27.10.67

La route de Corinthe (Claude Chabrol, 1967)

Die Straße von Korinth

»Je ne vous demande pas d’y croire, je vous propose d’y rêver.« Die Schweiz bei Hitchcock, das sind Berge, Seen und Schokolade. Claude Chabrol macht es ähnlich: Griechenland, das sind Marmor und Tempel, das blaue Meer und der zirpende Klang der Bouzouki. Die amüsant-nichtige Handlung seiner visuell recht attraktiven kleinen Spy-spoof-Etüde dreht sich um irgendwelche schwarzen Kästchen, die auf mysteriöse Weise die in der Ägäis stationierten NATO-Raketen stören. Ein Abwehrmann geht tot. Dessen naiv-beherzte Witwe Shanny (Jean Seberg) klärt den Fall auf – mehr oder weniger gegen den Willen des aalglatten Sektionschefs Sharps (Michel Bouquet), der lieber seiner Loukoum-Sucht frönt als den nachrichtendienstlichen Pflichten nachzukommen, dafür unterstützt von Dex (Maurice Ronet), einem Kollegen des Verstorbenen und baldigen love interest der Hinterbliebenen … Zum zweiten Mal nach »Marie-Chantal contre Dr. Kha« stellt Chabrol eine Frau, die wie ein schutzengelbehütetes Kind durch die Traumlandschaften des Verrats wandelt, in den Mittelpunkt einer parodistischen Spionageerzählung, und wiederum geht das Konzept auf. Zwar entwickelt der Regisseur die filmische Spannung bestenfalls theoretisch, schafft aber, vermittels dubioser Zauberkünstler und mörderischer Popen, weißer Kaninchen und Gräbern mit Telefonanschluß, verstreuter Rosenblätter, die den richtigen Weg weisen, und Statuen, die dunkle Geheimnisse bergen, eine Atmosphäre von lyrischer Absurdität.


R
Claude Chabrol B Daniel Boulanger, Claude Brulé V Claude Rank K Jean Rabier M Pierre Jansen A Marilena Aravantinou S Jacques Gaillard P André Genovès D Jean Seberg, Maurice Ronet, Michel Bouquet, Christian Marquand, Saro Urzì | F & I & GR | 105 min | 1:1,66 | f | 27. Oktober 1967

25.10.67

Le samouraï (Jean-Pierre Melville, 1967)

Der eiskalte Engel

»Qu’est-ce que vous pensez de Costello?« – »Je ne pense jamais.« Jean-Pierre Melvilles zeremonielle Studie über die totale Einsamkeit, über die Fremdheit unter anderen und in sich selbst, begleitet den Killer Jef Costello auf (s)einer Reise in den Tod. Jef (Alain Delon spielt ihn mit maskenhafter Ungerührtheit) ist ein Mann, der weder Vergangenheit noch Zukunft hat; seine Gegenwart kennt nur Aufträge und Gewohnheit, abgezirkelte Gesten und makellosen Stil. Die Erzählung – mit einem Kommissar, der niemals denkt (François Périer), mit einer Verlobten, die es mag, gebraucht zu werden (Nathalie Delon), mit einer Zeugin, die sphinxhaft schweigt (Cathy Rosier) – kombiniert bekannte Versatzstücke aus film noir und gangster movies, aber Melville geht es gar nicht um Handlung, sondern, wie seinem Protagonisten, um die vollendete Form der (Selbst-)Darstellung, um die fast parodistische Reduktion des Zeigens von Emotion. François de Roubaix trägt zu diesem Spiel der leeren Blicke und kalkulierten Bewegungen einen minimalistisch-elektronischen Soundtrack bei. Henri Decaës Kamera schwelgt in müdem Beige, staubigem Grau und frostigem Blau. Näher zum absoluten Nullpunkt drang das Kino selten vor – »Le samouraï« ist ein Film, der nichts gibt und nichts will, ein Film, der sich selbst genügt.

R Jean-Pierre Melville B Jean-Pierre Melville, Georges Pellegrin V Joan McLeod K Henri Decaë M François de Roubaix A François de Lamothe S Monique Bonnot, Yolande Maurette P Raymond Borderie, Eugène Lépicier D Alain Delon, François Périer, Nathalie Delon, Cathy Rosier, Michel Boisrond | F & I | 105 min | 1:1,85 | f | 25. Oktober 1967

Die Fahne von Kriwoj Rog (Kurt Maetzig, 1967)

»Ich trage eine Fahne / und diese Fahne ist rot. / Es ist die Arbeiterfahne / die Vater trug durch die Not. / Die Fahne ist niemals gefallen / so oft auch ihr Träger fiel. / Sie weht heute über uns allen / und sieht schon der Sehnsucht Ziel.« Kommunistische Bergleute aus dem Mansfelder Land (= die Guten) verstecken eine ihnen (»damals, im Jahre 1929«) von sowjetischen Klassenbrüdern geschenkte Fahne (Symbol!) erfolgreich vor Grubenherren, Nazis und Amerikanern (= den Bösen). Am Ende (des Zweiten Weltkriegs / der Erzählung) kommen die heißersehnten Befreier, und das kostbare Tuch knattert fröhlich im Wind: schöne rote Welt! Jenseits der politischen Schlichtheit ein erstklassig besetztes, hervorragend fotografiertes (Kamera: Erich Gusko), von Kurt Maetzig souverän und spannend inszeniertes Epos – so macht sozialistischer Realismus Spaß.

