31.3.61

Pleins feux sur l’assassin (Georges Franju, 1961)

Der Mitternachtsmörder 

»Mais où sont les funérailles d’antan?« Als er fühlt, daß es mit ihm zu Ende geht, legt der alte comte de Kéraudren (Pierre Brasseur) das Gewand eines Malteser-Ritters an, setzt sich in seinen geheimen Wandschrank und stirbt. Hinter einer Spiegelscheibe verborgen, beobachtet der Tote das weitere Geschehen: Solange die Leiche des Grafen verschwunden ist, können die Hinterbliebenen (unter ihnen Jean-Louis Trintignant als vorwitziger Medizinstudent und Marianne Koch als herb-sinnliche deutsche Cousine) ihr Erbe nicht antreten; während der Wartezeit schrumpft der Kreis der Anwärter auf das gräfliche Vermögen erheblich … Es ist nicht der von Boileau-Narcejac nachlässig konstruierte Zehn-kleine-Negerlein-Krimi, der Georges Franju interessiert (keiner der zahlreichen Todesfälle zieht polizeiliche Ermittlungen nach sich!), es sind vielmehr die Kulisse eines spitztürmig-verwinkelten Märchenschlosses, das Gemisch aus nachtwandlerischem Schattentheater und makabrem Schicksalsspiel voller Stimmenhören und Vogelgeflatter, die »Pleins feux sur l’assassin« ein eigentümlich schwarzes (und schwarzhumoriges) Kolorit verleihen. Halluzinatorische Qualität entwickelt der Film, wenn die mittelalterliche Familienlegende vom eifersüchtigen Ritter und seinem ungetreuen Weib mittels moderner Technik als publikumswirksames son-et-lumière-Spektakel im Schloßhof nachinszeniert wird (die verhinderten Erben brauchen Geld!): Einst und Jetzt fließen wie im Traum zusammen, bis die Gegenwart tödlich aus der Vergangenheit hervorbricht …

R Georges Franju B Pierre Boileau, Thomas Narcejac, Robert Thomas, Georges Franju K Marcel Fradetal M Maurice Jarre A Roger Briaucourt S Gilbert Natot P Jules Borkon D Jean-Louis Trintignant, Marianne Koch, Philippe Leroy, Dany Saval, Pierre Brasseur | F | 95 min | 1:1,37 | sw | 31. März 1961

28.3.61

Die toten Augen von London (Alfred Vohrer, 1961)

»Ist es wahr, daß die Mortadella von Blinden gemacht wird?« fragte einst der Surrealist Benjamin Péret. »Die toten Augen von London« gibt hierauf keine Antwort – in Alfred Vohrers nebeldurchzogener erster Edgar-Wallace-Adaption beschäftigen sich die Blinden (unter ihnen Ady Berber, der österreichische Tor Johnson) nicht mit der Herstellung schmackhafter Wurstwaren sondern, im Auftrag geldgieriger Hintermänner, mit der gewinnbringenden Ersäufung reicher älterer Herren. Neben dem effektsicheren Regisseur geben auch Klaus Kinski (als dubioser Sekretär mit dunkler Vergangenheit und verspiegelter Sonnenbrille) sowie Kameramann Karl Löb, der wie kaum ein anderer deutscher Bildformulierer der 1960er Jahre das reißerische Helldunkel des Vulgärexpressionismus zu forcieren weiß, ihr erfreuliches Reihendebüt. Dazu: Karin Baal als blonde Unschuld, Wolfgang Lukschy als sinistrer Versicherungsmakler und der schrecklich integre Dieter Borsche als (sich selbst) wohlwollender Reverend.

R Alfred Vohrer B Trygve Larsen (= Egon Eis) V Edgar Wallace K Karl Löb M Heinz Funk A Matthias Matthies, Ellen Schmidt, Siegfried Mews S Ira Oberberg P Horst Wendlandt D Joachim Fuchsberger, Karin Baal, Dieter Borsche, Wolfgang Lukschy, Klaus Kinski | BRD | 99 min | 1:1,66 | f | 28. März 1961

17.3.61

Les godelureaux (Claude Chabrol, 1961)

Speisekarte der Liebe

Eine hysterische Gesellschaftsfarce, eine absurde Rachekomödie, ein nutzloser Film über nutzlose Menschen … Es beginnt eines schönen Tages auf dem boulevard Saint-Germain. Arthur (Charles Belmont) und seine Bande kommen mit ihrem Oldtimer angerauscht und finden den angestammten Parkplatz vor dem café de Flore besetzt. Der dort unstatthaft abgestellte Sportwagen wird kurzerhand weggetragen. Dessen Besitzer Ronald (Jean-Claude Brialy) schwört – »bei Satan!« – Vergeltung für den erlittenen Insult. Die übermütige Ambroisine (Bernadette Lafont) dient ihm als Werkzeug … Claude Chabrol persifliert Robert Bressons moralische Erzählung »Les dames de bois de Boulogne« als nihilistische Groteske der besitzenden Klasse: Die indiskret-uncharmante Pariser Bourgeoisie erscheint als Hort des galoppierenden Stumpfsinns und der freudlosen Dekadenz. Die ›godelureaux‹ (≈ geckenhafte Verführer) sind traurige Spaßvögel, die Stinkbomben werfen, Juckpulver verstreuen, Wohltätigkeitsveranstaltungen aufmischen und vor allem: Gefühle manipuieren, unterminieren, destruieren. Immer wieder (etwa indem er eine neo-römische (Zerstörungs-)Orgie mit einem gutbürgerlichen Abendessen parallelschneidet) weist Chabrol darauf hin, daß fiebriger Nonkonformismus und biedere Konvention zwei Seiten einer banalen Medaille sind.

