25.12.77

High Anxiety (Mel Brooks, 1977)

Mel Brook’s Höhenkoller

Parodistisches Kompendium von Hitchcock-Motiven, zusammengehalten durch Mel Brooks’ Talent, charmant auf die Nerven zu fallen: die Klinik aus »Spellbound«, die Akrophobie aus »Vertigo«, die Duschszene aus »Psycho«, der (un-)sinnige middle name aus »North by Northwest« (in diesem Falle kein ›O.‹ = »nothing« sondern ein ›H.‹ = ›Harpo‹), die Vögel aus »The Birds« (scheißende Tauben statt tödlicher Krähen), die unvermeidliche Blondine (Madeline Kahn); ferner eine sadistische Oberschwester und ein schmerzgeiler Irrenarzt, ein Industrieller, der sich für einen Cockerspaniel hält, und ein verzückter Killer mit Zahnspange. Die Geheimnisse, die das von Nobelpreisträger Dr. Richard H. Thorndyke (Brooks) übernommene ›Psycho-Neurotic Institute for the Very, Very Nervous‹ birgt, sind so rätselhaft, wie »High Anxiety« subtil ist: Nur selten stößt der Film auf eine satirische Metaebene vor (etwa wenn der Anstaltsleiter und sein Chauffeur während einer Autofahrt durch dramatische Thriller-Musik aufgeschreckt werden und bemerken, daß gerade ein Bus mit einem musizierenden Orchester überholt), zumeist geben sich Drehbuch und Inszenierung mit dem erst besten Kalauer zufrieden. PS: »I got it. I got it. I got it … I ain't got it.«

R Mel Brooks B Mel Brooks, Ron Clark, Rudy De Luca, Barry Levinson K Paul Lohmann M John Morris A Peter Wooley S John C. Howard P Mel Brooks D Mel Brooks, Madeline Kahn, Cloris Leachman, Harvey Korman, Howard Morris | USA | 94 min | 1:1,85 | f | 25. Dezember 1977

7.12.77

Mort d’un pourri (Georges Lautner, 1977)

Der Fall Serrano

»Nous n’avons plus d’amis, nous avons des partenaires. Nous n’avons plus d’ennemis, nous avons des clients.« Frankreich am Ende der Trente Glorieuses: Die wirtschaftliche Explosion des Nachkriegs hat das Land wohlhabend gemacht und ein paar pourris stinkreich. Der Tod eines dieser Dreckskerle (Maurice Ronet spielt ihn als lässig-verdorbenen Archetypen der Ära) wirft ein trübes Licht auf das Gewebe von Gefälligkeiten und Vorteilsnahmen, von politischen und finanziellen Geschäftemachereien, das die ganze Gesellschaft krankhaft durchzieht – und längst weitergewuchert ist, über nationale Grenzen hinaus: »Le capital ne connaît plus de frontières.« Alles hängt mit allem ungut zusammen. Xav (Alain Delon – wortkarg, loyal, schlagkräftig) versucht das Knäuel zu entwirren, um den Mörder seines alten Weggefährten zu stellen; als er den Täter gefunden hat (ohne den Knoten zu durchschlagen), blickt er ins blanke Antlitz eines Terroristen der Tugend, das die Fratze der Korruption beinahe sympathisch erscheinen läßt ... Georges Lautner führt seinen erstklassigen Cast – Stéphane Audran (als lustig-verzweifelte Witwe), Jean Bouise (als Hüter einer verdorbenen Ordnung), Julien Guiomar (als (zu) siegessicheres Schwein), Klaus Kinski (als mysteriöser Strippenzieher auf Enten(?)jagd), Ornella Muti (als aufrechte Gefährtin) – präzise und schnörkellos, die Bilder von Henri Decaë beschönigen nichts, der nächtlich-jazzige Score von Philippe Sarde und Stan Getz (!) kommentiert die Nutzlosigkeit von Integrität in einer Welt des exquisiten Amoralismus mit stillem Bedauern.

