»Ich bin doch ein Mensch wie sie alle. Ich habe gelebt wie sie alle. Ich habe geredet wie alle. Ich habe gearbeitet wie alle.« Spätherbst. Tiefer Himmel. Flaches Land. Ein See an der Grenze. Aus dem Schilf stolpert ein Mann mit dem angstvollen Blick eines verirrten Kindes (Klaus Kinski). Die Bauern glauben, er komme von drüben. Ein Flüchtling. Ein Verfolgter. Auf dem nahegelegenen Hof gewährt man ihm Obdach. Die Gutstochter (Brigitte Grothum) hat vor Jahren ihren Ehemann an ebenjener Stelle verloren, wo der Fremde auftauchte. Die Hoffnung auf seine Rückkunft hat sie sich nie nehmen lassen. Der Ankömmling ist jedoch kein Heimkehrer sondern ein Entsprungener aus der ›Bewahranstalt für kriminelle Geisteskranke‹, ein liebebedürftiger Frauenwürger, dessen Tötungstrieb von roten Korallenketten ausgelöst wird, ein sanfter Killer, der sich an seine Taten nicht erinnern kann … »Der rote Rausch« verbindet wirksam das dezente Beziehungsdrama zwischen zwei unbehüteten Seelen mit einem expressiver Heimatthriller, der zum Ende – bei einer feurigen Mörderhatz – die Scheidelinie zwischen Mensch und Monster verwischt. Wolfgang Schleif inszeniert Landschaften und Leute mit grauer Poesie; Kinski nutzt seine hochexplosive Kunst mit überraschender Zurückhaltung: Wenn er das Fahndungsplakat mit seinem Konterfei erblickt, wenn er für ein Kind Oscar Wildes Märchen vom selbstsüchtigen Riesen rezitiert, wenn er eine schreiende Frau um Hilfe anfleht – stets ist er das schattenhafte Individuum ohne Ich, ein fassungsloses Wesen, das seine Schuld nicht greifen kann: »Mit diesen Händen habe ich gemordet, sagen sie. Bitte, guck dir diese Hände an. Sag mir, ob das die Hände eines Mörders sind!«
R Wolfgang Schleif B Hellmut Andics V Hans Ulrich Horster (= Eduard Rhein) K Walter Partsch M Hans-Martin Majewski A Theodor Harisch S Paula Dvorak P Ernest Müller D Klaus Kinski, Brigitte Grothum, Sieghardt Rupp, Jochen Brockmann, Dieter Borsche | BRD | 87 min | 1:1,66 | sw | 24. Mai 1962
24.5.62
Der rote Rausch (Wolfgang Schleif, 1962)
22.5.62
Das Brot der frühen Jahre (Herbert Vesely, 1962)
Eigentlich ist alles klar: Walter Fendrich, Waschmaschinenmechaniker im Außendienst, immer nett, immer adrett, wird Ulla Wickweber, die attraktive Tochter seines Chefs, heiraten und am einträglichen Familiengeschäft beteiligt werden – Walters weiteres Leben ist praktisch schon gelebt: »Ich sehe mich in diesem Leben herumstehen, ich lächle, rede wie ein Zwillingsbruder, der lächeln und reden würde. Ich kaufe in diesem Leben, verkaufe, halte Kinder im Arm, die meine hätten sein sollen, ich halte Reden auf Betriebsfesten, drücke Hände.« Dann ein kurzer Moment, der alles in Frage stellt, ein alltägliches Ereignis, das alles verändert: Walter soll Hedwig Muller, ein hübsches Fräulein aus seiner Heimatstadt, vom Bahnhof abholen, ein junges Mädchen, das er kannte, als es noch viel jünger war – und Walter wechselt das Gleis, steigt um, vom falschen Leben in eines, das sich richtiger anfühlt. Herbert Veselys Adaption eines Textes von Heinrich Böll erzählt diese Geschichte einer Ein- und Umkehr nicht linear sondern zerfasert, zergliedert, zersprungen; das Thema – der fluchtartige Ausbruch eines Menschen, der immer Hunger litt, aus erbärmlichem Sattsein (≈ Geld) in unabdingbare Freiheit (≈ Brot) – wird in Variationen umkreist, in Reprisen vergegenwärtigt, in (gelegentlich etwas zu aparten) Bild-, Ton- und Gedankensplittern bespiegelt. Das konkrete Umfeld – die Stadt Berlin, ihre Staßen und Häuser, ihre Bahnen und Stationen, ihre Wohnungen und Cafés zwischen zertrümmertem Gestern und kühler Moderne – liefert den abstrakten Background für ein kaleidoskopisch-sprödes Beziehungsdrama, für ein jazzig-grafisches Gesellschaftsstück.