R Claude Chabrol B Claude Chabrol, Paul Gégauff, Éric Ollivier V Éric Ollivier K Jean Rabier M Pierre Jansen A Charles Merangel S James Cuenet P Raymond Hakim, Robert Hakim D Jean-Claude Brialy, Bernadette Lafont, Charles Belmont, André Jocelyn, Jean Tissier | F & I | 99 min | 1:1,66 | sw | 17. März 1961

# 843 | 10. März 2014

Flucht nach Berlin (Will Tremper, 1961)

»Die deutsche Not« heißt ein Buch, in dem die Schriftstellerin Erika von Hornstein im Jahre 1960 Dutzende Biographien von DDR-Flüchtlingen vereint – eine einmalige Sammlung von Selbstaussagen, die ein eindringlich-differenziertes Bild vom Leben, besser gesagt: vom Nicht-mehr-leben-Können in der sogenannten »Zone« zeichnen. Zur gleichen Zeit, kurz vor dem Bau der Berliner Mauer, die das letzte Schlupfloch von Ost nach West verschließen wird, schleudert der flinke Dreigroschenreporter (»Deutschland, deine Sternchen«) und gegenwartsnahe Szenarist (»Die Halbstarken«) Will Tremper sein Regiedebüt auf die Leinwand, thematisiert darin (als einer der ganz wenigen Kinomacher seiner Zeit) die millionenfache Wanderung von einem Deutschland ins andere. Er tut dies anhand zweier, miteinander unselig verflochtener, Einzelschicksale: Bauer Güden (Narziss Sokatscheff) verweigert den Eintritt in die Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft seines Dorfes und haut ab; Genosse Baade (Christian Doermer), SED-Agitator der (Zwangs-)Kollektivierung, gerät wegen Güdens Flucht ins politische Zwielicht und setzt dem Abtrünnigen nach. Die dramatische Jagd führt – entlang von Autobahnen und Schienensträngen – ins undurchdringliche, beinahe mystisch wirkende Schilfdickicht am Berliner Grenzfluß Havel, wo es zum finalen Zweikampf kommt … Autorenfilmer Tremper, das ist sein Defizit und seine Stärke zugleich, schematisiert statt zu nuancieren, spitzt zu statt zu vertiefen, motzt auf statt abzuwägen; während (≈ indem) er wie eine Dampfwalze über den Acker der Geschichte schnauft, richtet er sein Augenmerk gleichermaßen auf ideologische Verblendung und opportunistisches Duckmäusertum, auf blinden Eigennutz und wohlstandssatten Stumpfsinn, kurz: auf das nationale Unglück, also: auf die deutsche Not. PS: »Es lebe die Freiheit!«

R Will Tremper B Will Tremper K Günter Haase, Gerd von Bonin M Peter Thomas S Will Tremper P Will Tremper, Michael Schwabacher D Christian Doermer, Narziss Sokatscheff, Susanne Korda | BRD | 103 min | 1:1,66 | sw | 17. März 1961

3.3.61

Lola (Jacques Demy, 1961)

Lola, das Mädchen aus dem Hafen

»C’est moi, c’est Lola!« La vie est une chanson oder: poetischer Realismus, schäumend überspült von der nouvelle vague. In Nantes (»Donne-moi la main …«) erwartet Lola (Anouk Aimée), die singende striptiseuse, sehnlichst die Heimkehr ihrer großen Liebe, erwartet Roland Cassard, der leicht blasierte Melancholiker, einen Wink des Schicksals, erwartet Frankie, der amerikanische Seemann, das (vielleicht nicht ganz so) flüchtige Vergnügen, das ein Hafen bieten kann, erwartet Cécile, die aufgeschlossene Vierzehnjährige, das Erwachsenwerden und seine verlockenden Geheimnisse, erwartet Céciles Mutter Madame Desnoyers (Elina Labourdette), die schon bessere Zeiten gesehen hat, die Rückkehr besserer Zeiten. Jacques Demy, der romantische Choreograph des französischen Kinos, phantasiert über Themen wie Treue und Erinnerung, erste Liebe und unvermeidlichen Abschied, verwebt – einfühlsam unterstützt von Michel Legrand (Musik) und Raoul Coutard (Kamera) – die Lebenslinien seiner Protagonisten zu einem zauberischen Muster, in dem sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft changierend zu überlagern scheinen. »Lola« mixt bedenkenlos Bressons lakonische Antipsychologie mit Ophüls’ barocker Üppigkeit, kreuzt die Überhöhungen des Hollywood-Musicals mit der Unmittelbarkeit der caméra-stylo, versammelt Matrosen und Schmuggler, Mütter und Söhne, Witwen und Töchter, Huren und Freier zu einem traumhaften Rondo auf dem Rummelplatz der Gefühle. »Pleure qui peut, rit qui veut.«

R Jacques Demy B Jacques Demy K Raoul Coutard M Michel Legrand A Bernard Evein S Anne-Marie Cotret, Monique Teisseire P Georges de Beauregard, Carlo Ponti D Anouk Aimée, Marc Michel, Alan Scott, Annie Duperoux, Elina Labourdette | F & I | 90 min | 1:2,35 | sw | 3. März 1961