26.3.75

Les innocents aux mains sales (Claude Chabrol, 1975)

Die Unschuldigen mit den schmutzigen Händen

Sie solle nicht vergessen, sagt, kurz vor Schluß des Films, der alerte Rechtsanwalt Légal (!) (Jean Rochefort) zu seiner Mandantin Julie Wormser (Romy Schneider), daß sie in einer Männerwelt lebe, mit Gesetzen, die von Männern für Männer gemacht wurden. Was dies bedeutet, hat Julie erlebt, in einem bizarren Psychothriller, der die Noir-Implikationen der klassischen Konstellation »reicher Mann – schöne Ehefrau – junger Liebhaber« als manieristische Travestie variiert. Claude Chabrol zeigt seine Protagonistin (im übrigen die buchstäblich einzige Frau in der Erzählung), Gattin eines aufs luxuriöse Altenteil retirierten Unternehmers und impotenten (?) Alkoholikers (Rod Steiger), schwankend zwischen skrupelloser Ungerührtheit und lähmender Verstörung, als vermeintliche Femme fatale, die auch dann, wenn sie glaubt, selbstbestimmt zu handeln, nur Spielball männlicher Machenschaften ist. Studierte er eine ähnliche Versuchsanordnung in seinem Meisterwerk »Le femme infidèle« mit beherrschter Subtilität, verbindet Chabrol in diesem Fall fantastische Handlungsumschwünge und schräge Schauereffekte, artifizielle Mittelmeerkulissen und nachtschwarzen Humor zu einem kriminalistischen (Geschlechter-)Soziogramm der exzentrischen Art.

R Claude Chabrol B Claude Chabrol V Richard Neely K Jean Rabier M Pierre Jansen A Guy Littaye S Jacques Gaillard P André Génovès D Romy Schneider, Rod Steiger, François Maistre, Jean Rochefort, Hans Christian Blech | F & I & BRD | 120 min | 1:1,66 | f | 26. März 1975

# 1109 | 10. Mai 2018

19.3.75

Tommy (Ken Russell, 1975)

Tommy

»See me, / feel me, / touch me, / heal me.« Krauses Pop-Passionspiel, das als »Rock Opera« firmiert: Der kleine Tommy Walker muß den Totschlag des unerwartet aus dem Krieg heimkehrenden Vaters durch Mutter (Ann-Margret) und deren Lover (Oliver Reed) miterleben; zum Nichtsgesehenhaben, Nichtsgehörthaben und Nichtssagen verdonnert, flüchtet der Junge mit kindlicher Konsequenz in weltvergessene Blind-, Taub- und Stummheit. Von Verwandten mißbraucht, von Kurpfuschern malträtiert, reift Tommy zum Manne (jesuslockig: Roger Daltrey) – und stößt unverhofft auf ein außerordentliches, tief in ihm schlummerndes Talent: Als autistischer Flipper-Star erobert er den Beifall, nach schockartiger Genesung auch die Seelen der heilsbedürftigen (All-)Gemeinheit – für einen kurzen Moment jedenfalls … Die christlichen Bezüge des »The Who«-Stücks sind so markant (und so durchsichtig) wie die satirischen Vergleiche von Gottesreich und Kulturindustrie. Ken Russell läßt mit »Tommy« eine disparate Nummernrevue (deftige Soli von Eric Clapton, Tina Turner, Elton John, Jack Nicholson und anderen) über die glitzernde Bühne gehen, die sich keinerlei formale Zügel auferlegt, die soziale Analyse zugunsten des visuellen Kicks jederzeit hintanstellt, die ihre Kritik an der Veräußerlichung von Befähigung, von Menschlichkeit, von Liebe in einem hektischen, grotesken, aufmerksamkeitsheischenden Bilderschwall selbst radikal veräußerlicht.

R Ken Russell B Ken Russell V Pete Townshend K Dick Bush, Ronnie Taylor M The Who A John Clark S Stuart Baird P Ken Russell, Robert Stigwood D Roger Daltrey, Ann-Margret, Oliver Reed, Elton John, Tina Turner | UK | 111 min | 1:1,85 | f | 19. März 1975

14.3.75

Falsche Bewegung (Wim Wenders, 1975)

