25.6.71

Rendez-vous à Bray (André Delvaux, 1971)

Rendezvous in Bray

Paris, Dezember 1917. Julien (Mathieu Carrière), Pianist und Musikjournalist, als »neutraler« Luxemburger vom Militärdienst befreit, wird von seinem Freund Jacques (Roger van Hool), einem Tondichter und Kriegsflieger, per Telegramm zum Wiedersehen während eines kurzen Fronturlaubs gebeten. Julien begibt sich auf Jacques’ Landsitz in der Nähe der Kampflinie (der Strom fällt aus, während leise die Kronleuchter klirren) – der Gastgeber indes erscheint nicht, der Geladene bleibt alleine, mit einer schweigsamen Bedienten (Anna Karina), mit seinen Erinnerungen an eine ebenso innige wie delikate Freundschaft. Musik verbindet die Ebenen, verbindet Herzen, Seelen, schließlich auch: Körper; neben Jacques’ Kompositionen sind es Stücke von Brahms und Franck, ein sonderbares Kinderlied (»Mon oiseau a perdu ses plumes, / Plumes de bois et plumes de fer.«), Juliens dramatische Klavierbegleitung eines »Fantômas«-Abenteuers. Jacques und Julien: die Namen lassen wohl nicht zufällig eine andere berühmte Künstlerfreundschaft aus der Zeit des Ersten Weltkriegs anklingen; und wie in »Jules et Jim« wird das Verhältnis der beiden Männer kompliziert, intensiviert durch eine Frau, die kokette Odile (Bulle Ogier). André Delvaux verleiht der Erzählung (nach einer Vorlage von Julien Gracq) einen schlafwandlerischen Rhythmus und, vor allem durch den wiederholten Einsatz von Irisblenden, eine stummfilmhafte Stilisierung. Eine Reise in die Vergangenheit, ein einsames Haus, Reflexionen und Resonanzen von Erlebnissen, Gefühlen, Stimmungen, Spannungen – ein Nocturno, vage, hintergründig, lückenhaft wie die zensurierten Zeitungsseiten mit ihren weißen Flecken: Leerstellen, in denen schreckliche Wahrheiten schlummern, dunkle Geheimnisse, romantische Phantasien. 
 
R André Delvaux B André Delvaux V Julien Gracq K Ghislain Cloquet M Frédéric Devreese A Claude Pignot S Nicole Berckmans P Mag Bodard D Mathieu Carrière, Anna Karina, Roger van Hool, Bulle Ogier, Pierre Vernet | B & F & BRD | 90 min | 1:1,66 | f | 25. Juni 1971

# 848 | 15. März 2014

9.6.71

La maison sous les arbres (René Clément, 1971)

Das Haus unter den Bäumen

Trilogie des contes policiers (2) … »What is happening to us?« Es war einmal eine Amerikanerin in Paris: Jill (Faye Dunaway) lebt mit ihrem Mann Philip, einem brillanten Wissenschaftler (Frank Langella), und ihren beiden kleinen Kindern seit zwei Jahren in der französischen Hauptstadt. Bekümmert fragt sie sich, warum sie ihre Heimat so überstürzt verlassen mußte. Ihre Ehe kriselt. Immer öfter läßt sie ihr Gedächtnis im Stich. Unbeschwert ist sie nur in Gesellschaft der liebevollen Nachbarin Cynthia (Barbara Parkins) oder wenn sie sich mit Tochter Cathy und Sohn Patrick austoben kann. In ihrer naiven Entrückung mutet Jill an wie das dritte Kind der entwurzelten Familie. Das Ungemach, das sich langsam über ihr zusammenbraut, das sie schließlich wie ein qualvoller Wachtraum umfängt, hat zu tun mit Philip, der von einer namenlosen Organisation bedrängt wird, seine Qualifikation für kriminelle Zwecke zur Verfügung zu stellen. Während eines Spaziergangs, Jill ist für einem kurzen Augenblick absent, gehen Cathy und Patrick verloren wie Hänsel und Gretel im düsteren Wald. In der Seine schwimmt ein Reifen, am Ufer findet sich ein Schal … Die verzweifelte Mutter gerät aufgrund ihrer psychischen Instabilität in Verdacht, ihre Kinder getötet zu haben. Jills Persönlichkeit scheint sich unter den Vorwürfen vollends aufzulösen, ihre Wirklichkeit wird zum bösen Spuk – bis sie endlich einen Erinnerungsfaden zu fassen kriegt, der in ein Labyrinth von Hinterlist und Tücke führt. Das Paris des Films ist nicht die rosa-romantische Stadt der Liebe, René Clément entwirft ein naßkalt-graues, ein unwirklich-abweisendes Paris, einen Ort, an dem man sich schwindlig abhanden kommt. Die Welt präsentiert sich als geheimnisvolles Feindesland, dargestellt mit der anschaulichen Abstraktion einer Kinderzeichnung. »La maison sous les arbres«, das dem zweiten von Cléments hypnotischen polars de fées den Namen gibt, ist die Stätte, an der diese Schauermär voll grausamer Poesie ihr Ende nimmt. Und wenn sie nicht gestorben sind …

R René Clément B Sidney Buchman, Eleanor Perry V Arthur Cavanaugh K Andreas Winding M Gilbert Bécaud A Jean André S Françoise Javet P Robert Dorfmann, Bertrand Javal D Faye Dunaway, Frank Langella, Barbara Parkins, Karen Blanguernon, Raymond Gérôme | F & I | 96 min | 1:1,85 | f | 9. Juni 1971