28.3.63

Il gattopardo (Luchino Visconti, 1963)

Der Leopard

Sizilien im Jahr 1860: an der Seite einheimischer Rebellen kämpfen Garibaldis Rothemden gegen die Bourbonenherrschaft für ein vereinigtes Italien unter savoyischer Führung. Luchino Visconti, Sproß eines bedeutenden Mailänder Adelshauses, inszeniert seine Adaption des ersten (und einzigen) Romans des sizilianischen Aristokraten Giuseppe Tomasi di Lampedusa als bild- und tongewaltiges Panorama eines Epochenbruchs: eine alte Welt versinkt, eine neue Welt entsteht, eingefangen in Giuseppe Rotunnos brüchig-opulenten Technirama-Malereien, begleitet von Nino Rotas schwelgerisch-melancholischen Kompositionen. Im Mittelpunkt des episodisch strukturierten Epos: Don Fabrizio, Fürst von Salina (Burt Lancaster), als würdevoller Repräsentant einer abtretenden Klasse nicht nur Protagonist der Erzählung, sondern auch gefaßter Beobachter eines historischen Dramas, illusionsloser Kommentator politischer Umwälzungen, selbstreflektierter Rollenspieler in einem vielschichtigen Gesellschaftsstück. Wenn alles bleiben solle, wie es ist, müsse sich alles ändern, wird der alternde Fürst von seinem ehrgeizigen jungen Neffen belehrt – und tatsächlich ändert sich trotz gewaltig scheinender Verwerfungen im Grunde nichts, bleibt realiter alles beim Alten, abgesehen davon vielleicht, daß Ideale verraten werden, daß die Macht den Namen und das Geld die Taschen wechselt, daß die Leoparden, die Löwen, die Adler den Platz räumen für Schafe, Hyänen, Schakale. Neben Lancaster brillieren Alain Delon als aalglatter Karrierist, Claudia Cardinale als durchsetzungskräftige Schönheit, Serge Reggiani als standhafter Reaktionär, Rina Morelli als nervöse Frömmlerin, Paolo Stoppa als durchtriebener Emporkömmling in einem filmischen Fest, das die Feiernden konsequent mit der Ahnung des Todes umgibt.

R Luchino Visconti B Luchino Visconti, Suso Cecchi D’Amico, Pasquale Festa Campanile, Enrico Medioli, Massimo Franciosa V Giuseppe Tomasi di Lampedusa K Giuseppe Rotunno M Nino Rota A Mario Garbuglia S Mario Serandrei P Goffredo Lombardo D Burt Lancaster, Alain Delon, Claudia Cardinale, Paolo Stoppa, Rina Morelli, Romolo Valli, Serge Reggiani | I & F | 187 min | 1:2,35 | f | 28. März 1963

# 1158 | 19. April 2019

The Birds (Alfred Hitchcock, 1963)

Die Vögel

»Why are they doing this? Why are they doing this?« Beinahe eine Stunde lang nimmt Alfred Hitchcock sich Zeit, eine in sich ruhende, um sich selbst kreisende Welt zu entwerfen. Mit fast ermüdender Weitschweifigkeit schildert »The Birds« das zugleich heile und unheile Dasein der (fast beliebig wirkenden) Protagonisten, widmet sich ausführlich ihren kleinen Vergnüglichkeiten und belastenden Kümmernissen, breitet eingehend Biographien aus, die nicht frei sind von Ängsten und Beklemmung, aber letztlich, im Rahmen einer berechenbaren Unberechenbarkeit, durchaus geregelt verlaufen: Da ist Melanie (›Tippi‹ Hedren), die verwöhnte Erbin, der es an Verantwortungsbewußtsein mangelt, dort ist Mitch (Rod Taylor), der forsche Rechtsanwalt, der ernsthafte Bindungen scheut, da ist Lydia (Jessica Tandy), die Witwe, die ihren Sohn nicht loslassen kann, dort ist Annie (Suzanne Pleshette), die Lehrerin, die sich an eine verlorene Liebe klammert. Kaum merklich durchzucken Momente von Irritation den langen, ruhigen Fluß des Geschehens: eine Seemöwe, die aus heiterem Himmel eine Bootsfahrerin attackiert, Hühner, die nicht fressen wollen, ein Vogel, der nachts bei hellem Mondschein gegen eine geschlossene Haustür knallt. Ganz allmählich nimmt das Unbegreifliche seinen Lauf, schrittweise gerät die Welt aus den Fugen, sukzessive sinkt das Faßliche ins Unfaßbare. Aus gefiederten Freunden werden gnadenlose Killer, harmlose Geschöpfe mausern sich zu Gesandten der Apokalypse. Die Erklärung für die immer brutaleren Angriffe der Vögelschwärme bleibt aus. »The very concept is unimaginable«, befindet eine Expertin. Es geschieht, was geschieht. Der Schrecken ist vollkommen. »It's the end of the world!« ruft ein betrunkener Prophet. Hitchcock legt sich in dieser Hinsicht nicht fest: Er verzichtet auf die Einblendung des »The End«-Inserts.