R Georges Lautner B Michel Audiard V Raf Vallet K Henri Decaë M Philippe Sarde S Michelle David P Alain Delon D Alain Delon, Ornella Muti, Stéphane Audran, Klaus Kinski, Maurice Ronet, Mireille Darc | F | 120 min | 1:1,66 | f | 7. Dezember 1977

28.10.77

Die Vertreibung aus dem Paradies (Niklaus Schilling, 1977)

Nach dem Tod der Mutter kehrt Filmschauspieler Andy Pauls (Geburtsname: Anton Paulisch) abgebrannt in seine Geburtsstadt München zurück. Mit der großen Karriere hat es weder in Rom noch in Hollywood geklappt; über Nebenrollen in Italowestern und einen TV-Auftritt als »Mechanical Man« ist Andy Pauls nie hinausgekommen. Herb Andress (Geburtsname: Herbert Andreas Greuz), mit dessen großer Karriere es auch nicht so recht geklappt hat, der sich als Nebendarsteller in Italowestern verdingte und als »Mechanical Man« im Fernsehen auftrat, spielt Andy Pauls, dem statt des erhofften Geldes als Erbe lediglich eine dickgerahmte Reproduktion von Gustave Dorés Bibelgraphik »Die Vertreibung aus dem Paradies« zufällt … Niklaus Schilling erzählt in einer Abfolge von kurzen, mal ironischen, mal elegischen, bald zugespitzt sketchartigen, bald opernhaft surrealen Szenen aus dem Leben der Vertriebenen – neben Andy Pauls sind das dessen sanftmütige Schwester Astrid (Elke Haltaufderheide), die sich redlich müht, das verschuldete mütterliche Fotogeschäft weiterzuführen, und der schmierige Bankfilialleiter Berens und die mondäne Heiratsschwindlerin Isolde Gräfin zu Rosenburg und das allzeitbereite Starlet Evi. Die Personen der Handlung verwickeln sich in eine inszestuöse Liebesgeschichte und in eine gallige Satire auf den mausetoten bundesdeutschen Filmbetrieb und in ein schwüles Hochstapler(innen)drama und in einen kleinbürgerlichen Betrugsthriller. Auf allen Ebenen geht es um Geld und Träume, um Kunst und Wirklichkeit, um Spiel und Zwang. Am Ende weist ein Engel den Weg zurück ins Paradies; die Insel der Seligen aber ist nichts anderes als das Kino selbst.

R Niklaus Schilling B Niklaus Schilling K Igor Luther M Giuseppe Verdi, Gaetano Donizetti, Drupi A Christa Molitor S Niklaus Schilling P Elke Haltaufderheide D Herb Andress, Elke Haltaufderheide, Jochen Busse, Ksenija Protic, Andrea Rau | BRD | 119 min | 1:1,66 | f | 28. Oktober 1977

# 774 | 19. September 2013  

The Serpent’s Egg (Ingmar Bergman, 1977)

Das Schlangenei 

»Go to hell!« – »Where do you think we are?« Ingmar Bergman schickt Dr. Mabuse ins Cabaret. »The scene is Berlin, the evening of Saturday, November 3, 1923.« Abel Rosenberg (mit versoffener Klarheit: John Carradine), Jude, Amerikaner, abgetakelter Trapezartist, stromert nach dem Selbstmord seines Bruders durch das Inflationschaos der Reichshauptstadt. Seine Exschwägerin, die Tingeltangeldiseuse und Gelegenheitsnutte Manuela (mit grüner Lockenperücke: Liv Ullmann), und der Arzt und (Menschen-)Forscher Dr. Hans Vergérus (mit gefährlich-randloser Brille: Heinz Bennent), ein geheimnisvoll-unheimlicher Bekannter aus sonnigen Jugendjahren, kreuzen Abels Wege durch das irdische Jammertal. Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit und die Ahnung von der kommenden großen Katastrophe ziehen wie giftige Nebelschwaden durch die Seelen der Menschen – und durch die Straßen der Stadt, in die sich ein Sturzbach von übel zugerichteten Leichen ergießt, allesamt Opfer unverständlicher Gräueltaten: Verbrechen, die der aufrechte Inspektor Bauer (Gert Fröbe), seiner preußischen Beamtenpflicht folgend, mit trübsinniger Hartnäckigkeit aufzuklären versucht … Bergman, von schwedischen Steuerbürokraten ins Münchner Exil getrieben, inszeniert, fern der Heimat, in einer der grandiosesten jemals in Deutschland errichteten Filmarchitekturen (Rolf Zehetbauer), einmal mehr eine Vision der Hölle auf Erden – eine Gesellschaft in Auflösung, Menschen in Angst, Körper in Qualen – und einen poetisch-politischen rückblickenden Ausblick auf den (aus der Furcht und dem Entsetzen der von Gott verlassenen Kreaturen) heraufsteigenden Faschismus: »I wake up from a nightmare and find that real life is worse than the dream.«

