1.11.80

Berlin Chamissoplatz (Rudolf Thome, 1980)

Der Mann kommt zum ersten Mal in die Wohnung der Frau. An der Wand ihres Zimmers steht: »se reposer comme une fraise«. Er fragt sie, was das bedeuten solle. Sie antwortet, daß sie es ihm später erklären werde … Der Mann (Hanns Zischler), Anfang 40, ist Architekt. Die Frau (Sabine Bach), Mitte 20, studiert Soziologie. Sie wohnt in einem Haus, das er modernisieren soll. Die beiden verlieben sich ineinander. Rudolf Thomes »Berlin Chamissoplatz« ist ein sehr zarter, ein sehr präziser Liebesfilm: Der Ort ist Kreuzberg 61, die Zeit ist der (kühl-verregnete) Sommer 1980, die romantische Handlung entwickelt sich im Umfeld der behördlich oktroyierten Stadtsanierung und des sich dagegen formierenden Widerstands. Es gibt Frühstück im Bett und Spaghetti bei der Mieterinitiative, es gibt Recherchen zum Zustand der gründerzeitlichen Bausubstanz und eine spontane Reise nach Italien. Er spielt für sie Klavier und singt ihr Lieder, die er selbst geschrieben hat. Sie sagt ihm, daß sie schwanger sei, aber wahrscheinlich nicht von ihm. Der Champagner, den er in der Markthalle am Marheinekeplatz für sie kauft, kostet 23 Mark 95. Das ›Arsenal‹-Kino, wohin sie ihn mit nimmt, zeigt »Céline et Julie vont en bateau«. Sie weint während der Vorführung. Er schläft. (»Im Kino schlafen heißt, dem Film vertrauen«, bemerkte einst Jean-Luc Godard.) Zwischen all den konkreten Momenten, die auf wundervolle Weise Wirklichkeit speichern, schwebt das Eigentliche, das filmische »Mehr«, das so magisch, so unerklärt bleibt wie die sich ausruhende Erdbeere – die Wahrheit vielleicht, oder das Glück, auf jeden Fall die Liebe.

R Rudolf Thome B Jochen Brunow, Rudolf Thome K Martin Schäfer M Ohpsst S Ursula West P Hans Brockmann, Isolde Jovine, Rudolf Thome D Hanns Zischler, Sabine Bach, Wolfgang Kinder, Gisela Freudenberg, Alexander Malkowsky | BRD | 112 min | 1:1,66 | f | 1. November 1980

Taxi zum Klo (Frank Ripploh, 1980)

»Sie wollen mich auf meinen Streifzügen begleiten? Nun gut…« Der revolutionäre Gehalt von »Taxi zum Klo« liegt nicht in filmsprachlicher Innovation (formal schrammt das Werk fröhlich am Dilettantismus entlang) sondern in der nonchalanten Rigorosität, mit der schwules Leben als Normalität gezeigt wird. Frank ist Lehrer, stromert durch Berlin, fickt alles, was einen Schwanz hat (und kein Tier ist); Bernd arbeitet in einem Kino, kocht gerne und träumt von trauter Zweisamkeit (auf dem Land) – trotz Liebe nicht eben ideale Voraussetzungen für eine stabile Beziehung. Frank Ripploh plaudert aus dem Nähkästchen des (= seines) Alltags zwischen Waldspaziergang und Glory Holes, zwischen Kegelabend im Kollegenkreis und Austausch von Körperflüssigkeiten mit Zufallsbekanntschaften, zwischen Arztbesuch und Tuntenball, zwischen romantischen Sehnsüchten und physischem Verlangen; er dokumentiert (voller Spontaneität und mit einiger Drastik), daß Truffauts berühmtes Diktum »Das Paar ist keine Lösung, aber es gibt keine anderen Lösungen.« nicht nur auf gegengeschlechliche Konstellationen zutrifft.

R Frank Ripploh B Frank Ripploh K Horst Schier M Hans Wittstatt S Marianne Runne, Matthias von Gunten P Frank Ripploh, Horst Schier, Laurens Straub D Frank Ripploh, Bernd Broaderup, Hans-Gerd Mertens, Ulla Topf, Peter Fahrni | BRD | 95 min | 1:1,66 | f | 1. November 1980

25.9.80

Stardust Memories (Woody Allen, 1980)

Stardust Memories 

»An homage? Not exactly. We just stole the idea outright.« – Allen goes Fellini. Und das gar nicht schlecht. Sehr gut sogar. Genau genommen brillant. Erzählt wird – à la »8½« – die fragmentarisch-elliptisch-assoziativ-(auto)biographische Geschichte des New Yorker Regisseurs Sandy Bates, der Schwierigkeiten mit seinen Produzenten (und seinen Fans) hat, weil er partout keine komischen Filme mehr drehen will. Anläßlich der Retrospektive seiner Werke gerät Sandy (= (?) Woody) unter hyänenhafte Cinéphile, nimmt seine (berufliche und private) Vergangenheit (und seine potentielle Zukunft) kritisch unter die Lupe, verliert sich im Gestrüpp der Erinnerungen an seine einstige große Liebe Dorrie (genial-psychotisch: Charlotte Rampling), bekommt die Beziehung zur seiner Derzeitigen (verzickt-normal: Marie-Christine Barrault) nicht so recht auf die Reihe und bändelt mit einer vielversprechenden Dritten an (kompliziert-zerbrechlich: Jessica Harper). Die elstermäßige Chuzpe, mit der sich Woody (beigestanden vom unkorrumpierbaren Gordon Willis hinter der Kamera) bei seinem Vorbild Federico bedient, ist erstaunlich wie effektiv: »Stardust Memories« verliert sich so lust- und frustvoll in Themen wie Selbstmitleid, Selbstzweifel, Selbstgerechtigkeit und Selbstbefriedigung, daß ein gewisser (Selbst-) Erkenntniswert auch für den unbeteiligten (und fachfremden) Zuschauer nicht ausbleibt. Ein monomanes Meisterwerk von allgemeiner Geltung. PS: »What do you think the Rolls Royce represented?« – »I think that represented his car.«

R Woody Allen B Woody Allen K Gordon Willis M diverse A Mel Bourne Ko Santo Loquasto S Susan E. Morse P Robert Greenhut D Woody Allen, Charlotte Rampling, Jessica Harper, Marie-Christine Barrault, Tony Roberts | USA | 89 min | 1:1,85 | sw | 25. September 1980

4.9.80

Das Traumhaus (Ulrich Schamoni, 1980)

Zum dritten (und letzten) Mal nutzt Ulrich Schamoni das eigene Haus (Furtwänglerstraße 19 in Berlin-Grunewald) als Bühne eines kleinen kinematographischen Welttheaters: vier junge Leute (drei Mädchen, ein Junge) verwirklichen in einem verwunschenen Anwesen den Traum vom alternativen Leben jenseits des allgemeinen Rattenrennens. Doch das Idyll ist bedroht: die eiskalte Baulöwin Sybille Schacht-Blessmann (Judy Winter) plant den Abriß des irdischen Paradieses zugunsten einer modern-beliebigen Eigenheimsiedlung. Beistand erhält die weltferne Wohngemeinschaft in Gestalt des Ingenieurs Conrad Kolberg (Horst Frank), der die Villa Kunterbunt vor der Zerstörung bewahrt, indem er sie mit technokratischer Radikalität zum ökologischen Musterbau umgestaltet. Im Ergebnis bleibt eine zeitgerechte Hülle bestehen, indes der unverwechselbare Geist des Ortes ausgetrieben ist. Mit ironischer Wehmut veranschaulicht Schamoni (nach einem zivilisationskritischen (jedoch recht umständlichen) Drehbuch von Wolfgang Menge) den unauflöslichen Widerspruch von Utopie und Realität.

R Ulrich Schamoni B Wolfgang Menge K Igor Luther M Peter Herbolzheimer A Will Kley, György Janoschka Ko Barbara Naujok S Dörte Völz P Ulrich Schamoni, Regina Ziegler, Willi Benninger D Horst Frank, Judy Winter, Lesley Malton, Jakobine Engel, Jochen Schroeder, Kika Mol | BRD | 113 min | 1:1,66 | f | 4. September 1980

# 1183 | 31. Dezember 2019

25.7.80

Dressed to Kill (Brian De Palma, 1980)

