26.7.69

A doppia faccia (Riccardo Freda, 1969)

Das Gesicht im Dunkeln

Eine italienisch-deutsche Koproduktion, in der Bundesrepublik als Edgar-Wallace-Film vermarktet. Zwar basiert das Drehbuch auf einer Vorlage des englischen Kriminalschriftstellers, zwar ist der Handlungsort London, zwar tritt Klaus Kinski (in der Hauptrolle!) auf – aber mit den (selbst-)parodistischen Whodunit-Grusel-Komik-Hybriden der Erfolgsreihe hat »A doppia faccia« nichts zu tun. Riccardo Freda inszeniert eine aparte Sex&Crime-Schimäre, einen süffigen Cocktail aus Harold-Robbins-Kolportage, Giallo und Zeitbild. Trauriger Held der Erzählung ist John Alexander (Kinski), dessen geliebte Frau Helen ihn (offen) mit ihrer besten Freundin betrügt, bevor sie bei einem Autounfall um ihr schönes, reiches Leben kommt. Wenig später sieht der Witwer – ist es Zufall? oder wurde er manipuliert? – die Verstorbene wieder: als Darstellerin in einem lesbischen »Kunstfilm«. Gedreht wurde das Werk nach ihrem Tod … Kinski – so zurückhaltend, so dünnhäutig wie kaum je – spielt einen verletzten Mann, niedergeschlagen von den Erschütterungen in seinem Leben, aus der Bahn geworfen von den Erosionserscheinungen seiner Zeit. Immer wieder treibt es den Desorientierten – auf der Suche nach Erklärung? nach Erlösung? – durch den kalten Neonglanz der Straßen, in halluzinatorische Nachtclubs, in die Einsamkeit der Bars, durch ein dunkles London nach dem Swing. Auch wenn die Intrige, wie es sich für einen (selbstbewußten) Trivialfilm gehört, in eine absurde Auflösung mündet, auch wenn die Trickeffekte aussehen, als wären sie auf der Modellbahnanlage des Produzenten entstanden, auch wenn die meisten Schauspieler wie Marionetten agieren – eines kann diesem filmischen Labyrinth zwischen Schein und Sein, dieser Groschenstudie über Verlorenheit kaum abgesprochen werden: Formgefühl. Fredas mit vulgärer Delikatesse fotografierter Seelenthriller (Kamera: Gábor Pogány) ist so geschmackvoll wie die langstieligen, blutroten Rosen, die immer wieder in die exquisit-schäbigen Bilder ragen.

R Robert Hampton (= Riccardo Freda) B Paul Hengge, Robert Hampton (= Riccardo Freda) V Edgar Wallace K Gábor Pogány M Joan Christian (= Nora Orlandi) A Luciano Spadoni S Anna Amedei, Jutta Hering P Oreste Coltellacci, Horst Wendlandt D Klaus Kinski, Christiane Krüger, Sydney Chaplin, Annabella Incontrera, Margaret Lee | I & BRD | 88 min | 1:1,85 | f | 26. Juli 1969

26.6.69

Liebe ist kälter als der Tod (Rainer Werner Fassbinder, 1969)

»An MPs habe ich nur eine sehr schöne Attrappe da.« Melancholisch-gefrorene Gangsterposen im Frontalstil vor weißen Wänden: Franz (Rainer Werner Fassbinder), mürrischer Kleinkrimineller auf eigene Rechnung und Zuhälter der ergebenen Nutte Joanna (Hanna Schygulla), will nicht fürs Syndikat arbeiten, woraufhin ihm der engelhafte agent provocateur Bruno (mit Trenchcoat und Hut à la Jef Costello: Ulli Lommel) geschickt wird, der ihn eiskalt in Mord und Totschlag verwickelt … Fassbinder zitiert in seinem Regie-Debüt Godard und Melville (die ihrerseits Lang und Tuttle zitierten) arrangiert sich und seine Außenseiterbande zu lebenden Bildern, zu (laien-)bühnenhaften Arrangements, die an Aushangfotos von Remakes von Remakes gemahnen. Irgendwie und sowieso geht es in diesem somnambulen Rollenspiel natürlich auch um Liebe (die nur im gemeinsamen Töten Erfüllung finden kann) und um Verrat (der die kalte Konsequenz der Liebe ist) – radikal-maniriertes Autorenkino als plagiatorische Originalschöpfung, wie sie einem misanthropisch-ichbewußten Filmfreak wohl nur nach der double feature-Spätvorstellung einfallen kann. PS: »Woran denken Sie? Sex?« – »An die Revolution.« – »Schön.« – »Finden Sie?«