R Alfred Hitchcock B Evan Hunter V Daphne du Maurier K Robert Burks M Oskar Sala, Remi Gassmann A Robert Boyle Ko Edith Head, Rita Riggs S George Tomasini P Alfred Hitchcock D Tippi Hedren, Rod Taylor, Jessica Tandy, Veronica Cartwright, Suzanne Pleshette | USA | 119 min | 1:1,85 | f | 28. März 1963

# 935 | 26. Januar 2015

27.3.63

L'immortelle (Alain Robbe-Grillet, 1963)

Die Unsterbliche

L’année dernière à Istanbul: N, ein Lehrer aus Frankreich, begegnet L, einer schönen, geheimnisvollen Frau – ihr »wirklicher« Name (Leila oder Lale (was auf Türkisch ›Tulpe‹ bedeutet) oder vielleicht auch Lucille) bleibt ebenso unbestimmt wie ihre Herkunft, ihre Absichten, ihre Identität. L ihrerseits wird von M, einem Mann, der stets zwei Dobermänner an der Leine führt, begleitet oder überwacht oder verfolgt. Als L, nach einer Reihe gemeinsam verbrachter Tage (und Nächte), plötzlich verschwindet (oder bei einem Unfall stirbt), begibt sich N auf die Spur der Verschollenen (oder Toten) – bis L eines Tages (oder Nachts) unvermittelt wieder auftaucht … Alain Robbe-Grillet präsentiert sein Regiedebüt als imaginatives Rätselspiel, als unterkühlt-erotisches Abenteuer, als extravaganten »film intérieur«: »L'immortelle« – die unsterbliche Frau, die unsterbliche Stadt – wird von N gesehen, gehört, erdacht – Wahrnehmung und Einbildung sind dabei eins, Objektivität und subjektives Empfinden verschwimmen. L changiert unter Ns insistierenden Blicken zwischen Dame der Gesellschaft, herabgestiegener Göttin und Luxusprostituierter; Istanbul erscheint als betont exotische Kulisse, als Melange aus historisch-literarischer Phantasie, Bühne eines mysteriösen Melodrams und Kitschpostkarte der Moscheen, Paläste, Ruinen. Neben den stilvoll gestalteten, immer wieder zu lebenden Bildern gefrierenden Oberflächenreizen und den beschwörenden erzählerischen Wiederholungen (oder Variationen oder Echos oder Déjà-vus) ist es vor allen Dingen die sorgfältig komponierte Tonspur – das unaufhörliche Knattern der Bootsmotoren auf dem Bosporus, das Schlagen der Wellen gegen die Kaimauern, der schrille Gesang der Grillen, das bedrohliche Bellen der Hunde, die monotonen Rufe der Muezzine –, die eine höchst eigentümliche, traumhaft-sinnliche Atmosphäre schafft. 

R
Alain Robbe-Grillet B Alain Robbe-Grillet K Maurice Barry M Georges Delerue A Konnell Melissos S Bob Wade P Émile Breysse D Françoise Brion, Jacques Doniol-Valcroze, Guido Celano, Sezer Sezin, Catherine Robbe-Grillet | F & TR & I | 101 min | 1:1,66 | sw | 27. März 1963

21.3.63

La jetée (Chris Marker, 1963)

Am Rande des Rollfelds 

Orly. Sonntag. Der Flughafen in der Sonne. Blicke von einer Terrasse aufs Rollfeld. Eine Frau am Geländer. Ihre Haare im Wind. Ein Augenblick der Gewalt. Ahnung von kommendem Unheil. Einige Jahre später. Krieg. Zerstörung. Millionenfacher Tod. Vernichtung von Geschichte und Kultur. Von Leben und Glück. Überlebende in den Katakomben. Auf der Suche nach Rettung. In der Vergangenheit. In der Zukunft. Ein Reisender durch die Zeit. Auf der Suche nach einem verlorenen Bild. Nach einem verlorenen Gesicht. Strom der Gedanken. Sog der Bilder. Passagen durch Gesehenes. Nacherlebtes. Vorgestelltes. Chris Markers photo-roman »La jetée« ist visionäres Kino von größter Einfachheit. Von höchster Komplexität. Kino der gefrorenen Augenblicke. Der fließenden Erinnerung. Durch die Szenen hallen Echos von Auschwitz. Von Hiroshima. Es herrscht der Wahnsinn des Fortschritts. Die Auflösung von Kontinuität. Dazwischen Eindrücke, Ahnungen, Illusionen von Heil. Ein Morgen im Frieden. Ein Zimmer im Frieden. Kinder. Vögel. Katzen. Auch Gräber. Richtige Gräber. Oder eine schlafende Frau. Die die Augen aufschlägt. Und dich ansieht. Wirklich ansieht. Am Ende aber erkennst du dich selbst. Als Gefangener der Zeit. Im Augenblick der Wahrheit. An einem Sonntag. In Orly.