Ein junger Mann will Schriftsteller werden. Seine Mutter schickt ihn auf eine Reise, damit er etwas erlebe und – vielleicht – sich selber entdecke. Unterwegs trifft er einen mundharmonikaspielenden Alten und ein stummes Mädchen, eine ätherische Schauspielerin und einen beleibten Poeten, einen traurigen Industriellen und, tatsächlich, sich selbst: einen, der schreiben will, ohne zu wissen worüber, der lieben will, ohne zu wissen wen, der teilhaben möchte, ohne dabeizusein … Wim Wenders, der filmen will, ohne zu erzählen, läßt sich von Peter Handke aus Goethes Bildungsroman »Wilhelm Meisters Lehrjahre« 100 bundesrepublikanische Minuten destillieren, ergeht sich in romantischem Weltschmerz und beziehungsängstlicher Seelenqual, in poetisierter Vergangenheitsbewältigung und zeitgeistiger Befindlichkeit. Integrales Moment der Gefühlsforschungsfahrt ist die Sicht auf das per Bahn und Auto durchquerte Terrain: (West-)Deutschland von Glückstadt im Norden bis zur Zugspitze im Süden, dazwischen Hamburg, Bonn, Frankfurt. Wenders, das ist zu spüren, möchte auf dieses Deutschland mit deutschen Augen sehen, so wie Ford als Amerikaner auf Amerika sah, oder Ozu als Japaner auf Japan. Dennoch entsteht der Eindruck, als läge eine gewisse Trauer in der Erkenntnis, daß der Blick nicht auf das Monument Valley oder in eine Tokioter Seitenstraße fällt, sondern auf die Norddeutsche Tiefebene und in das enge Rheintal, in winklige Gäßchen und auf trostlose Schlafstädte. Selbst das freie Panorama über sonnige Alpengipfel, das sich dem Wanderer am Ende der Reise bietet, kann als Bild der Versäumnis interpretiert werden, als zufälliger Schlußpunkt einer »falschen Bewegung«. In ebendieser (von Larmoyanz nicht immer zu unterscheidenden) Trauer über die eigene, unbefriedigende, als aufgenötigt empfundene Identität ist vermutlich das »Deutsche« des Films zu suchen und – vielleicht – zu finden.

R Wim Wenders B Peter Handke V Johann Wolfgang von Goethe K Robby Müller M Jürgen Knieper A Heidi Lüdi S Peter Przygodda P Bernd Eichinger, Peter Genée D Rüdiger Vogler, Hanna Schygulla, Hans-Christian-Blech, Nastassja Kinski, Peter Kern | BRD | 104 min | 1:1,66 | f | 14. März 1975

7.3.75

Serkalo (Andrei Tarkowski, 1975)

Der Spiegel

Bewußtseinsstrom? Privatmythologie? Reflexion? Mystizismus? Der Wald. Das Wasser. Der Wind. Das Zimmer. Das Buch. Die Kunst. Frauen mit Dutt, die in die Landschaft sehen. Scheunen, die im Regen brennen. Gedichte, die durch die Räume der Erinnerung schweben. Mütter, die wie Ehefrauen aussehen, die wie Mütter aussehen, die wie Ehefrauen aussehen. Väter, die Söhne zurücklassen, die zu Vätern werden, die Söhne zurücklassen. Söhne, die stottern, und die sich als Männer mit ihren Frauen streiten, und die sich irgendwann zum Sterben legen und dann an ihre Mütter denken, die in die Landschaft sehen, und an ihre Väter, von denen sie zurückgelassen wurden. Das Rad, es dreht sich, es dreht sich immer im selben Matsch, im Matsch der großen Geschichte, durch die sich das Schicksal des Einzelnen (des Vereinzelten) quält: durch allgegenwärtigen Krieg und durch die bodenlose Angst unter den starren Augen jener, deren Name nicht genannt werden darf, durch den Strom der aufgehetzten Massen und durch die Drohung mit endgültiger Vernichtung. Und das Innere, das Ich ist ein Spiegel des Äußeren, der Welt, und das Äußere, die Welt ist ein Spiegel des Inneren, des Ichs, und das Leben ist ein Sprung in den Brunnen der Zeit, und die Zeit steht still in der Ewigkeit der Schöpfung, und sie rast durch Grotten, die kein Mensch ersann, zum sonnenlosen Meer, und die Seele ist ein Gespinst von Reminiszenzen und Träumen, von Phantasien und Illusionen, und der Glaube ist ein Kelch auf einem Tisch, und die Liebe ist eine Frau mit einem Kind, und die Hoffnung ist ein Vogel, der auffliegt aus einer Hand. Bewußtseinsstrom. Privatmythologie. Reflexion. Mystizismus. Tarkowski.

R Andrei Tarkowski B Andrei Tarkowski, Alexander Mischarin, Arseni Tarkowski (Gedichte) K Georgi Rerberg M diverse A Nikolai Dwigubski S Ljudmila Feiginowa P Mosfilm D Margarita Terechowa, Ignat Danilzew, Larissa Tarkowskaja, Anatoli Solonizin, Oleg Jankowski | SU | 108 min | 1:1,37 | sw & f | 7. März 1975