R Rainer Werner Fassbinder B Rainer Werner Fassbinder K Dietrich Lohmann M Peer Raben A Ulli Lommel, Rainer Werner Fassbinder S Franz Walsch (= Rainer Werner Fassbinder) P Peer Raben D Ulli Lommel, Hanna Schygulla, Rainer Werner Fassbinder, Hans Hirschmüller, Katrin Schaake | BRD | 88 min | 1:1,66 | sw | 26. Juni 1969

25.6.69

The Bed Sitting Room (Richard Lester, 1969)

Danach

Lord Fortnum fühlt sich unwohl, verliert gelegentlich einen Backstein und verwandelt sich in ein Wohnschlafzimmer (leider nicht in guter Gegend). ›Mother‹ erhält ihre Sterbeurkunde ausgehändigt, zieht eine Schublade aus ihrer Brust und metamorphosiert zu einem dreitürigen Kleiderschrank. ›Father‹, der aufgrund gewisser körperlicher Vorzüge politische Ambitionen verspürt, wird zum (wohlschmeckenden) Papagei. Töchterchen Penelope bringt nach anderthalbjähriger Schwangerschaft ein Ding zur Welt, das bis zu seinem frühen Tod in einer Reisetasche umhergetragen wird … Wir schreiben das Jahr 3 (oder 4) nach dem Dritten Weltkrieg, der genau 2 Minuten und 28 Sekunden dauerte. London ist nur mehr eine wüstenhafte Müllkippe, durchzogen von Halden zerbrochenen Porzellans, rostigen Autoschlangen und schwärenden Tümpeln. Die etwa 20 Überlebenden der »nuklearen Meinungsverschiedenheit« hatten alle Hände voll zu tun, die 40 Millionen Toten zu verscharren, jetzt geben sie, mit robuster Ignoranz und unerschütterlicher Würde in allen Lebens(?)lagen, ihr Bestes, die Maschinerie der guten alten Britannia am Laufen zu halten: als Elektrizitätswerk, als BBC oder als Gesundheitssystem. »Keep moving!« ist das Motto der Stunde – bloß kein festes Ziel bieten, falls es zu einem weiteren Angriff auf die stolze Nation und ihre ehernen Werte kommt. Richard Lester läßt seine brillant-zerklüftete postapokalyptische Gesellschaftskomödie mit einem dreifachen happy ending ausklingen: Blumen blühen, ein Baby wird geboren, Großbritannien ist wieder Atommacht.

R Richard Lester B John Antrobus, Charles Wood V Spike Milligan, John Antrobus K David Watkin M Ken Thorne A Assheton Gorton S John Victor-Smith P Oscar Lewenstein, Richard Lester D Rita Tushingham, Michael Hordern, Mona Washbourne, Ralph Richardson, Dudley Moore, Marty Feldman | UK | 90 min | 1:1,66 | f | 25. Juni 1969

# 824 | 9. Januar 2014

18.6.69

La sirène du Mississipi (François Truffaut, 1969)

Das Geheimnis der falschen Braut

»Est-ce que l'amour fait mal?« – »Oui, l’amour fait mal.« Louis Mahé (Jean-Paul Belmondo), alleinstehender Zigarettenproduzent auf der Île de la Réunion im Indischen Ozean, trägt sich mit der Absicht, Julie Roussel zu heiraten, die er per Heiratsanzeige kennen- und brieflich schätzen gelernt hat. Die Frau, die mit dem Liniendampfer eintrifft, ist eine andere als diejenige auf dem Foto, das Louis in den Händen hält, aber da sie dem Bräutigam eine charmante Erklärung geben kann, und weil sie so aussieht wie Catherine Deneuve, wird planmäßig Hochzeit gefeiert … Ein Verbrechen, das steht bald fest, hat auf der ›Mississipi‹ stattgefunden, und als die so schöne wie falsche Braut Marion Bergamo mit dem Vermögen ihres Gatten auf und davon gegangen ist, beginnt die Suche nach einer gewerbsmäßigen Schwindlerin. Doch mit der Enttäuschung, mit dem Betrug kommen, so verschlungen ist der Pfad der Gefühle, auch die wahre Liebe, die große Leidenschaft. François Truffaut vereint Louis und Marion in Hingabe und Schuld, in Euphorie und Haß, in Freude und Schmerz: »C'est une joie et une souffrance.« Ihre Liebe, überbreit wie die Franscope-Bilder, in denen sie geschildert wird, geht über Sinn und Verstand, über Geld und auch über Leichen. Ihre gemeinsame Reise, die zur Flucht wird, führt aus der Hitze der Tropen an die Côte d’Azur, über Aix-en-Provence nach Lyon, bis in die winterlichen Alpen. Durch tiefen, reinweißen Schnee stapfen Marion und Louis in Richtung Grenze. Sie wissen nicht, wohin ihr Weg sie führt. Aber sie gehen ihn zu zweit. »Je vous aime.« – »Je te crois.«

