25.12.75

Das Netz (Manfred Purzer, 1975)

»Nur Mörder sind heute normal.« Der römische Herbst des Aurelio Morelli: Ein alternder Schriftsteller (Mel Ferrer), ausgeschrieben und abgeschrieben, meutert gegen eine Welt, die er von ganzem Herzen verabscheut, kämpft gegen die »Übermacht der Unreife, des Unrat und der Sittenlosigkeit«, nimmt Rache an den Frauen, an der Jugend, an allem, was er nicht (mehr) versteht. Der aalglatte Journalist Emilio Bossi (Klaus Kinski) wittert die ganz große Story, und sein Verleger erkennt in der Lebensgeschichte des klassisch gebildeten Einzelgängers, der (wenn er nicht gerade Mädchen meuchelt) schon mal atomverseuchte Fische beerdigt oder die Säulen eines Tempels umarmt, das ultimative Dokument einer Zeit der Verunsicherung: Morelli, selbsterklärter Revolutionär gegen alles »Verkommene, Obszöne, Gemeine, Tierische, Gefühllose«, ein Mann, der nach seinen (ohne Lust begangenen) Taten »Stille und ein Gefühl der Freiheit« verspürt, der im Töten wohl den verlorenen Kontakt mit der Wirklichkeit wiederzufinden hofft, ist der gestörte Held einer gestörten Gesellschaft … Marcel Reich-Ranicki erwies Trivialromancier Hans Habe, dem Verfasser der Vorlage, seine Reverenz, als er schrieb, der Autor liefere »Klischees mit individueller Note und mit sorgfältig ausgewählten Verzierungen; er offeriert zwar präfabrizierte Seelen, aber in solider, in allerbester Qualität.« Manfred Purzer (der für Produzent Luggi Waldleitner zuvor zahlreiche Simmel-Bestseller adaptierte) bemüht sich, die kolportagigen Vorzüge des Textes in seiner ersten Regiearbeit zu bewahren; ausgezeichnete Darsteller wie Heinz Bennent (als ermittelnder Kommissar) tragen das Ihre zum unterhaltsamen Gelingen dieser sonderbaren Mischung aus mokanter Charakterstudie und sentimentalem Psychothriller bei.

R Manfred Purzer B Manfred Purzer V Hans Habe K Charly Steinberger M Klaus Doldinger S Ingeborg Taschner P Luggi Waldleitner D Mel Ferrer, Klaus Kinski, Heint Bennent, Susanne Uhlen, Elke Sommer | BRD | 108 min | 1:1,66 | f | 25. Dezember 1975

# 798 | 13. November 2013

18.12.75

Barry Lyndon (Stanley Kubrick, 1975)

Barry Lyndon

»Fate had determined that he should leave none of his race behind him, and that he should finish his life poor, lonely and childless.« … »Barry Lyndon« berichtet von Aufstieg und Fall eines Aufschneiders, Glücksritters und Ehrgeizlings, der sich mit wechselndem Geschick durchs »galante« 18. Jahrhundert schwindelt. (»Gentlemen may talk of the age of chivalry, but remember the ploughmen, poachers and pickpockets whom they lead.«) Stanley Kubricks manische Ambition, die versunkene Ära bis zur letzten Gürtelschnalle perfekt zu rekonstruieren, ist legendär. Indem er historische Gemälde und Grafiken als Vorlagen für die delikate Visualisierung des Stoffes nutzt, rekonstruiert er nicht nur die Zeit, in der die Geschichte spielt, sondern zugleich das Bild, das die vorrevolutionäre Epoche von sich selbst entwarf. Dabei stellt er die beinahe unbegreifliche Schönheit jeder einzelnen Einstellung (Kamera: John Alcott) gegen einen Erzählton von fatalistischer Ironie. Die marionettenhaft agierenden Schauspieler, die erlesenen Kompositionen der Fotografie, die immer wieder von Gewalteruptionen aufgebrochene feierliche Langsamkeit, die strenge Symmetrie der Erzählbewegung, die gnadenlose Einordnung der Figuren in atemberaubende Dekors (Ausstattung: Ken Adam), der raffinierte Einsatz (fast ausschließlich) zeitgenössischer Musik, der süffisante Off-Kommentar schaffen eine hochgradig distanzierende Atmosphäre. »Barry Lyndon« ist bei allem gestalterischen Reichtum ein einmalig frostiger Film, der sich über die tiefe Zerrüttung jener schönen, alten Welt, der er sich zu nähern sucht, keinerlei Illusionen hingibt, ein in jeder Beziehung sin­guläres Werk von höchster filmischer Intelligenz und geradezu furchteinflößender Perfektion, ein spektakuläres Meisterstück des ästhetischen Pessimismus. PS: »Good or bad, handsome or ugly, rich or poor – they are all equal now.«

R Stanley Kubrick B Stanley Kubrick V William Makepeace Thackerey K John Alcott M diverse A Ken Adam S Tony Lawson P Stanley Kubrick D Ryan O’Neal, Marisa Berenson, Patrick Magee, Hardy Krüger, Steven Berkoff | UK & USA | 184 min | 1:1,66 | f | 18. Dezember 1975