R Ingmar Bergman B Ingmar Bergman K Sven Nykvist M Rolf A. Wilhelm A Rolf Zehetbauer S Jutta Hering P Dino De Laurentiis D Liv Ullmann, David Carradine, Gert Fröbe, Heinz Bennent, James Whitmore | USA & BRD | 120 min | 1:1,66 | f | 28. Oktober 1977

5.10.77

L’animal (Claude Zidi, 1977)

Ein irrer Typ

Hyperaktive Zappelkomödie mit Jean-Paul Belmondo in einer Doppelrolle als tollkühner Stuntman Mike Gaucher und effeminierter Megastar Bruno Ferrari. »L’animal« pfeift fröhlich auf die psychologischen Möglichkeiten dieser Konstellation, bietet stattdessen dem Hauptdarsteller zahlreiche Gelegenheiten, seine Physis zu präsentieren. Die unegale Handlung begnügt sich mit umwerfend plumpen Klischees, zeigt das Filmgeschäft als liebenswert geistlose Kulissenwelt, in der rohe Kräfte sinnlos walten, als wilden Zoo voller großer und kleiner Idioten, die, jeder auf seine Art, in ihren Käfigen verrückt spielen. Claude Zidi ist sich für keinen Kalauer zu schade, setzt ganz auf brachialen Körperwitz, exploitiert genüßlich jedes Stereotyp: Der Produzent schreit, der Regisseur hat keinen Plan, der Schwule trägt ein rosa Rüschenhemd, die schöne Widerspenstige (Raquel Welch) wird gezähmt, der Kaskadeur nimmt jede Hürde. Mit der Wirklichkeit (des Gewerbes) hat das nicht viel zu tun. Aber wen interessiert (im Kino) schon die Wirklichkeit?

R Claude Zidi B Michel Audiard, Dominique Fabre, Claude Zidi K Claude Renoir M Vladimir Cosma A Théo Meurisse S Robert Isnardon, Monique Isnardon P Christian Fechner D Jean-Paul Belmondo, Raquel Welch, Charles Gérard, Julien Guiomar, Aldo Maccione | F | 100 min | 1:2,35 | f | 5. Oktober 1977

Valentino (Ken Russell, 1977)

Valentino

»To my public, I will never die!« Sanft lächelnd liegt die geschminkte Leiche der Leinwandikone im Sarg: Rudolph Valentino ist tot – und damit unsterblich. In Citizen-Kane-Manier wirft Ken Russell aus der Aufbahrungshalle Rückblicke in die turbulente Vergangenheit des entschlafenen Kinogottes – auffälligerweise sind es nur Frauen, die wichtige Stationen seiner Vita in Erinnerung rufen: eine frühe Geliebte und eine hellwache Drehbuchautorin, eine exaltierte Schauspielerin und die hochambitiöse Ehefrau entsinnen sich an Valentinos Zeiten als Gigolo und als Nachtclubtänzer, als Kleindarsteller in Hollywood und als sexsymbolische Weltberühmtheit. Valentino (Rudolf Nurejew) geht durch dieses sein Leben seltsam reglos, wie eine Puppe am Faden – lediglich der öffentliche Zweifel an seiner Männlichkeit (was auch immer das sein soll) bringen ihn in eine Rage, die letztlich den frühen Tod befördert. Trotz treffender Seitenhiebe auf Traumfabrik (»Every day is Halloween in Tinseltown.«), Starkult (»YOU – are the fount of all pleasure.«), Sexismus (»We hate him now / he uses talcum powder.«) zeigt Russels Methode der grellen Überzeichnung biographischer Sachverhalte gewisse Ermüdungstendenzen; entfesselte Massenchoreographien, wüste Art-Deco-Reminiszenzen, outrierte Darstellerleistungen (all over the top: Leslie Caron als Alla Nazimowa) verleihen dem pop-erotischen Schauspielerportrait immerhin den soliden Unterhaltungswert einer Beerdigung erster Klasse.