Das Brot der frühen Jahre | R Herbert Vesely B Herbert Vesely, Leo Ti (= Leo Tichat), Heinrich Böll V Heinrich Böll K Wolf Wirth M Attila Zoller S Christa Pohland P Hansjürgen Pohland D Christian Doermer, Vera Tschechowa, Karin Blanguernon, Tilo von Berlepsch | BRD | 88 min | 1: 1,37 | sw | 22. Mai 1962
Das Brot der frühen Jahre | R Herbert Vesely B Herbert Vesely, Leo Ti (= Leo Tichat), Heinrich Böll V Heinrich Böll K Wolf Wirth M Attila Zoller S Christa Pohland P Hansjürgen Pohland D Christian Doermer, Vera Tschechowa, Karin Blanguernon, Tilo von Berlepsch | BRD | 88 min | 1: 1,37 | sw | 22. Mai 1962
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Berlin,
Böll,
Drama,
Erinnerung,
Gesellschaft,
Jugend,
Pohland,
Romanze,
Vesely
8.5.62
El ángel exterminador (Luis Buñuel, 1962)
Der Würgeengel
Zwanzig Personen versammeln sich nach einer gemeinsam besuchten Aufführung von »Lucia di Lammermoor« im Haus des honorigen Señor Nobile. Wie auf eine geheime Verabredung hin haben zuvor die Dienstboten das Anwesen in Mexico Citys vornehmer Calle de la Providencia (Straße der (göttlichen) Vorsehung) verlassen; nur der Majordomus ist zurückgeblieben und teilt das Schicksal der Herrschaften, denen es aus unerklärlichen Gründen nicht möglich ist, nach der Soirée den Salon zu verlassen ... Ungeachtet einige Bizarrerien – Hühnerfüße, die aus einer Handtasche gezogen werden, ein junger Bär und eine Schafherde, die sich im Anrichtezimmer tummeln, eine fahle Hand, die aus einem Wandschrank kriecht –, die er in die mysteriöse Fabel einstreut, schildert Luis Buñuel das Geschehen mit fast lakonischem Realismus: Die rätselhafte, sich über Tage hinziehende Gefangenschaft der zunehmend derangierten, an der klaustrophobischen Situation und an sich selbst langsam irre werdenden gut(bürgerlich)en Gesellschaft legt peu à peu die menschlichen Schwächen der Eingeschlossenen bloß: Feigheit und Selbstmitleid, Zanksucht und Heimtücke, Indolenz und Aberglaube. Erst als alle Masken gefallen sind, finden die (überlebenden) Insassen des Salons einen Ausweg. Bis auf weiteres ...
R Luis Buñuel B Luis Buñuel, Luis Alcoriza K Gabriel Figueroa A Jesús Bracho S Carlos Savage P Gustavo Alatriste D Silvia Pinal, Enrique Rambal, Claudio Brook, Lucy Gallardo, Augusto Benedico | MEX | 95 min | 1:1,37 | sw | 8. Mai 1962
# 1027 | 1. Oktober 2016
Zwanzig Personen versammeln sich nach einer gemeinsam besuchten Aufführung von »Lucia di Lammermoor« im Haus des honorigen Señor Nobile. Wie auf eine geheime Verabredung hin haben zuvor die Dienstboten das Anwesen in Mexico Citys vornehmer Calle de la Providencia (Straße der (göttlichen) Vorsehung) verlassen; nur der Majordomus ist zurückgeblieben und teilt das Schicksal der Herrschaften, denen es aus unerklärlichen Gründen nicht möglich ist, nach der Soirée den Salon zu verlassen ... Ungeachtet einige Bizarrerien – Hühnerfüße, die aus einer Handtasche gezogen werden, ein junger Bär und eine Schafherde, die sich im Anrichtezimmer tummeln, eine fahle Hand, die aus einem Wandschrank kriecht –, die er in die mysteriöse Fabel einstreut, schildert Luis Buñuel das Geschehen mit fast lakonischem Realismus: Die rätselhafte, sich über Tage hinziehende Gefangenschaft der zunehmend derangierten, an der klaustrophobischen Situation und an sich selbst langsam irre werdenden gut(bürgerlich)en Gesellschaft legt peu à peu die menschlichen Schwächen der Eingeschlossenen bloß: Feigheit und Selbstmitleid, Zanksucht und Heimtücke, Indolenz und Aberglaube. Erst als alle Masken gefallen sind, finden die (überlebenden) Insassen des Salons einen Ausweg. Bis auf weiteres ...