R François Truffaut B François Truffaut V William Irish (= Cornell Woolrich) K Denys Clerval M Antoine Duhamel A Claude Pignot S Agnès Guillemot P François Truffaut D Jean-Paul Belmondo, Catherine Deneuve, Michel Bouquet, Marcel Berbert, Nelly Borgeaud | F & I | 123 min | 1:2,35 | f | 18. Juni 1969

# 959 | 6. Juli 2015

12.6.69

Nebelnacht (Helmut Nitzschke, 1969)

Ein toter Motorradfahrer wird am Straßenrand gefunden; der Lenker eines weißen Wartburg gerät in Verdacht, den nächtlichen Unfall mutwillig verursacht zu haben. Oberleutnant Kreutzer und Unterleutnant Arnold von der volkseigenen Kriminalpolizei haben einige Mühe, die Beziehungsgespinste der außerordentlich schablonenhaft gezeichneten Beteiligten (Ärzte, Binnenschiffer, Autoschlosser, Museumskustoden) zu entwirren und den Täter zu stellen. Helmut Nitzschke setzt die ebenso langwierige wie ermüdende Ermittlungsarbeit der pflichtbewußten Beamten in spießbürgerlicher Provinzgesellschaft und kleinkriminellem Milieu auf bestenfalls hölzernem Fernsehfunkniveau in Szene.

R Helmut Nitzschke B Heiner Rank, Helmut Nitzschke V Heiner Rank K Wolfgang Pietsch M Hans-Dieter Hosalla A Harry Leupold S Brigitte Krex P Bernd Gerwien D Peter Borgelt, Hanjo Hasse, Hans-Peter Minetti, Inge Keller, Rolf Hoppe | DDR | 85 min | 1:1,66 | sw | 12. Juni 1969

# 1012 | 2. August 2016

30.5.69

The Castle of Fu Manchu (Jess Franco, 1969)

Die Folterkammer des Dr. Fu Man Chu

»This is Fu Manchu. Once again the world is at my mercy.« Nicht nur die Welt ist der Gnade des ruchlosen Verbrechers (und seines abermaligen Regisseurs Jess Franco) ausgeliefert, sondern auch das Publikum: Das Scheusal hat sich die Geheimformel eines gewissen Professor Hercules verschafft, die es ermöglicht, das Wasser der Ozeane mithilfe eines kristallinen Opium-Derivats binnen Sekunden in Eis zu verwandeln. Da es noch einige chemische Probleme zu lösen gilt, der Professor jedoch an akuter Herzschwäche leidet, werden kurzerhand ein Chirurg und seine Assistentin entführt, die im Istanbuler Hauptquartier des Schurken eine rettende Organtransplantation durchführen müssen; unterdessen ist Nayland Smith darum bemüht, die Menschheit vor dem ultimativen Gefrierschock zu bewahren … Zu Beginn des Films verwurstet Franco ungeniert die Schlußsequenz des zweiten Teils der Reihe, »The Brides of Fu Manchu«, sowie blau gefärbte Ausschnitte aus dem schwarzweißen Titanic-Drama »A Night to Remember«, um sich sodann lustlos durch die törichte Handlung zu hangeln; lediglich einige im surrealen Ambiente des Gaudíschen Parque Güell in Barcelona gedrehte Szenen und die bavaesk illuminierte Höhlenwelt von Fu Manchus Blubberlaboratorium faszinieren durch ihr phantastisch-geschmackloses Formgefühl. So erfährt die Legende vom gelben Satan schließlich und endlich ihre Entzauberung in kinematographischem Blödsinn: The Folly of Fu Manchu oder Die Debilität des Bösen. The world shall not hear from him again.

