15.11.73

Traumstadt (Johannes Schaaf, 1973)

»Flucht ist kein Ausweg.« Bundesdeutsche Gegenwart. Der Künstler Florian Sand (Per Oscarsson) sitzt im tiefen Loch einer Sinn- und Schaffenskrise, als ihn eine mysteriöse Offerte erreicht: Sein Schulfreund Klaus Patera lädt ihn ein, in die »Traumstadt« zu übersiedeln, einen Ort fernab der modernen Zivilisation, wo das Reich der absoluten Freiheit errichtet wurde. Zusammen mit seiner Frau Anna (Rosemarie Fendel), einer Börsenmaklerin, bricht Florian auf, reist durch felsige Wüstengegenden Zentralasiens, gelangt in ein biedermeierlich-mitteleuropäisch anmutendes Utopia – hier hat jeder Bürger das Recht, seine Individualität »unmittelbar und rein« zu verwirklichen, unter der Voraussetzung des völligen Respekts vor der Individualität des anderen, hier findet man das Domizil, das man sich immer schon wünschte, hier wird einem das Schnitzel serviert, bevor man sein Verlangen noch geäußert hat … Basierend auf dem einzigen Roman des visionären böhmischen Zeichners und Graphikers Alfred Kubin, inszeniert Johannes Schaaf einen Bilderstrom, der windungsreich vom Bizarr-Phantasmagorischen übers Panisch-Absurde ins Destruktiv-Apokalyptische flutet – Goya und Ensor, Buñuel und Fellini lassen grüßen. Pateras libertäre Wunschwelt (von Wilfried Minks genial als verplüscht-angestaubtes Puppenstuben-Shangri-La zwischen Trödelladen und Vorstadtkirmes ausgestattet) erweist sich schnell als geisttötender Alptraum ohne Ausweg: Totale Freiheit führt zur totalen Lähmung und mündet schließlich in totale Zerstörung. Auch der Film selbst nimmt sich (für den Betrachter nicht ganz unstrapaziös) das Recht zur bildwütigen Anarchie: Eine Fabel hängt lediglich fetzenhaft zwischen den Stationen dieses prunkvoll-assoziativen Happenings; es gelten die Gesetze der Décollage – bis nur noch ein schriller Schrei die Leinwand füllt.
R Johannes Schaaf B Johannes Schaaf, Rosemarie Fendel V Alfred Kubin K Gerard Vandenberg, Klaus König M Eberhard Schoener A Wilfried Minks S Russell Parker P Heinz Angermeyer D Per Oscarsson, Rosemarie Fendel, Eva Maria Meineke, Alexander May, Helen Vita | BRD | 124 min | 1:1,66 | f | 15. November 1973

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen