22.11.68

Un soir, un train (André Delvaux, 1968)

Ein Abend … ein Zug

»Toute la pièce est un monologue.« Mathias (Yves Montand) ist Professor für Linguistik an einer flämischen Universität, seine französische Freundin Anne (Anouk Aimée) arbeitet als Kostümbildnerin. Ihre Beziehung ist nicht unproblematisch: Abgesehen von den charakterlichen Unterschieden zwischen dem kühlen Geisteswissenschaftler und der sensiblen Künstlerin schafft die Sprachgrenze, die das Land durchzieht, Distanz zwischen den Partnern. Anne entwirft die Gewänder für eine von Mathias eingerichtete Fassung der mittelalterlichen Moralität »Elckerlyc« (≈ »Jedermann«) – André Delvaux variiert diese metaphorische Pilgerfahrt eines Sterblichen, der vor seinem Tod Rechenschaft für seine Sünden ablegen soll, in der zweiten Hälfte des Films: Mathias reist mit der Eisenbahn zu einem Vortrag in einer anderen Stadt. Der Zug hält ohne Grund auf freier Strecke, Anne ist plötzlich verschwunden, Mathias findet sich, begleitet von zwei Fremden, im verlassenen Nirgendwo einer winterlich-öden Landschaft wieder. Mitten in der Nacht erreichen die drei Verirrten ein Dorf, dessen Bewohner eine unbekannte Sprache sprechen … Unnahbarkeit statt Nähe, Unverständnis statt Verständigung: »Un soir, un train«, von Ghislain Cloquet in ausgewaschenen Farben, mit traumhafter Klarheit fotografiert, gleicht einem modernen Mysterienspiel über Vereinzelung und gestörte Kommunikation. Jedermanns Leben windet sich als verschlungener Weg durch die eigene hermetische Gedankenwelt, wo aller Austausch mit einem Gegenüber unweigerlich zum dialogischen Selbstgespräch wird. 

R André Delvaux B André Delvaux V Johan Daisne K Ghislain Cloquet M Frédéric Devreese A Claude Pignot S Suzanne Baron P Mag Bodard D Yves Montand, Anouk Aimée, Hector Camerlynck, François Beukelaers, Michael Gough | B & F | 86 min | 1:1,66 | f | 22. November 1968

# 847 | 15. März 2014

20.11.68

Lady in Cement (Gordon Douglas, 1968)

Die Lady in Zement 

In seinem zweiten Fall stößt private detective Tony Rome (Sinatra) bei einem Tauchgang vor der Küste Floridas ganz zufällig auf eine »Lady in Zement«: Die Füße der schnittigen Blondine stecken in gewichtigen Schuhen, ihre Haare wogen lyrisch in der Strömung des Meeres. Obwohl der Fall, der sich daraus entwickelt (und (natürlich) weitere Opfer fordert), bis zur Auflösung (und darüber hinaus) völlig nebulös bleibt, erntet das (nach-) lässige Sequel die gleichen formalen Meriten wie sein Vorgänger. Zudem sorgen eine Reihe von schrulligen Charakteren (unter anderem Dan »Hoss Cartwright« Blocker als grober Klotz von einem Kleinganoven) und zahlreiche atmophärische Miniaturen (in diversen Nachtbars und Luxushotels Miamis) für vergnügliche Kurzweil. Raquel Welch bleibt dank explodierender Frisuren im Gedächtnis.

R Gordon Douglas B Marvin H. Albert, Jack Guss V Marvin H. Albert K Joseph Biroc M Hugo Montenegro A LeRoy Deane S Robert L. Simpson P Aaron Rosenberg D Frank Sinatra, Raquel Welch, Richard Conte, Martin Gabel, Dan Blocker | USA | 93 min | 1:2,35 | f | 20. November 1968

14.11.68

Die Toten bleiben jung (Joachim Kunert, 1968)

Kurz nach der Novemberrevolution wird ein junger Kommunist von reaktionären Freikorpsoffizieren »auf der Flucht« erschossen. Der Film verfolgt – basierend auf einem Roman von Anna Seghers – in sorgfältig gearbeiteten Parallelmontagen die Schicksale der Mörder sowie der Kameraden und Hinterbliebenen des Opfers (insbesondere seines nachgeborenen Sohnes) durch Weimarer Republik und »Drittes Reich« bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Joachim Kunert kondensiert die 700-seitige Vorlage, eine gesellschaftliche Gesamtschau und Epochendiagnose im Sinne des sozialistischen Realismus, dramaturgisch geschickt zu einem schlaglichtartigen Bilderbogen, der in pointierten Szenen (und offener Parteilichkeit) den Untergang einer herrschenden Klasse und die verlustreiche Heraufkunft ihrer Nachfolger darstellt. Die radikale Verknappung des Stoffs läßt die zahlreichen miteinander verknüpften Figuren freilich zu repräsentativen Typen schrumpfen, deren Handlungen an keiner Stelle persönlicher Motivation sondern ausschließlich einer zwangsläufigen historischen Mechanik folgen.

R Joachim Kunert B Christa Wolf, Ree von Dahlen, Günter Haubold, Gerhard Helwig, Joachim Kunert V Anna Seghers K Günter Haubold M Gerhard Wohlgemuth A Gerhard Helwig S Christa Helwig P Bernhard Gelbe D Barbara Dittus, Günter Wolf, Klaus-Peter Pleßow, Dieter Wien, Kurt Böwe | DDR | 112 min | 1:2,35 | sw | 14. November 1968

# 974 | 4. November 2015