24.4.66

Joë Caligula – Du suif chez les dabes (José Bénazeraf, 1966)

Joe Caligula

Aus dem Argot-Lexikon: ›suif‹ = Probleme, Skandal, Zank; ›dabe‹ = Vater, Chef, Bordellbesitzer … Joë (Gérard Blain – »un petit mec, trapu, costaud, dingue«) kommt aus dem Süden nach Paris. Er kommt mit seiner Bande und mit seiner geliebten Schwester Brigitte (Jeanne Valérie – »une blonde, longue, au regard absent, mince«). Joë kommt, um Stunk zu machen, um die Bosse das Zittern zu lehren, um die Ordnung in Stücke zu hauen. Joë kommt, um die ehrwürdigen Größen der Unterwelt zu mißhandeln, zu erpressen, abzufackeln, um sie noch als Tote auf dem Weg zum Friedhof unter Feuer zu nehmen. »Il n’y a que la haine pour rendre les gens intelligents«, zitiert eine belesene Nutte aus Albert Camus’ Drama »Caligula«: »Nur der Haß macht die Menschen klug.« Haßt Joë? Ist er klug? »On a faim«, sagt Joë zu einem Alten, den er soeben mit dem Schlagring bearbeitet hat: Wir haben Hunger. Und ihr werdet uns bezahlen. Weil wir Hunger haben. Und weil ihr euren alten Arsch retten wollt … José Bénazeraf verarbeitet Genre-Bausteine und Milieu-Klischees zu einer absurd-brutalen Gangsterfilm-Aufstellung, zur distanziert-tragischen, zerdehnt-komischen Schilderung eines Generationenkonflikts. (Manche kommen, um aufzubauen, manche kommen, um niederzureißen.) Joë ist Held einer nihilistischen Ermächtigungsphantasie, einer somnabulen (Selbst-)Zerstörungvision, einer inzestuösen Pulp-Romanze. (Manche kommen, um zu leben, manche kommen, um zu sterben.) Bénazeraf zelebriert eine Geschichte ohne moralischen Mehrwert, jederzeit bereit, innezuhalten, Situationen durchzukosten, abzuschweifen, seinem Interesse zu folgen, ob einem Striptease oder einem Catfight, ob einem vorbeifahrenden Güterzug oder einem nächtlichen Spaziergang durch Paris. (Manche kommen, um zuzuschauen.) PS: Kurz nach der Premiere wird »Joë Caligula« verboten – wegen der »sinnlosen Anhäufung« von »scènes de violence, de torture et d’érotisme«. Drei Jahre später kommt eine gekürzte Fassung in die Kinos.

R José Bénazeraf B Gérard Trion, José Bénazeraf K Etienne Becker M diverse S Francine Grubert P José Bénazeraf D Gérard Blain, Jeanne Valérie, Ginette Leclerc, Maria Vincent, Jean-Jacques Daubin | F | 85 min | 1:1,66 | sw | 24. April 1966 (8. Januar 1969)

# 811 | 2. Dezember 2013

20.4.66

Ne nous fâchons pas (Georges Lautner, 1966)

Nimm’s leicht, nimm Dynamit

Vor fünf Jahren hat ›Tonio‹ Beretto (Lino Ventura) die Knarre an den Nagel gehängt; nun nennt er sich Antoine, betreibt einen Bootsverleih mit angeschlossener Tauchschule an der Côte d’Azur, und nur eine gewisse (schlagkräftige) Unduldsamkeit im zwischenmenschlichen Bereich erinnert noch an seine unbürgerliche Vergangenheit – die so vergangen (natürlich) nicht ist: Alte Freunde tauchen auf, bitten Antoine um einen Gefallen, überlassen ihm als Dankeschön ein paar Außenstände, deren Eintreibung unversehens einen veritablen Krieg entfesselt. Als zäher Widersacher tritt dem Exganoven (und den treuen Freunden, die er glücklicherweise hat) ein eleganter britischer ›Colonel‹ entgegen, der (auf der Jagd nach Gold) mit seinem Gefolge von kaltblütig-musikalischen Mods die französische Mittelmeerküste unsicher macht. Vom einfachen Schußwechsel mit Handfeuerwaffen steigern Regisseur Georges Lautner und Autor Michel Audiard die zunehmend rachsüchtige Auseinandersetzung über wechselseitige Sprengstoffanschläge bis hin zum Raketenangriff. In sonnendurchfluteten (wenn auch häufig von Explosionswolken vernebelten) Breitwandbildern voller comichafter Gewaltdarstellungen karikieren die Filmemacher neben den Stereotypen des Gangsterfilms insbesondere die Exzesse der pilzköpfigen Popkultur: im Vergleich zu Gitarre und Motorroller erscheinen Revolver und Dynamit als geradezu altmodische Waffen.