R Kurt Maetzig B Hans Albert Pederzani V Otto Gotsche K Erich Gusko M Gerhard Rosenfeld A Dieter Adam S Brigitte Krex P Manfred Renger D Erwin Geschonneck, Marga Legal, Harry Hindemith, Eva-Maria Hagen, Manfred Krug | DDR | 108 min | 1:2,35 | sw | 25. Oktober 1967

14.10.67

Herbst der Gammler (Peter Fleischmann, 1967)

»Seit wann gammeln Sie?«
– »Seit 14 Monaten.«
– »Und wie lange wollen Sie’s noch machen?«
– »Das weiß ich nicht. Das ist unbestimmt.« München, 1966. Peter Fleischmann und sein Kameramann Klaus Müller-Laue nähern sich mit forschender Zuneigung einer Gruppe jugendlicher Aussteiger: gemütliche Milchbärte, melancholische Langhaarige, schluffige Parkatypen, die partout keine Lust auf Erwerbsarbeit haben, lieber nachts unter Bäumen im Englischen Garten schlafen und vom Winter im Süden träumen, von einem warmen Plätzchen in Spanien oder in Istanbul. Für den ›Brisk‹-frisierten Bürger und seine ondulierte Gattin hört der Spaß genau an dieser Stelle auf. Denn gingen alle einer geregelten Tätigkeit nach, bräuchte man ja die ganzen Ausländer nicht – und überhaupt: »Die Gammler sind keine Menschen. Die könnte man notfalls auch vergasen.« Früher, ja, da habe es das alles nicht gegeben – ein »kleiner Führer« müßte wieder her, der das ganze Kroppzeug ins Lager sperrt. »Herbst der Gammler« breitet sein dokumentarisches Material eher unsortiert vor dem Betrachter aus, doch gerade die formale Sprödigkeit erlaubt eindringliche Blicke auf den ewigen Abscheu des Normalverbrauchers vor dem Systemverweigerer und auf die stolze (dabei auch ein wenig traurige) Renitenz all jener, die am Rande stehen oder sich bockbeinig selbst dort hinstellen.

R Peter Fleischmann K Klaus Müller-Laue S Peter Fleischmann P Hubert Schonger | BRD | 67 min | 1:1,37 | sw | 14. Oktober 1967

12.10.67

Wenn es Nacht wird auf der Reeperbahn (Rolf Olsen, 1967)

»Dieser Film ist ein Tatsachenbericht. Er schildert Begebenheiten der jüngsten Zeit.« Kiez-Reporter Danny Sonntag (Erik Schumann) auf der Spur einer brandheißen Story: Jungs aus gutem Hause (unter ihnen Fritz Wepper) versorgen bemittelte ältere Lustmolche mit Partyspaß und flotten Bienen, wobei die Mädchen unter Zuhilfenahme von selbstdestilliertem LSD gefügig gemacht werden, was wiederum nicht ohne gelegentliche (tödliche) Reibungsverluste abgeht. Väter und Söhne zwischen Elbchaussee und Großer Freiheit – in der Hamburger Gesellschaft bleiben das Verlangen in der Familie und der Generationenkonflikt eine Sache des Geschäfts … Rolf Olsen (der in einer markanten Nebenrolle als unsentimentaler Arzt im Hafenkrankenhaus auftritt) erzählt zügig und effizient, dabei streng pseudoauthentisch und vergnügt doppelmoralisch von netten Ganoven und eiskalten Rebellen, läßt Titten hüpfen und Messer blitzen wie ein gewiefter Boulevardjournalist, springt wendig aus dem Puff ins Polizeipräsidium, von der Luxusyacht auf den Schulhof, aus der Unternehmervilla ins Bumslokal. Die Männer in diesem herzlich-harten St.-Pauli-Nachtstück sind brutal oder geil oder sensibel (oder alles zusammen), die Frauen sind naiv oder berechnend oder willig (oder alles zusammen), und das Verbrechen ist die unvermeidliche Zivilisationskrankheit dieser besten aller käuflichen Welten, in der die wahren Monster niemals auf die Titelseite geknallt werden.