R Ken Russell B Ken Russell, Mardik Martin V Chaw Mank, Brad Steiger K Peter Suschitzky M Stanley Black A Philip Harrison S Stuart Baird P Irwin Winkler, Robert Chartoff D Rudolf Nurejew, Michelle Phillips, Felicity Kendal, Leslie Caron, Seymour Cassel | USA & UK | 128 min | 1:1,85 | f | 5. Oktober 1977

# 1144 | 13. Januar 2019

28.9.77

La menace (Alain Corneau, 1977)

Lohn der Giganten

Beschrieb »Police Python 357« die verzweifelte Bemühungen eines unter Mordverdacht Geratenen, seine Unschuld zu beweisen, schildert »La menace« (≈ die Bedrohung) den Versuch eines Mannes, seine Geliebte von dem Verdacht zu entlasten, ein Verbrechen begangen zu haben, das nie stattgefunden hat ... Nachdem sich der Ex-Trucker Henri Savin (Yves Montand) von seiner wohlhabenden Lebensgefährtin Dominique (Marie Dubois) getrennt hat, fällt diese in eine Depression und bringt sich schließlich um – ein Suizid, der wie ein Mord aussieht, für den Savins neue Freundin Julie (Carole Laure) zur Rechenschaft gezogen werden soll. Savin, Alleinerbe der Verstorbenen, legt Spuren, die ihn als Täter ausweisen, und setzt sich nach Kanada ab, um dort, in einem risikoreichen Befreiungsmanöver, seinen Tod zu inszenieren und ein neues Leben zu beginnen … Alain Corneau knüpft zunächst mit geduldiger Akribie das fatale Netz der irreführenden Hinweise, der falschen Schlüsse, der schicksalhaften Bedrängnisse, um im letzten Viertel des Films ein furioses Actionfinale zu entfesseln, das einen Vergleich mit kinematographischen Vorbilder wie Henri-Georges Clouzots »Le salaire de la peur« und Steven Spielbergs »Duel« nicht zu scheuen braucht. Gerry Mulligans bald lyrisch-introspektiver, bald fiebrig-nervöser Jazz-Soundtrack begleitet und treibt das heikle Geschehen bis zur sarkastischen Pointe.

R Alain Corneau B Daniel Boulanger, Alain Corneau K Pierre-William Glenn M Gerry Mulligan A Jean-Pierre Kohut-Svelko S Henri Lanoë P Denise Petitdidier, Léo L. Fuchs D Yves Montand, Carol Laure, Marie Dubois, Jean-François Balmer, Jacques Rispal | F & CDN | 117 min | 1:1,66 | f | 28. September 1977

# 1059 | 22. Juni 2017

17.8.77

Cet obscur objet du désir (Luis Buñuel, 1977)

Dieses obskure Objekt der Begierde

Souveräner Schlußpunkt unter ein frappantes Lebenswerk. Anhand der einfachen Geschichte eines Mannes (bemitleidenswert: Fernando Rey), der zahlreiche ergebnislose Versuche unternimmt, sich in den Besitz des Körpers einer Frau (zwiespältig: Carole Bouquet und Angela Molina) zu bringen (während die Gesellschaft im Chaos des Terrors versinkt – doch das nur nebenbei), gibt Luis Buñuel ein treffendes Beispiel für die (Un-) Berechenbarkeit menschlichen Verhaltens: Bei aller Auf- und Abgeklärtheit zutiefst irrational handelnd, uns dieses Umstandes jederzeit bewußt und doch nicht in der Lange, etwas daran zu ändern, jagen wir den obskuren Objekten unserer Begierden nach, mit deren (in Wirklichkeit unmöglicher) Berührung wir hoffen, unser Glück zu erlangen. Ein lebenskluges Satyrspiel zur lächerlichen Tragödie der condition humaine.