Dressed to Kill

»I moaned with pleasure at his touch. Isn’t that what every man wants?« – »I don't know ... is it?« Eine Frau unter der Dusche und ein blutiger Messermord, der verhängnisvolle Schritt vom Wege und die abgründige Erotik der Blondinen, feinschmeckerische Brutalität und elegant inszenierte Schaulust ... Man könnte behaupten, daß Brian De Palma mit seinen Filmen vor der Tatsache kapituliert, daß seit Alfred Hitchcock jeder Thriller in dessen Schatten steht, man kann aber auch der Ansicht sein, daß De Palma seine Werke ganz bewußt in das Licht stellt, das Hitchcock angezündet hat. Schon mit dem wunderbar aufschlußreichen Titel »Dressed to Kill« wird klargelegt, daß es sich bei dem Werk – das von einer frustrierten Ehefrau (Angie Dickinson) und einem ambivalenten Seelenklempner (Michael Caine), von einem sonderlingshaftem Sohn und einer Nutte mit Herz erzählt – um eine hingebungsvoll-schmalose Be- und Verarbeitung von »Psycho« handelt – dessen pornographische, pathologische und voyeuristische Aspekte De Palma genüßlich ins Surreale steigert. Dadurch geht er allerdings der kontrollierten Kälte und Modellhaftigkeit seines Vorbildes verlustig – aber irgendwie muß sich ja auch ein genialischer Adept vom Vorturner unterscheiden ...

R Brian De Palma B Brian De Palma K Ralf Bode M Pino Donaggio A Gary Weist Ko Gary Jones, Ann Roth S Jerry Greenberg P George Litto D Michael Caine, Angie Dickinson, Nancy Allen, Keith Gordon, Dennis Franz | USA | 105 min | 1:2,35 | f | 25. Juli 1980

14.6.80

Le dernier métro (François Truffaut, 1980)

Die letzte Metro

1942. Paris ist von den Deutschen besetzt. Im théâtre Montmartre wird ein neues Stück geprobt. Lucas Steiner (Heinz Bennent), jüdischer Intendant und Besitzer der Spielstätte, ist untergetaucht. Seine Frau Marion (Catherine Deneuve), umschwärmter Star des Hauses, bemüht sich nach Kräften, den Betrieb am Laufen zu halten. Der hitzköpfige Nachwuchsschauspieler Bernard Granger (Gérard Depardieu) ist ihr dabei nicht nur eine Hilfe … Eine delikate Dreieckskonstellation als Aufhänger eines atmosphärischen Zeitbildes: François Truffaut, der die Okkupation seiner Geburtsstadt als Kind erlebte, erinnert (sich) an Schwarzmarkt und Sperrstunde, an Widerstand und Kollaboration, gestaltet seinen Film jedoch nicht als düsteres Panorama, eher als schillerndes Divertimento, als Aufeinanderfolge schlaglichtartiger (Alltags-)Beobachtungen. Ein geschmuggelter Schinken im Cellokasten, aufgemalte Seidenstrümpfe oder Autoscheinwerfer, die als Bühnenbeleuchtung dienen, haben die gleiche erzählerische Relevanz wie antisemitische Hetzreden im Rundfunk, nächtliche Besuche der Gestapo oder das Leben im Kellerversteck. Daß »Le dernier métro« über besinnliches Qualitätskino dennoch weit hinausgeht, verdankt sich neben Truffauts tiefem Humanismus und dem differenzierten Spiel der Darsteller insbesondere der dramaturgischen Idee, einen der Handelnden aus dem Spiel zu nehmen, das er gleichwohl lenkt: Lucas Steiner, der zwangsweise »Verschwundene«, inszeniert das Drama »La disparue«, von seinem heimlichen Zufluchtsort unter der Bühne aus – so wird er zum Symbol des Geächteten, das eben nicht verschwindet, das sich nicht sang- und klanglos vernichten läßt, das fortbesteht und weiterwirkt.

R François Truffaut B François Truffaut, Suzanne Schiffman, Jean-Claude Grumberg K Nestor Almendros M Georges Delerue A Jean-Pierre Kohout-Svelko Ko Lisele Roos S Martine Barraqué P François Truffaut D Catherine Deneuve, Gérard Depardieu, Heinz Bennent, Andréa Ferréol, Jean Poiré, Jean-Louis Richard | F | 131 min | 1:1,66 | f | 16. September 1980

# 950 | 3. Juni 2015

23.5.80

The Shining (Stanley Kubrick, 1980)

