich B Peter Bogdanovich, Polly Platt K Laszlo Kovacs A Polly Platt S Peter Bogdanovich P Peter Bogdanovich D Boris Karloff, Tim O’Kelly, Peter Bogdanovich, Nancy Hsueh, Arthur Peterson | USA | 90 min | 1:1,85 | f | 15. August 1968

# 961 | 10. Juli 2015

14.8.68

Baisers volés (François Truffaut, 1968)

Geraubte Küsse

Que reste-t-il de nos amours? Zum Beispiel ein Film. Zu dem eigentlich nichts zu sagen ist – außer vielleicht (am besten, vor einem Spiegel stehend, zu sich selbst laut ins Gesicht) Folgendes: Jean-Pierre Léaud! Claude Jade! Delphine Seyrig! François Truffaut! (Namen jeweils beliebig oft wiederholen.) Fernerhin sollte man zu Lob und Preis von »Baisers volés« ab und zu mal eine Coca-Cola im Foyer eines billigen Montmarte-Hotels trinken, mit einem sehr großen Mädchen ausgehen, einen Schuhkarton in Packpapier wickeln, zu einer Dame, die einem eine Tasse Kaffee reicht, »Merci, Monsieur!« sagen, einen Fernseher zerlegen, mit dem Freund oder der Freundin eine Flasche Wein aus dem Keller holen, einen Zwieback mit Butter bestreichen (Claude Jade verrät, wie es geht, ohne daß er zerbricht) und dazu ein Chanson von Charles Trénet hören. PS: Antoine Doinel! Antoine Doinel! Antoine Doinel!

R François Truffaut B François Truffaut, Claude de Givray, Bernard Revon K Denys Clerval M Antoine Duhamel A Claude Pignot S Agnès Guillemot P François Truffaut, Marcel Berbert D Jean-Pierre Léaud, Claude Jade, Delphine Seyrig, Michael Lonsdale, Harry-Max | F | 90 min | 1:1,66 | f | 14. August 1968

12.8.68

Mr. Freedom (William Klein, 1968)

Mr. Freedom

»We fight for freedom, for one and for all! / It's you-and-me-dom, and ten foot tall!« Die Welt, postuliert der Boß von ›Freedom Inc.‹ (Donald Pleasence) ist in zwei Lager geteilt: Richtig und Falsch – dazwischen tummeln sich die Vielleichts und die Weißnichts. Mr. Freedom (John Abbey im rot-weiß-blauen Football-Dreß), der beste Mann der amerikanischen Bewußtseinsfirma, wird nach Europa entsandt, um das unentschlossene Volk der Franzosen auf die richtige Spur zu bringen. So muß der unbeirrbare Held der westlichen Welt (»Yeah! Freedom! Wow!«) nicht nur unter Aufbietung aller körperlichen und geistigen (?) Kräfte gegen eine weitverzweigte Anti-Freiheitsliga, die vom maoistischen Superschurken Red China Man (ein aufblasbarer Riesendrache) gesteuert wird, sowie gegen den neostalinistischen Muzhik Man (Philippe Noiret als eine Art rotes Bibendum) kämpfen, er hat auch ganz allgemeine Undankbarkeit für seinen titanischen Einsatz und – eine besonders bittere Enttäuschung! – den Verrat der ihm vermeintlich treu ergebener Mitstreiterin Marie-Madeleine (Delphine Seyrig) zu gewärtigen. Mit der popartig-überdrehten, knallbunt-comichaften Superhelden-Satire leistet William Klein (ein New Yorker in Paris) seinen ganz eigenen (formal sehr eigenwilligen) Beitrag zu den aufgeheizten (gesellschafts-)politischen Debatten der 1960er Jahre. »Freedom, freedom, and oh-can-you-see-dom! / We’ll always beat ’em with star-spangled freedom!«

R William Klein B William Klein K Pierre Lhomme M Serge Gainsbourg A William Klein Ko Janine Klein S Anne-Marie Cotret P Guy Belfond, Christian Thivat, Michel Zemer D John Abbey, Delphine Seyrig, Donald Pleasence, Serge Gainsbourg, Philippe Noiret, Sami Frey | F | 95 min | 1:1,66 | f | 12. August 1968

# 1180 | 3. Oktober 2019