R Luis Buñuel B Luis Buñuel, Jean-Claude Carrière V Pierre Louÿs K Edmond Richard A Pierre Gueffroy S Hélène Plemiannikov P Serge Silberman D Fernando Rey, Carole Bouquet, Ángela Molina, Julien Bertheau, André Weber | F & E | 102 min | 1:1,66 | f | 17. August 1977

7.7.77

The Spy Who Loved Me (Lewis Gilbert, 1977)

James Bond 007 – Der Spion, der mich liebte

»Under the sea, under the sea / Darling it's better down where it's wetter.« Ein spaßiger, weil ziemlich ausgetickter 007: Ken Adams production design läuft zu ozeanischer Form auf, Marvin Hamlishs Bond-goes-Disco-Mucke läßt sich hören, Roger Moore ist in seinem shaken-not-stirred-Element, Killer ›Jaws‹ (Richard Kiel) beißt kraftvoll zu. Wenn Erzhalunke Curd »Stromberg« Jürgens (modisch gesehen eine Art Kim Jong-il avant la lettre) nicht ganz so kleiderschrankhaft im pompösen Unterwasser-Setting herumstünde und Barba­ra Bach etwas mehr als einen Gesichtsausdruck in ihr Spiel einbrächte, wäre das Vergnügen noch größer.

R Lewis Gilbert B Christopher Wood, Richard Maibaum V Ian Fleming K Claude Renoir M Marvin Hamlisch A Ken Adam S John Glen P Albert R. Broccoli D Roger Moore, Barbara Bach, Curd Jürgens, Richard Kiel, Caroline Munro | UK | 125 min | 1:2,35 | f | 7. Juli 1977

24.6.77

Sorcerer (William Friedkin, 1977)

Atemlos vor Angst 

»Where am I going? Where am I going?« Vier Männer – ein Kirchenräuber aus New Jersey (Roy Scheider), ein Bankrotteur aus Paris (Bruno Cremer), ein Terrorist aus Palästina (Amidou), ein Killer aus Vera Cruz (Francisco Rabal) – sind am verdammten Arsch der Welt gestrandet. Sie brauchen Geld, um wegzukommen. Darum fahren sie eine Ladung hochexplosives Nitroglyzerin durch den Dschungel. William Friedkin – dem es nicht gereicht hat, einen französischen Star (Jeanne Moreau) zu heiraten, der auch noch einen französischen Klassiker (»Le salaire de la peur«) ficken wollte – interessiert sich im Grunde für nichts: nicht für die vier Männer, nicht für ihre Mission, nicht für ihr Sterben. Er zeigt nur die kalte Welt, in der die Menschen (warum auch immer) überleben wollen – die Welt als Wildnis, als Sack­gasse, als Endstation. In Büchners »Woyzeck« erzählt die Großmutter ein Märchen, in dem der Mond ein Stück faules Holz ist und die Sonne eine verwelkte Sonnenblume und die Erde ein umgestürzter Hafen. »Sorcerer« führt an solch einen Ort: »It's the kind of place nobody wants to go looking.«

R William Friedkin B Walon Green V Georges Arnaud K Dick Bush, John M. Stephens M Tangerine Dream A John Box S Bud Smith P William Friedkin D Roy Scheider, Bruno Cremer, Francisco Rabal, Amidou, Karl John | USA | 121 min | 1:1,85 | f | 24. Juni 1977

26.5.77

Der amerikanische Freund (Wim Wenders, 1977)