Shining

Overacting at the Overlook Hotel: Die feixende Grimassenschneiderei von Jack Nicholson (als blockierter Schriftsteller Jack Torrance) und das nölige Gewimmer von Shelley Duvall (als dessen beklommene Ehefrau Wendy Torrance) dominieren den parapsychologischen Haunted-House-Schrecken wie eine Axt das Holz – der Einzige, der nicht mit schauderbarer Penetranz des Wahnsinns fette Beute spielt, ist der sechsjährige Danny-Torrance-Darsteller Danny Lloyd. Doch weder reißerische Großschauspielerei noch visuelle Prachtentfaltung oder die recht vordergründige Masche, praktisch jeder Einstellung des Films durch den extensiven Einsatz moderner Musik (Bartok, Penderecki, Ligeti) einen Effekt von Beunruhigung oder Panik abgewinnen zu wollen, lassen echte Herzensangst aufkommen. Stanley Kubricks Strategien zur Emotionserzeugung haben allenfalls theoretische Wirkung, sein künstlerischer Kontrollzwang mündet immer wieder in aseptischem Perfektionismus. Die klinische Intellektualität des Regisseurs allerdings, sein eisig-ironischer Blick auf die Welt und die sie bevölkernden Zweibeiner, verwandeln das Genrestück in eine grotesk-brutale Zergliederung des Systems Vater-Mutter-Kind. Unter idealen Beobachtungsbedingungen, in winterlicher Isolation, unternimmt Kubrick eine höhnische Analyse kleinfamiliärer Verhältnisse und der ihnen innewohnenden Zerstörungskräfte. So überzeugt »The Shining« vielleicht nicht als Horrorschocker, triumphiert aber als sardonische Familienfarce – forever … and ever … and ever.

R Stanley Kubrick B Stanley Kubrick, Diane Johnson V Stephen King K John Alcott M diverse A Roy Walker Ko Milena Canonero S Ray Lovejoy P Stanley Kubrick D Jack Nicholson, Shelley Duvall, Danny Lloyd, Scatman Crothers, Philip Stone | UK & USA | 119 min | 1:1,66 | sw | 23. Mai 1980

21.5.80

Mon oncle d’Amérique (Alain Resnais, 1980)

Mein Onkel aus Amerika

»La seule raison d’être d'un être, c’est d’être.« Wie eigentlich funktioniert der Mensch? Der Verhaltensbiologe Henri Laborit erläutert seine diesbezüglichen (Hypo-)Thesen, aus denen Jean Gruault eine Filmerzählung für Alain Resnais generiert. Der einzige Grund eines Lebewesens zu leben ist zu leben, seine Struktur zu bewahren, weiterzuleben. Drei Lebewesen, drei Versuchstiere: Jean Le Gall, großbürgerlich-intellektueller Technokrat; Janine Garnier, Schauspielerin aus kommunistischer Pariser Familie; René Ragueneau, leitender Angestellter mit bäuerlichen Wurzeln. »Mon oncle d’Amérique«, angelegt wie eine populärwissenschaftliche Enquête, entfaltet und verwickelt die Biographien der drei Protagonisten, um Laborits Theorien über die Anlage des dreistufigen menschlichen Gehirns zu illustrieren: die (Basis-)Triebe des Selbsterhalts und der Fortpflanzung; die Gefühle und die Erinnerung: Glück und Trauer, Angst und Zorn und Liebe (ein lebendes Wesen, sagt Laborit, ist ein Gedächtnis, das handelt); die Fähigkeit zu assoziieren, zu erfinden, Imaginäres zu realisieren. Wie eigentlich funktioniert ein Film? »Mon oncle d’Amérique« beobachtet nicht nur das Verhalten der drei Anschauungsobjekte in Bezug auf ihre Umgebung (wir, sagt Laborit, sind Produkte der anderen, wenn wir sterben, sterben all jene, die uns gemacht haben), zeigt nicht nur Selbsterhaltung, nicht nur Verlangen nach Belohnung und Furcht vor Strafe, nicht nur Menschen auf der Flucht oder im Kampf oder von den äußeren Umständen gelähmt: Indem Resnais die Hauptfiguren seines Films immer wieder mit historischen Leinwandheld(inn)en kurzschließt – Roger Pierre (Jean) und Danielle Darrieux; Nicole Garcia (Janine) und Jean Marais; Gérard Depardieu (René) und Jean Gabin –, studiert er (ganz spielerisch, ohne endgültige Ergebnisse zu postulieren) mit der Natur des Menschen auch das Wesen des Kinos. PS: »L'Amérique, ça n'existe pas … Je le sais, j'y ai vécu.«