R Luis Buñuel B Luis Buñuel, Luis Alcoriza K Gabriel Figueroa A Jesús Bracho S Carlos Savage P Gustavo Alatriste D Silvia Pinal, Enrique Rambal, Claudio Brook, Lucy Gallardo, Augusto Benedico | MEX | 95 min | 1:1,37 | sw | 8. Mai 1962
# 1027 | 1. Oktober 2016
Labels:
Buñuel,
Drama,
Gesellschaft,
Mexico City,
Phantastik,
Satire,
Villa
2.5.62
L’œil du malin (Claude Chabrol, 1962)
Das Auge des Bösen
»Le bonheur est fragile.« Das Glück ist empfindlich, zerbrechlich, vergänglich. Und es ist eine Provokation. Albin Mercier jedenfalls, der mittelmäßige Autor, der (unter dem nom de plume André (!) Mercier) für eine mittelmäßige Pariser Zeitung den Alltag im Nachkriegsdeutschland (»notre ennemi d’hier, notre allié de demain«) feuilletonistisch unter die Lupe nehmen soll, fühlt sich herausgefordert vom Glück, das Andreas (!) und Hélène Hartmann, der deutsche Star-Schriftsteller und seine französische Ehefrau, in ihrer mondänen Villa am Starnberger See leben. Was er eigentlich will, dieser von den Objekten seiner verachtungsvollen Faszination freundlich, ja familiär aufgenommene Eindringling, bleibt ihm (und dem Zuschauer) (trotz gründlicher Selbsterforschung des Protagonisten) letztlich rätselhaft. Will Albin/André die Anerkennung des berühmten Kollegen, die Liebe der attraktiven Frau oder einfach nur die Zerstörung dessen, was er nicht hat, nicht haben kann, weil er zu ungefestigt ist, zu feige, zu indifferent? Claude Chabrol seziert mit eisiger Distanz die Zerstörungskraft der Mißgunst, die Perfidie der Schwäche – und macht gleichzeitig deutlich, daß auch der vermeintlich freieste Geist, der gelassen in seinem Weltwissen ruht, am Ende nichts anderes ist als ein Sklave seiner Affekte. Indem sich »L’œil du malin« formal und erzählerisch konsequent auf die klinisch-unbeteiligte Beobachtung der drei Versuchspersonen beschränkt, gelingt eine intensive Studie über Vorstellung und Verstellung, über Enthüllen und Entsetzen.
R Claude Chabrol B Claude Chabrol, Martial Matthieu K Jean Rabier M Pierre Jansen S Jacques Gaillard P Georges de Beauregard, Carlo Ponti D Jacques Charrier, Stéphane Audran, Walter Reyer | F & I | 80 min | 1:1,66 | sw | 2. Mai 1962
»Le bonheur est fragile.« Das Glück ist empfindlich, zerbrechlich, vergänglich. Und es ist eine Provokation. Albin Mercier jedenfalls, der mittelmäßige Autor, der (unter dem nom de plume André (!) Mercier) für eine mittelmäßige Pariser Zeitung den Alltag im Nachkriegsdeutschland (»notre ennemi d’hier, notre allié de demain«) feuilletonistisch unter die Lupe nehmen soll, fühlt sich herausgefordert vom Glück, das Andreas (!) und Hélène Hartmann, der deutsche Star-Schriftsteller und seine französische Ehefrau, in ihrer mondänen Villa am Starnberger See leben. Was er eigentlich will, dieser von den Objekten seiner verachtungsvollen Faszination freundlich, ja familiär aufgenommene Eindringling, bleibt ihm (und dem Zuschauer) (trotz gründlicher Selbsterforschung des Protagonisten) letztlich rätselhaft. Will Albin/André die Anerkennung des berühmten Kollegen, die Liebe der attraktiven Frau oder einfach nur die Zerstörung dessen, was er nicht hat, nicht haben kann, weil er zu ungefestigt ist, zu feige, zu indifferent? Claude Chabrol seziert mit eisiger Distanz die Zerstörungskraft der Mißgunst, die Perfidie der Schwäche – und macht gleichzeitig deutlich, daß auch der vermeintlich freieste Geist, der gelassen in seinem Weltwissen ruht, am Ende nichts anderes ist als ein Sklave seiner Affekte. Indem sich »L’œil du malin« formal und erzählerisch konsequent auf die klinisch-unbeteiligte Beobachtung der drei Versuchspersonen beschränkt, gelingt eine intensive Studie über Vorstellung und Verstellung, über Enthüllen und Entsetzen.
R Claude Chabrol B Claude Chabrol, Martial Matthieu K Jean Rabier M Pierre Jansen S Jacques Gaillard P Georges de Beauregard, Carlo Ponti D Jacques Charrier, Stéphane Audran, Walter Reyer | F & I | 80 min | 1:1,66 | sw | 2. Mai 1962
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