R Rolf Olsen B Rolf Olsen K Franz X. Lederle M Erwin Halletz A Günther Kob S Renate Willeg P Heinz Willeg D Erik Schumann, Fritz Wepper, Jürgen Draeger, Konrad Georg, Marianne Hoffmann | BRD | 98 min | 1:1,66 | f | 12. Oktober 1967

11.10.67

Oscar (Edouard Molinaro, 1967)

Oscar

»Je suis zinzin!« Ein Vormittag im Hause des Unternehmers Bertrand Barnier (Louis de Funès): Barniers minderjährige Tochter verkündet greinend, ein Kind von Barniers gefeuertem Chauffeur Oscar zu erwarten, der wiederum vor lauter Kummer über seine Entlassung zum Südpol aufgebrochen ist, Barniers Angestellter Martin verkündet fröhlich, seinem Chef (Barnier) 600.000 Francs gestohlen zu haben, um Barniers Tochter, die er zu ehelichen gedenkt, die aber gar nicht Barniers Tochter ist, ein angemessenes Leben bieten zu können, Barniers Dienstmädchen verkündet stolz ihre Kündigung, um den aristokratischen Verlobten der Tochter Barniers zu heiraten; drei Koffer kursieren, einer voller Banknoten, einer voller Diamanten, einer voller Damenwäsche; Barnier verliert immer wieder den Verstand, fegt immer wieder die Bruchstücke seiner selbst auf, setzt sich immer wieder neu zusammen. Längst ist der Irrsinn des bürgerlichen Lebens zur Normalität geworden, wenn es nicht sowieso immer schon so war. Star der subtilen Holzhammerkomödie ist, neben dem hochexplosiven Hausherrn, das von Georges Wakhévitch, in einer Art Markart-Stil des Nuklearzeitalters, entworfene Interieur: ein innenarchitektonischer Amoklauf zwischen Plüsch und Pop-Art, ein piranesieskes Luftschloß des modernistischen Barock, ein grellbunter Fiebertraum des bourgeoisen Futurismus. »Silence!«

R Edouard Molinaro B Jean Halain, Edouard Molinaro, Louis de Funès V Claude Magnier K Raymond Pierre Lemoigne M Georges Delerue A Georges Wakhéwitch S Monique Isnardon, Robert Isnardon P Alain Poiré D Louis de Funès, Claude Rich, Mario David, Claude Gensac, Dominique Page | F | 85 min | 1:2,35 | f | 11. Oktober 1967

9.10.67

Peppermint frappé (Carlos Saura, 1967)

Pfefferminz Frappé

Eine einfache Geschichte: Julián, alleinstehender Radiologe in einer zentralspanischen Provinzstadt, trifft seinen besten Freund aus Kindertagen wieder und verfällt dessen attraktiver junger Ehefrau, die in ihm Erinnerungen an eine vorzeiten beobachtete Karfreitagstrommlerin wachruft … Juliáns gespaltene Persönlichkeit – erzkatholischer Kulturbürger und heimlicher Erotomane – spielt die (beiden) Hauptrolle(n) in einem intimen Gesellschafts- und Beziehungsthriller, der Motive aus Buñuels Kriminalpersiflage »Ensayo de un crimen« und Hitchcocks surrealer Totenmesse »Vertigo« variiert. Der (Bieder-)Mann erscheint als Gefangener seiner Obsession, wird zwangsgesteuert von Gespenstern der Vergangenheit. Symbole dieser Besessenheit sind ein Paar falscher Wimpern und das penetrant oft ausgeschenkte altmodische Getränk, das dem Film seinen Titel gibt: giftgrüner Pfefferminzlikör auf gestoßenem Eis … »Yo voy soñando caminos
de la tarde«, heißt es in einem mehrfach zitierten Gedicht von Juliáns Lieblingslyriker Antonio Machado: Träumend gehe ich Wege im Abend. Carlos Saura folgt diesen Wegen über Grate zwischen Geist und Fleisch, zwischen Vorstellung und Gier, sowie zwischen Tradition und Moderne, womit sich die Innenschau des doppelgesichtigen Röntgenarztes zum allegorischen Zeitbild weitet. Die Kameraarbeit kombiniert ruhiges Betrachten und erregte (Kreis-)Bewegungen; die Zerrissenheit des Helden spiegelt sich in den beiden von Geraldine Chaplin gespielten Frauenfiguren: die rasante (blonde) Elena verkörpert das (sich spöttisch entziehende) Ideal, in deren Persona peu à peu die unscheinbare (brünette) Ana gedrängt wird. Das Ende ist konsequent zweideutig: Der Eintritt des ersehnten Fetischs in die greifbare Wirklichkeit bedeutet ebenso sehr triumphale Befreiung wie Sieg der Knechtschaft. Keine einfache Geschichte.

R Carlos Saura B Carlos Saura, Rafael Azcona, Angelino Fons K Luis Cuadrano M Luis de Pablo A Emilio Sanz de Soto S Pablo G. del Amo P Elías Querjeta D Geraldine Chaplin, José Luis López Vázquez, Alfredo Mayo, Emiliano Redondo, Ana María Custodio | E | 92 min | 1:1,66 | f | 9. Oktober 1967

# 832 | 23. Januar 2014