R Alain Resnais B Jean Gruault V Henri Laborit K Sacha Vierny M Arié Dzierlatka A Jacques Saulnier Ko Catherine Leterrier S Albert Jurgenson P Philippe Dussart D Roger Pierre, Nicole Garcia, Gérard Depardieu, Pierre Arditi, Henri Laborit | F | 125 min | 1:1,66 | f | 21. Mai 1980

# 817 | 21. Dezember 2013

12.4.80

Bad Timing (Nicolas Roeg, 1980)

Blackout – Anatomie einer Leidenschaft

»They’re happy.« – »That’s because they don’t know each other well enough yet.« Gemälde von Gustav Klimt und Egon Schiele. »Der Kuß« und »Der Tod und das Mädchen«. Ein Mann, eine Frau, versunken in die Betrachtung der Bilder. Tom Waits singt: » Well, it's just an invitation to the blues.« Ein Rettungswagen rast durch das nächtliche Wien. Eine Frau, bewußtlos, ein Mann, sprachlos. Milena (Theresa Russell) hat einen Selbstmordversuch unternommen, ihr Freund Alex (Art Garfunkel) hat sie gefunden. Ein Inspektor (Harvey Keitel) untersucht Milenas Fall, um Widersprüche in Alex’ Aussagen aufzuklären. Noch radikaler als in seinen vorhergehenden Werken hebt Nicolas Roeg in »Bad Timing« die Chronologie die Ereignisse auf. Zeitschichten existieren im Universum des Films parallel, Gestern und Heute (und Morgen) bilden das Mosaik eines erotischen Melodramas, eines psychologischen Thrillers, einer unsentimentalen Beziehungsstudie. »If we don’t meet, there could always be the possibility that it would have been perfect.« Das Verhältnis zwischen dem kontrollierten Intellektuellen (der am Geburtsort der Psychoanalyse die Geheimnisse der Seele erforscht) und der impulsiven Hedonistin (die Symptome einer bipolaren Störung zeigt) entwickelt die hohe Gefühlsamplitude eines amour fou – einerseits Überschwang bis zur Hysterie, andererseits Depression bis zur (Selbst-)Zerstörung. »Leave and you kill me, leave and I’m dead.« Alex’ beharrliches Dominanzstreben, seine obsessive Eifersucht, Milenas unstillbarer Liebeshunger, ihre aggressive Freizügigkeit lassen die Affäre schließlich in ein Debakel münden. Ein Koma, eine Vergewaltigung, eine Nacht im Krankenhaus. Ein stummes Wiedersehen, nach Jahren, in einer anderen Stadt. Eine Narbe. Ein Fluß, über den keine Brücke führt. Billie Holiday singt: » The same old story. It's as old as the stars above.«

R Nicolas Roeg B Yale Udoff K Anthony Richmond M diverse A David Brockhurst Ko Marit Allen S Tony Lawson P Jeremy Thomas D Art Garfunkel, Theresa Russell, Harvey Keitel, Denholm Elliott, Daniel Massey | UK | 123 min | 1:2,35 | f | 12. April 1980

# 1064 | 31. Juli 2017

5.3.80

Glück im Hinterhaus (Herrmann Zschoche, 1980)

Karl Erp (Dieter Mann), 40, Leiter einer Ostberliner Bücherei, Genosse, Ehemann, Familienvater, Bewohner eines Hauses mit Garten am Stadtrand – ein sozialistischer Arrivist, den die Erinnerung an hochfliegende Jugendträume und ehrgeizige Berufspläne nicht mehr erschüttern kann. Es ist die Liebe, die Erp aus der Bahn wirft, es ist die plötzlich aufflammende Leidenschaft für die ambitionierte Nachwuchsbibliothekarin Fräulein Broder (Ute Lubosch), die diesem Mann in den sogenannten besten Jahren die Mittelmäßigkeit seines geordneten Lebens an der Seite einer angepaßten Hausfrau (Jutta Wachowiak) schlagartig bewußt macht. Der romantische Reiz einfacher Verhältnisse (Hinterhof, Ofenheizung, Außenklo) verfliegt indes schnell, und auch die Ansprüche der jungen Frau (an Idealismus, Integrität, Initiative) setzen Erp unter unerwarteten Druck … Herrmann Zschoche inszeniert Ulrich Plenzdorfs lakonische Adaption des Romans »Buridans Esel« von Günter de Bruyn mit spröder Distanz zu den Figuren und ihren Haltungen – zwar fällt der eine oder andere mokante Seitenblick ins real-existierende Justemilieu und auf fortschrittlich tuenden Chauvinismus, doch gebricht es »Glück im Hinterhaus« an der nadelfeinen Ironie der Vorlage, in der sich die Chronik einer Midlife-Crisis zum kritisch-amüsanten Panorama postrevolutionärer Kleinbürgerlichkeit weitet.