R Jess Franco B Peter Welbeck (= Harry Alan Towers) V Sax Rohmer K Manuel Merino M Charles Camilleri A Santiago Ontañón S John Colville P Harry Alan Towers D Christopher Lee, Richard Greene, Günther Stoll, Maria Perschy, Tsai Chin, Howard Marion-Crawford | UK & E & BRD | 92 min | 1:1,66 | f | 30. Mai 1969

# 868 | 24. Mai 2014

23.5.69

Detektive (Rudolf Thome, 1969)

Münchner Schule in schwarzweiß und Ultrascope. Ein helles Neubaubüro: ein schwarzer Schreibtisch, zwei Sessel, ein Aktenregal, eine Reiseschreibmaschine, ein Bett. Zwei Freunde, Andy Schubert (Marquard Bohm) und Sebastian West (Ulli Lommel), ziemlich entspannte Typen, lümmeln herum, spielen Detektiv – Philip Marlowe und Sam Spade lassen grüßen, Jean-Paul Belmondo und Alain Delon stehen Pate. Dazu die unvermeidliche Sekretärin: Micky (Uschi Obermeier), die ans Telefon geht, die Drinks mixt, die, wie man sehen wird, ein eigenes Süppchen kocht. Ihre Arbeit sehen die Detektive eher sportlich, fahren in offenen Wagen durch die Gegend, sind jederzeit bereit, ihre Auftraggeber zu hintergehen und sich mit den Zielpersonen zu solidarisieren, wenn sie nur hübsch genug sind, wie zum Beispiel Annabella (Iris Berben), die von einem gewissen Busse verfolgt und mit der Waffe bedroht wird. »Ich an deiner Stelle würde ihn ja heiraten«, sagt die pragmatische Micky zu Annabella, »so schnell findest du nicht wieder einen Mann, der auf dich schießt.« Nach und nach entwickelt sich aus dem Geplänkel eine Art Story, mindestens so kompliziert wie bei Raymond Chandler: Liebe, Eifersucht, Intrigen, Betrug, Doppelspiel, Entführung, Erpressung, Gift, Mord. Im Mittelpunkt steht Krüger (Walter Rilla), ein kultivierter alter Herr, der hat, was alle wollen: Geld. 100000 Mark Versicherungssumme sind bei Krügers Tod fällig, egal ob er im Bett stirbt oder einem Verbrechen zum Opfer fällt. Rudolf Thome und Max Zihlmann erzählen in ihrem nüchtern-skurrilen Film-noir-Pastiche keinen einfachen Generationenkonflikt, denn im Kampf um das Erbe der Väter zeigen die Jungen nicht den geringsten Gemeinschaftsgeist: Jeder ist sich selbst der nächste. Geschossen wird mit der gleichen kühlen Selbstverständlichkeit wie geküßt oder geschlafen, wie Whisky getrunken oder Steaks gebraten … Zeitgeist und Kinomythen, zusammengebunden von zwanglosen Bewegungen der Akteure und der Kamera, von vibrierendem Jazzrock und lapidaren Dialogen: »Ich habe auch einmal zu Hoffnungen Anlaß gegeben, ich konnte mich nur nie entscheiden, zu welchen.«

R Rudolf Thome B Max Zihlmann K Hubs Hagen, Niklaus Schilling M Kristian Schultze S Jutta Brandstaedter P Rudolf Thome, Carol Hellman D Marquard Bohm, Ulli Lommel, Chrissie Malberg (= Uschi Obermaier), Walter Rilla, Iris Berben, Elke Hart (= Elke Haltaufderheide) | BRD | 91 min | 1:2,35 | sw | 23. Mai 1969

15.5.69

Ma nuit chez Maud (Éric Rohmer, 1969)