Das Leben, vom Tode aus betrachtet … Ja, da ist auch ein Thriller: betrügerische (Kunst-) Geschäfte, Gangster, die mit Pornos handeln, Auftragsmord in der Eisenbahn, Leichen, die beseitigt werden müssen. Aber vor allem ist da dieser epi-nostalgische, larmo-romantische Kinotraum über Männer: über ihren blöden Stolz und ihre noch blöderen Empfindlichkeiten, über ihre kindische Angst und ihre jungenhaften Sehnsüchte, über ihr Verlangen nach (unmöglicher!) Freundschaft, nach (utopischer!) Liebe, über ihre Fähigkeit zu beiläufiger Zärtlichkeit, zu wortlosem Verstehen. »Der amerikanische Freund« erzählt (frei nach Patricia Highsmiths Roman »Ripley’s Game«) davon, wie diese Männer in geisterhaften Städten, in Hamburg, in New York, in Paris, ihre riskanten, infamen, todbringenden Spiele spielen. Sie leben (?) in grandios-vergammelten Villen (Ripley = Dennis Hopper), in einsam ragenden Häusern am Fluß (Jonathan = Bruno Ganz), in weitläufigen Appartements über dem Häusermeer (Minot = Gérard Blain). Sie sind Tote auf Urlaub in einer Welt hinter Glas, (vergeblich) bemüht, Isolation, Melancholie, Distanz zu überwinden. Wim Wenders (der in Nebenrollen nicht ohne Grund Regielegenden wie Nicholas Ray und Sam Fuller besetzt) verschickt die mythischen Gestalten des Western, des film noir, des Melodrams in eine novembrige Gegenwart, in eine Zeit aus Blei, wo sie in kühlem Edward-Hopper-Licht (Kamera: Robby Müller) durch anonyme Flughäfen und menschenleere U-Bahnhöfe, über verlassene Parkways und urbane Brachflächen irren. Heimatlose. Suchende. Männer: »My thought just weigh me down / And drag me to the ground / And shake my head till there's no more life in me.« PS: Ja, da ist auch eine Frau: Sie heißt … wie heißt sie doch gleich?

R Wim Wenders B Wim Wenders V Patricia Highsmith K Robby Müller M Jürgen Knieper A Heidi Lüdi, Toni Lüdi S Peter Przygodda P Wim Wenders D Bruno Ganz, Dennis Hopper, Lisa Kreuzer, Gérard Blain, Rudolf Schündler | BRD & F | 126 min | 1:1,66 | f | 26. Mai 1977

27.4.77

L’homme qui aimait les femmes (François Truffaut, 1977)

Der Mann, der die Frauen liebte

François Truffauts filmisches Hochamt für jene Dinge des Lebens, die er – neben dem Kino – wohl am meisten schätzt: Frauenbeine (»Les jambes des femmes sont des compas qui arpentent le globe terrestre en tout sens, lui donnant son équilibre et son harmonie«) und Bücher (»ll n'y a rien de plus beau que de faire un livre, sinon peut-être faire un enfant.«) … Die episodenhafte Struktur des Werks mit seinen komplex ineinandergewobenen Erzählebenen wird zusammengebunden von diesen beiden Leidenschaften des Regisseurs, die auch die Leidenschaften seiner (zweifellos autobiographisch grundierten) Hauptfigur Bertrand Morane (Charles Denner) sind. »L’homme qui aimait les femmes«, ein Film, der genausogut »Confessions d’un érotomane bibliophile« heißen könnte, beleuchtet nicht nur diverse Facet­ten von Truffauts Persönlichkeit – seine Obsessionen und seinen (unstillbaren) Appetit, seine tiefe Einsamkeit und das kränkende Gefühl, von der eigenen Mutter nicht geliebt worden zu sein –, der Film erweckt die austauschbar scheinenden Objekte seiner Begierde mit den Blicken des (nur für den Moment, aber immer wieder) aufrichtig Liebenden zu greifbarem Leben: Brigitte Fossey und Nathalie Baye, Nelly Bourgeaud und Leslie Caron zeigen eben nicht nur Bein, sie alle (und zahlreiche andere) zeigen Stolz und Witz, Leidenschaft und Verrücktheit, Intelligenz und Melancholie, kurz: unverwechselbare Persönlichkeit.

R François Truffaut B François Truffaut, Michel Fermaud, Suzanne Schiffman K Néstor Almendros M Maurice Jaubert A Jean-Pierre Kohut-Svelko S Martine Barraqué P François Truffaut, Marcel Berbert D Charles Denner, Brigitte Fossey, Nathalie Baye, Nelly Bourgeaud, Leslie Caron | F | 120 min | 1:1,66 | f | 27. April 1977

20.4.77

Annie Hall (Woody Allen, 1977)