R Herrmann Zschoche B Ulrich Plenzdorf V Günter de Bruyn K Günter Jaeuthe M Günther Fischer A Peter Wilde Ko Christiane Dorst S Monika Schindler P Rolf Martius D Dieter Mann, Ute Lubosch, Jutta Wachowiak, Käthe Reichel, Gerry Wolff | DDR | 97 min | 1:1,37 | f | 5. März 1980

8.2.80

Cruising (William Friedkin, 1980)

Cruising

»I am with someone.« – »Aren’t we all?« William Friedkins in eiskaltes Blau und ledernes Schwarz getauchter Großstadt-Thriller bietet zwar eine Reihe von brutal abgestochenen schwulen Leichen auf, aber mehr als für die Identität des Täters interessiert sich »Cruising« für die Identität des (verdeckten) Ermittlers: Steve Burns (Al Pacino) entdeckt als Undercover-Cop nicht nur eine fremde, seltsame Welt, sondern stößt dort vor allem auf ihm bislang unbekannte Seiten seiner selbst. Während die hochempfindliche Kamera (James Contner) sowie der flimmernd-nächtliche Score (Jack Nitzsche) zu jedem Zeitpunkt das Schlimmste erwarten lassen, verstört die (niemals abschätzige) Inszenierung immer wieder gezielt durch radikale Ellipsen, in denen fünfaktige persönliche Dramen verschwunden sein könnten, und durch unbegreifliche Momente, die keinerlei Erklärung erfahren – wie zum Beispiel der Deus-ex-machina-Auftritt eines muskelbepackten, Cowboyhut, Jockstrap und Stiefel tragenden Schwarzen, der beim Verhör auf dem Polizeirevier schallende Ohrfeigen verabfolgt. Wenn Steve am Ende der Erzählung sich selbst – und damit dem Zuschauer – via Spiegel in die Augen schaut, scheint er weniger zu fragen, wer er (geworden) ist, als vielmehr die – vielleicht unbequeme, vielleicht befreiende – Antwort zu kennen. Seine Freundin (Karen Allen) probiert unterdessen die Ledermütze auf … »Who’s here? I’m here. You’re here.«

R William Friedkin B William Friedkin V Gerald Walker K James Contner M Jack Nitzsche A Bruce Weintraub Ko Robert De Mora S Bud Smith P Jerry Weintraub D Al Pacino, Paul Sorvino, Karen Allen, Richard Cox, Don Scardino | USA & BRD | 102 min | 1:1,85 | f | 8. Februar 1980

6.2.80

On a volé la cuisse de Jupiter (Philippe de Broca, 1980)

Wer hat den Schenkel von Jupiter geklaut?

»Quel voyage de noces!« Le retour du »Tendre poulet«: Nachdem sie noch schnell ein paar Drogendealer hopsgenommen hat, eilt Kommissarin Tanquerelle aufs Rathaus, um ihren geliebten Professor Lemercier zu ehelichen. Gleich nach dem Jawort reisen Lise (Annie Girardot) und Antoine (Philippe Noiret) in die Flitterwochen nach Griechenland, wo sie – zusammen mit einem anderen französischen Paar – unversehens in einen Fall von mörderischem Kunstraub und internationalem Antikenschmuggel verwickelt werden. Statt über dem (nicht mehr ganz so) jungen Glück den ägäischen Honigmond scheinen zu lassen, schickt Philippe de Broca seine Protagonisten in halsbrecherischem Schweinsgalopp durch ein bald postkartenidyllisches, bald gefahrenträchtiges Klischeehellas voller klassischer Altertümer und sirtakidurchklungener Landschaften, malerischer Sonnenuntergänge und begriffsstutziger Beamter. Ein mediterranes Divertimento ohne störenden Tiefsinn.