R Chris Marker B Chris Marker K Chris Marker M Trevor Duncan A Jean-Pierre Sudre S Jean Reval P Anatole Dauman D Hélène Chatelain, Davos Hanich, Jacques Ledoux, Jean Négroni | F | 28 min | 1:1,66 | sw | 21. März 1963

19.3.63

Mélodie en sous-sol (Henri Verneuil, 1963)

Lautlos wie die Nacht

Analog zum Spätwestern gibt es so etwas wie den Spät-Gangsterfilm – »Held« des melancholischen Subgenres ist der alternde, mehr oder weniger blessierte Ganove, der es noch einmal wissen will, obwohl er es besser wissen müßte. Auch Monsieur Charles (Jean Gabin), um die 60 und gerade aus dem Knast in eine freudlose Vorstadtwirklichkeit entlassen, träumt den Traum vom letzten großen Coup, dessen Gelingen einen Lebensabend in luxuriöser Abgeschiedenheit sichern soll. Weil er es nicht allein riskieren will (und kann), das Casino an der Côte d’Azur um die fetten Gewinne zu erleichtern, sucht er einen Partner und findet ihn in Francis Verlot (Alain Delon), einem jungen Heißsporn, den sich der alte Profi freilich erst zurechtbiegen muß ... Henri Verneuil betrachtet die kriminelle Geschäftigkeit seiner Figuren zugleich mit ironischer Distanz und diskreter Sympathie; die sachlich-poetische Schwarzweiß-Kamera (Louis Page), der symphonisch-jazzige Score (Michel Magne), insbesondere aber die Lakonie, die Gabin auch dann noch an den Tag legt, wenn Monsieur Charles seine Hoffnungen zu dummer Letzt davonschwimmen sieht, machen den cool-melancholischen Reiz dieses eleganten film de casse aus.

R Henri Verneuil B Michel Audiard, Albert Simonin, Henri Verneuil V John Trinian K Louis Page M Michel Magne A Robert Clavel S Françoise Bonnot P Jacques Bar D Jean Gabin, Alain Delon, Maurice Biraud, Viviane Romance, Carla Marlier, José Luis de Vilallonga | F & I | 118 min | 1:2,35 | sw | 19. März 1963

# 1057 | 21. Juni 2017

1.3.63

La baie des anges (Jacques Demy, 1963)

Die blonde Sünderin

»Ce que j'aime dans le jeu, c'est cette existence idiote faite de luxe et de pauvreté et aussi de mystère.« Jean (Claude Mann), Sohn aus rechtschaffenem Haus, der als Bankangestellter das Geld anderer Leute zählt, verfällt, von einem Kollegen angefixt, dem geheimnisvollen Reiz des Spiels, zumal da er ›Jackie‹ (Jeanne Moreau) begegnet, einer platinblonden Hasardeurin, der Reichtum so wenig bedeutet wie Verlust, die Mann und Kind zurückließ, um sich immer wieder und absolut im Augenblick des Vabanque zu verlieren. Apropos Augen blick: Das Glück (= le bonheur), sagte einmal ein bedeutender Hochstapler, sei immer ein einzelner, ein besonderer Moment (für das Vergnügen (= le plaisir) hingegen brauche man ein ganzes Leben) – der Begriff des »Glücksspiels« gewinnt im Hinblick auf diese Überlegung vielleicht seine eigentliche, doppelbödige Bedeutung. Ohne sich über Fragen der Moral zu echauffieren, inszeniert Jacques Demy einen cool-kühnen Ausbruch aus der Vernunft ins Abenteuer, einen manisch-depressiven Trip aus dem geordneten Alltag in die Gefilde der bodenlosen Passion. Und wenn sich, zu Michel Legrands berauschendem Klavierspiel, an einem strahlenden Tag, von der Terrasse einer Suite im ›Hôtel de Paris‹, unversehens der Ausblick auf das glitzernde Mittelmeer bietet – wer wollte da an die bleiernen Nächte denken, in denen das Kleingeld für einen zweiten Drink nicht reicht …

R Jacques Demy B Jacques Demy K Jean Rabier M Michel Legrand A Bernard Evein S Anne-Marie Cotret P Paul-Edmond Decharme D Jeanne Moreau, Claude Mann, Paul Guers, Henri Nassiet, Conchita Parodi | F | 90 min | 1:1,66 | sw | 1. März 1963