Meine Nacht bei Maud

Six contes moraux, 3: Der von Jean-Louis Trintignant verkörperte Protagonist (und Erzähler) – Mitte 30, Ingenieur bei Michelin in Clermont-Ferrand, praktizierender Katholik – beobachtet in der Messe eine zurückhaltend wirkende (blonde) Frau (Marie-Christine Barrault) – und schlagartig wird ihm bewußt, daß er sie, die er nicht kennt, von der er nichts weiß: heiraten wird. Bevor es soweit ist, verbringt er (ungeplant – heftiger weihnachtlicher Schneefall hindert ihn am Nachhausefahren) eine Nacht und den folgenden Tag bei und mit der freigeistigen (brünetten) Maud (Françoise Fabian), der (geschiedenen) Freundin eines (marxistischen) Bekannten. Die kurze Begegnung gleicht einem gedankenvollen Redestrom, der kontroverse Überlegungen zu Themenpaaren wie Zufall und Bestimmung, ewige Liebe und Abnutzung der Gefühle, Körper und Geist, freier Wille und göttliche Gnade, Religiosität und Unglaube, Prinzipienfestigkeit (= Treue) und Flexibilität (= Seitensprung) heraufspült und wieder ver­schlingt. Éric Rohmer inszeniert seine winterlichen scènes de la vie de province als strenges psychologisches Rezitationsdrama, das dank der stupenden Sensibilität von Kameramann Néstor Almendros trotz entschiedener räumlicher Beschränkung eine erstaunliche visuelle Spannkraft entfaltet. Leise (fast überhörbare) sommerliche Ironie verrät sich erst in der kolportagehaften Schlußpointe. PS: »Kommt, reden wir zusammen / wer redet, ist nicht tot …«

R Éric Rohmer B Éric Rohmer K Néstor Almendros A Nicole Rachline S Cécile Decugis P Barbet Schroeder, Pierre Cottrell D Jean-Louis Trintignant, Françoise Fabian, Marie-Christine Barrault, Antoine Vitezm Guy Léger | F | 110 min | 1:1,37 | sw | 15. Mai 1969

3.4.69

Sieben Tage Frist (Alfred Vohrer, 1969)

Von Alfred Vohrer weitgehend ohne formale Mätzchen in Szene gesetzt, entwickelt der in einem norddeutschen Nobelinternat angesiedelte Mit-den-Vätern-sterben-die-Söhne-Krimi seine Spannung aus der planvollen Verweigerung von Information und der generationskonfliktgeladenen Stimmung einer gesellschaftlichen Umbruchphase: Joachim Fuchsbergers aufgeklärte Autorität, Konrad Georgs verwundbare Kaltblütigkeit, Horst Tapperts zigarrenstummelspuckendes Amtgehabe stehen gegen die revoluzzerhaft-lässige Unbotmäßigkeit des Nachwuchses. Der leichenreiche Fall, in den gleichermaßen Lehrkörper und Dienstpersonal, Schüler und Elternschaft der Bildungsanstalt verwickelt sind, findet seine nicht gänzlich unerwartete Auflösung schließlich in Bundesdeutschlands tausendjähriger Vorgeschichte.

R Alfred Vohrer B Ernst Flügel (= Manfred Purzer) V Paul Henricks K Ernst W. Kalinke M Hans-Martin Majewski A Max Mellin S Susanne Paschen P Luggi Waldleitner D Joachim Fuchsberger, Konrad Georg, Horst Tappert, Karin Hübner, Robert Meyn | BRD | 100 min | 1:1,66 | f | 3. April 1969

# 1133 | 21. Oktober 2018

15.3.69

La voie lactée (Luis Buñuel, 1969)

Die Milchstraße 

»Was ist das? Ist hier irgendwo ein Schießplatz?« – »Nein, nein, das bin ich. Ich habe mir gerade vorgestellt, man erschießt einen Papst.« Eine kleine, recht unterhaltsame Pilgerreise durch die Historie (vielleicht auch: Hysterie) der christlichen Prophetien, Dogmen und Häresien: Zwei sympathische Tippelbrüder begegnen auf ihrem Weg von Paris nach Santiago de Compostela Jesuiten und Jansenisten, Todesengeln und Inquisitoren, sie lauschen gelehrten Disputationen bzw. erregten Streitereien über die Transsubstantiation, die Heilige Dreifaltigkeit oder die Jungfrauengeburt Jesu. Luis Buñuel annulliert die Einheit von Zeit, Ort und Handlung, arrangiert Träume und Legenden, Gegenwart und Episoden aus 2000 Jahren (durchaus blutiger) Kirchengeschichte zu einem ironischen Remix theologischer Irrungen und Wirrungen, zu einem Potpourri des religiösen (in weiterem Sinne auch weltanschaulichen) Feuereifers, für den bis heute gestorben und getötet wird.