R Philippe de Broca B Michel Audiard, Philippe de Broca K Jean-Paul Schwartz M Georges Hatzinassios A Mikes Karapiperis Ko Catherine Leterrier S Henri Lanoë P Alexandre Mnouchkine, Georges Dancigers, Robert Amon D Annie Girardot, Philippe Noiret, Catherine Alric, Francis Perrin, Marc Dudicourt | F | 100 min | 1:1,66 | f | 6. Februar 1980

# 1002 | 15. Mai 2016

1.2.80

American Gigolo (Paul Schrader, 1980)

Ein Mann für gewisse Stunden

»Emotions come, I don't know why.« Paul Schrader präsentiert in überaus geschmackvollen Bildern, erzählerisch aber relativ mitleidlos die thrillereske Höllenfahrt eines schönen, eitlen, dummen Mannes, des professionellen Frauenbeglückers Julian Kay (für die Rolle geboren: Richard Gere). Etwas gemildert wird die Fallhöhe allein dadurch, daß Los Angeles, der Ort, an dem dieser Pfau seine Federn spreizt, selbst wie ein Kreis der Hölle wirkt. Gerettet (jedenfalls emotional) wird der tief (auf sich selbst zurück-)gefallene Engel des Hochmuts durch die (echte) Liebe einer (verheirateten) Frau (mit sexy Zahnlücke: Lauren Hutton). Was durch Look (John Bailey), Outfits (Giorgio Armani) und (freundlich gesagt) Musik (Giorgio Moroder) ganz dem Geist (?) seiner Zeit verhaftet scheint, erhält durch Schraders präzisen, gleichwohl transzendentalen Style überraschend gül­tige, dem flüchtigen Moment enthobene Bedeutung. PS: »Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele?« (Nichts.)

R Paul Schrader B Paul Schrader K John Bailey M Giorgio Moroder A Edward Richardson Ko Giorgio Armani, Alice Rush S Richard Halsey P Jerry Bruckheimer D Richard Gere, Lauren Hutton, Hector Elizondo, Nina Van Pallandt, Bill Duke | USA | 117 min | 1:1,85 | f | 1. Februar 1980

17.1.80

Solo Sunny (Konrad Wolf, 1980)

»Blue – the dawn is growing blue. / A dream is coming true / when you will come away / some sweet day.« Sunny (fulminant-verletzlich: Renate Krößner) hat ihre Stelle in einem volkseigenen Betrieb gekündigt, um als Frontfrau einer (durchaus mittelmäßigen) Musikcombo kreuz und quer durch die Tristesse der ostdeutschen Provinz zu tingeln und im Rahmen eines »kleinen Programms von ausgewogener Qualität« die Arbeitermacht zu unterhalten. Auf dem Weg vom Wir zum Ich bleibt der (in jeder Beziehung) leidenschaftlichen Sängerin (»Ich nenne einen Eckenpinkler einen Eckenpinkler.«) nicht viel erspart. Der Humor des Films ist so trocken wie ein Hansa-Keks, und der real-existierende Alltag der bleiernen Honecker-Jahre wird von Konrad Wolf und Wolfgang Kohlhaase (Regie und Buch) mit freundlicher Härte abgeschildert. Zum Beispiel so: Sunny erwacht morgens in ihrer Wohnung neben irgendeinem Kerl, steht auf, sagt zu ihm, der sich erwartungsvoll räkelt: »Is’ ohne Frühstück.« Der Kerl will protestieren. Sunny legt nach: »Is’ auch ohne Diskussion.« Oder so: Sunnys ungetreuer Liebhaber (Alexander Lang als Diplom-Philosoph Ralph) findet im Bett ein Messer. Das Messer, mit dem sie ihn umbringen wollte. »Und warum«, fragt er entsetzt, »hast du es nicht gemacht?« – »Ich bin eingeschlafen.« Eine anrührende Geschichte vom Hinfallen und Aufstehen, von großer Erwartung und tiefer Enttäuschung, von beschwerlichen Umständen und vom schwierigen Glauben an sich selbst; einer der schönsten, aufrichtigsten und – bei aller Problematik – optimistischsten deutschen Filme überhaupt. Is’ auch ohne Diskussion. PS: »›She’s Sunny‹ they will say / someday.«

R Konrad Wolf, Wolfgang Kohlhaase B Wolfgang Kohlhaase, Konrad Wolf K Eberhard Geick M Günther Fischer A Alfred Hirschmeier Ko Rita Bieler S Evelyn Carow P Herbert Ehler D Renate Krößner, Alexander Lang, Heide Kipp, Dieter Montag, Klaus Brasch | DDR | 104 min | 1:1,66 | f | 17. Januar 1980