R Georges Lautner B Michel Audiard, Marcel Jullian, Jean Marsan, Georges Lautner K Maurice Fellous M Bernard Gérard A Jean Mandaroux S Michelle David P Alain Poiré D Lino Ventura, Jean Levebvre, Michelle Constantin, Mireille Darc, Tommy Duggan | F | 100 min | 1:2,35 | f | 20. April 1966

# 1052 | 27. Mai 2017

14.4.66

Ganovenehre (Wolfgang Staudte, 1966)

»Eine Leiche im Puff war noch nie eine gute Reklame.« Eine Gauner- und Nuttenkomödie aus dem Berlin der 1920er Jahre: Einbrecher Artisten-Orje (liebenswert-tumb: Mario Adorf), nach drei Jahren Brandenburg in die sogenannte Freiheit entlassen, findet dank seiner Freundin Nelly Unterkunft im Massagesalon »Venus von Milo« und Aufnahme in den Sparverein »Biene«, die Berufsorganisation der hauptstädtischen Zuhälter. So wird der (leicht beschränkte) Schränker nolens volens zum Luden, der sich freilich an den feinen Unterschied zwischen »hergeben« und »hingeben« ebensowenig gewöhnen kann wie an den strengen Komment seiner ehrpusseligen Standesgenossen … Vermutlich hatte Wolfgang Staudte eine parodistischen Schwank über die Doppelbödigkeit bürgerlicher Moralvorstellungen im Sinn (»Recht ist, was dem Verein nützt.«), doch seine in synthetischen Studiokulissen über die Bühne gehende Eingroschenoper (≈ Franz Biberkopf in der Pension Schöller) kommt – trotz glanzvoller Besetzung: Curt Bois als windiger »Seiden-Emil«, Gert Fröbe als klotziger »Importen-Paul«; dazu Helen Vita, Karin Baal, Ilse Pagé – kaum je über harmlos-betusame Klamottigkeit hinaus.

R Wolfgang Staudte B Curth Flatow, Hans Wilhelm V Charles Rudolph K Friedel Behn-Grund M Hans Martin Majewski A Werner Schlichting, Isabella Schlichting S Susanne Paschen P Wenzel Lüdecke D Mario Adorf, Curt Bois, Helen Vita, Karin Baal, Gert Fröbe | BRD | 94 min | 1:1,37 | f | 14. April 1966

# 1024 | 2. September 2016

10.4.66

Tokyo nagaremono (Seijun Suzuki, 1966)

Tokyo Drifter

Knallbunter japanischer Pop-Art-Traum von einem melvillesken gangster movie: Tetsu (ein ehemaliger – immer noch mit seiner kriminellen Vergangenheit verstrickter – Yakuza in strahlendem Hellblau) ist das Inbild von Ehre und Treue, und genau diese Eigenschaften sind es, die ihn in einer Welt der Ehr- und Treulosigkeit zu einem heimatlosen (aber dennoch schlag kräftigen) Drifter werden lassen … Ein Actionkrimi als üppige Stilblüte – Seijun Suzukis ironisch-pathetische Ballade der Einsamkeit schwelgt in sentimentaler Musik, artifiziellen Dekorationen und absurd-abstrakten Choreographien. Form follows form.

R Seijun Suzuki B Kohan Kawauchi K Shigeyoshi Mine M Hajime Kaburagi A Takeo Kimura S Shinya Inoue P Tetsuro Nakagawa D Tetsuya Watari, Chieko Matsubara, Hideaki Nitani, Ryuji Kita, Tsuyoshi Yoshida | JP | 89 min | 1:2,35 | f | 10. April 1966