Der Stadtneurotiker 

»There’s an old joke… two elderly women are at a mountain resort, and one of them says: ›Boy, the food at this place is really terrible.‹ The other one says: ›Yeah, I know; and such small portions.‹« Mit »Annie Hall« wird Woody zu Woody Allen. Die Federleichtigkeit, mit der die formalen Register gezogen werden, läßt immer wieder staunen. Dank einer kongenialen Hauptdarstellerin (Diane Keaton), eines begnadeten Kameramanns (Gordon Willis), eines virtuosen Cutters (Ralph Rosenblum), eines Ausstatters (Mel Bourne) und eines Kostümbildners (Ralph Lauren), die den Lifestyle ihrer Ära auf den Punkt bringen, sowie natürlich aufgrund von Allens untrüglichem Gespür für Situationen und Dialoge, seines philosophischen Esprits, seines großstädtischen Flairs sowie einer grundsoliden Halbbildung, die es ihm erlaubt, über alles und jeden seine (klugen) Witze zu reißen, entsteht nicht nur ein tiefgründig-hochkomisches Zeit- und Gesellschaftsbild sondern eine völlig neue Form von Lustspiel: die realistische urban-intellektuelle Komödie. In einer raffiniert-simplen Boy-meets-girl-boy-loses-girl-Story öffnet sich ein ganzes Universum von Themenpaaren – Widersprüchen der menschlichen Existenz –, aus denen Allen sein erzählerisches Kapital schlägt: Männer und Frauen, Juden und Christen, Stadt und Land, Liebe und Tod, Gestern und Heute, New York und Hollywood, Hoffnung und Angst, schlechtes Essen und kleine Portionen.

R Woody Allen B Woody Allen, Marshall Brickman K Gordon Willis M diverse A Mel Bourne S Ralph Rosenblum P Jack Rollins, Charles H. Joffe D Woody Allen, Diane Keaton, Tony Roberts, Paul Simon, Shelley Duvall | USA | 93 min | 1:1,85 | f | 20. April 1977

1.4.77

Black Sunday (John Frankenheimer, 1977)

Schwarzer Sonntag

A study in terror – John Frankenheimers energiegeladenes Action-Epos schildert (nach einem Roman des späteren Hannibal-Lecter-Autors Thomas Harris) die zunehmend verzweifelten Bemühungen des abgekämpfen Mossad-Agenten Kabakow (Robert Shaw), den monumentalen Anschlag eines palästinensischen Kommandos auf ein – zunächst unbekanntes – Ziel in den Vereinigten Staaten zu verhindern: Eine unter die Gondel eines Luftschiffs montierte gewaltige Nagelbombe soll während des Super Bowl, der heiligen Messe des American way of life, 80000 Menschen (inklusive des US-Präsidenten) töten. Frankenheimer kombiniert fieberhaften Dokumentarstil mit expressiver Symbolik (etwa wenn nach einem gelungenen Explosionstest tausende von Lichtstrahlen durch die zerlöcherte Blechhülle eines Hangars fallen) und begreift Dahlia Iyad, die unberirrbare Frontfrau des »Schwarzen September« (Marthe Keller), die den verbitterten Vietnam-Veteranen Lander (»I wanted to give this whole son-of-a-bitchin’ country something to remember me by!« – Bruce Dern) zum willigen Werkzeug ihres Schreckensplans formt, weniger als blindwütige Furie denn als folgerichtiges Produkt westlicher Nahost-Politik :»After all ... in a way, she’s your creation.«

R John Frankenheimer B Ernest Lehman, Kenneth Ross, Ivan Moffat V Thomas Harris K John A. Alonzo M John Williams A Walter Tyler S Tom Rolf P Robert Evans D Robert Shaw, Bruce Dern, Marthe Keller, Fritz Weaver, Steven Keats | USA | 143 min | 1:2,35 | f | 1. April 1977

# 1097 | 22. Februar 2018

25.2.77

Człowiek z marmuru (Andrzej Wajda, 1977)

Der Mann aus Marmor

Auf der Suche nach den verlorenen Helden einer verlorenen Zeit: Die Filmstudentin Agnieszka (enga­giert-strapaziös: Krystyna Janda) recherchiert die Biographie des Bestarbeiters Birkut (der einst unglaubliche 30.000 Ziegelsteine in einer einzigen Schicht vermauerte), eines – erst hochgejubelten, dann umgestürzten und tief gefallenen – Polit-Idols der frühen Jahren des volksdemokratischen Polen. Sie sichtet alte (Propaganda-) Filme, befragt Weggefährten des sozialistischen Heros, steigt hinab in die stalinistischen Kellergewölbe der Geschichte ihres Landes, stolpert über Trümmer zerschlagener Lebensentwürfe und sieht der Wahrheit in ihr bald versoffenes, bald zynisches, bald schöngelogenes Antlitz. Andrzej Wajdas »Człowiek z marmuru«, der eben so gut »Citizen Birkut« heißen könnte, handelt von Glauben und Desillusionierung, von Pathos und Berechnung, analysiert die mediale Konstruktion von Legenden sowie den zielgerichteten Mißbrauch von Leidenschaft – und bleibt damit (bei ungeschönt-präziser Beschreibung eines konkreten historischen und ideologischen Umfelds) zeitlos aktuell.

R Andrzej Wajda B Aleksander Ścibor-Rylski K Edward Kłosiński M Andrzej Korzyński A Wojciech Majda, Allan Starski S Halina Prugar-Ketling P Barbara Pec-Ślesicka D Jerzy Radziwiłowicz, Krystyna Janda, Tadeusz Łomnicki, Jacek Łomnicki, Michał Tarkowski | PL | 165 min | 1:1,37 | f | 25. Februar 1977

9.2.77

Providence (Alain Resnais, 1977)

Providence

»I’m not a person. I’m a fucking construction.« In seinem feudal-morbiden Landhaus »Providence« verbringt Schriftsteller Clive Langham (John Gielgud) die lange Nacht vor seinem 78. Geburtstag – saufend, scheißend, sich unruhig im Bett wälzend, stöhnend vor stechenden Schmerzen. In Langhams zunehmend umnebelten Kopf (»More booze, more nightmares.«) kreist der Roman seiner Familie wie ein Orkan, heillose Geschichten um seine beiden Söhne, den vor Selbstkontrolle schier explodierenden Juristen Claud (Dirk Bogarde) und den vibrierend in sich ruhenden Astrophysiker Kevin (David Warner), um die angespannt-abgeklärte Schwiegertochter Sonia (Ellen Burstyn) und um die janusköpfige Molly/ Helen (Elaine Stritch), die, bald verstorbene Ehefrau des Autors, bald todgeweihte Geliebte des Sohnes, zwischen den Fronten der Generationen changiert. Die biographisch-metaphori­sche, von Miklós Rózsa düster-opulent orchestrierte Story wuchert wild, kollabiert kläglich, setzt sich wieder zusammen, stürzt wieder ein, ein Höllenritt der quälenden Erinnerungen und chaotischen Fiktionen, der eiskalten Standpunkte und irrationalen Ausdrucks formen, ein Strudel des kreativen Materials, ein Aufruhr unzähliger Motive, die sich verweben, sich überlagern, kontinuierlich neue, divergente Muster bilden, wobei sich Räume und Stimmungen von einem Moment auf den anderen verwandeln können, je nach Lust (und Leiden) des von seiner desolaten Fabel versklavten allmächtigen Erzählers. Der Ort des Geschehens: eine ideelle (ideale?) Stadt, komponiert aus Dutzenden Städten, ein kinematographisches Arkham der narrativen Imagination, die kunstvoll-künstliche Traumwelt des Literaten Clive Langham, des Szenaristen David Mercer, des Regisseurs Alain Resnais. Nur Form? Kein Emotionen? »It’s been said about my work that the search for style has often resulted in a want of feeling. However I’d put it another way, I'd say that style IS feeling, in its most elegant and economic expression.« Sagt Langham, sagt Mercer, sagt Resnais … Der Tag, der auf die dunkle Nacht des Dichters folgt, bringt dem Jubilar strahlendes Wetter, entzückende Geschenke, ein versöhnliches Mittagessen im Kreise der Seinen: »Nothing is written … We all believe that, don’t we.«

R Alain Resnais B David Mercer K Ricardo Aronovich M Miklós Rózsa A Jacques Saulnier S Albert Jurgenson P Yves Gasser, Klaus Hellwig, Yves Peyrot D Dirk Bogarde, Ellen Burstyn, John Gielgud, David Warner, Elaine Stritch | F & CH | 110 min | 1:1,85 | f | 9. Februar 1977