R Luis Buñuel B Luis Buñuel, Jean-Claude Carrière K Christian Matras A Pierre Guffroy S Louisette Hautecœur P Serge Silberman D Paul Frankeur, Laurent Terzieff, Alain Cuny, Pierre Clémenti, Delphine Seyrig | F & BRD & I | 98 min | 1:1,66 | f | 15. März 1969

7.3.69

Le cerveau (Gérard Oury, 1969)

Das Superhirn

»Don't fool with the Brain!« Der große Eisenbahnraub auf französisch. Gérard Ourys turbulente Big-Caper-Klamotte im Sexy-mini-super-flower-pop-op-Look mit Bebel & Bourvil (als Arthur & Anatole – zwei Pariser Kleinkriminelle wie du & ich), mit Eli Wallach (als cholerisch-sizilianischer Mafiaboß Frankie Scannapieco), mit David Niven (als superklug-britischer Gentleman-Gauner) sonnt sich in der beschwingten Heiterkeit der Trente Glorieuses, einer glücklichen Zeit, die nichts ahnt von Finanzkrisen, von Wertberichtigungen, von Flucht in den Sachwert. Der kultivierte Herr hält einen Leoparden als Haustier, trinkt zum raffiniert geplanten Coup eine Tasse Tee, und die Aussicht auf 5 Millionen Pfund Sterling in Scheinen ist ihm Grund genug, einige Anstrengungen zu unternehmen. »I bet that no-one catches him. / He's too smart for them.«

R Gérard Oury B Gérard Oury, Marcel Jullian, Danièle Thompson K Wladimir Ivanov M Georges Delerue A Jean André S Albert Jurgenson P Alain Poiré D Jean-Paul Belmondo, Bourvil, David Niven, Eli Wallach, Silvia Monti | F & I | 115 min | 1:2,35 | f | 7. März 1969

24.2.69

The Prime of Miss Jean Brodie (Ronald Neame, 1969)

Die besten Jahre der Miss Jean Brodie

»Give me a girl at an impressionable age and she is mine for life.« Edinburgh in den 1930er Jahren: Miss Jean Brodie, Lehrerin an der Marcia Blaine School for Girls, widmet ihre besten Jahre (»I am truly in my prime.«) voller Leidenschaft (»I am a teacher! First, last, always!«) der Erziehung der ihr anbefohlenen Schülerinnen, von denen sie Großes erwartet (»All my pupils are the crème de la crème.«) ... Maggie Smith in der Titelrolle der unkonventionellen Pädagogin verwandelt Ronald Neames Romanadaption in eine kurzweilige One-Woman-Show, wobei die von Muriel Spark erfundene, faszinierend widersprüchliche Figur – ihr theatralischer Snobismus und ihre erotische Einbildungskraft, ihr überspannter Enthusiasmus und ihre Anfälligkeit für faschistische Ideen, ihr sinnenhaftes Schwanken zwischen Kunst (Mr. Lloyd) und Musik (Mr. Lowther) – letztlich zur mal kuriosen, mal grotesken jüngferlich-schwärmerischen Neurotikerin reduziert erscheint, die versäumte Chancen nachträglich im Leben ihrer Zöglinge zu realisieren trachtet. Wichtige Motive dieser Darstellung einer tragikomischen Existenzverfehlung – Liebe und Sex, Führung und Gefolgschaft, Vertrauen und Verrat – finden sich in Jay Presson Allens Bearbeitung zwar wieder, doch Sparks elegant strukturierte Erzählung mit ihren permanenten Zeitsprüngen und ständigen Perspektivwechseln wird umstandslos auf linearen Kurs gebracht, während entscheidende religiöse Aspekte gleich ganz unter den Tisch fallen.

R Ronald Neame B Jay Presson Allen V Muriel Spark K Ted Moore M Rod McKuen A John Howell S Norman Savage P Robert Fryer D Maggie Smith, Robert Stephens, Gordon Jackson, Celia Johnson, Pamela Franklin | UK & USA | 116 min | 1:1,85 | f | 24. Februar 1969

# 1048 | 20. Februar 2017

21.2.69

Der Mann mit dem Glasauge (Alfred Vohrer, 1969)

Fast scheint es, als hätte Alfred Vohrer gewußt, daß er mit dieser kruden Rachegeschichte um Drogen- und Mädchenhandel seinen Edgar-Wallace-Abschied gibt – so spielerisch wirft er die Prämissen der Reihe über den Haufen, so souverän ignoriert er etwaige Erwartungshaltungen. Keine verwinkelten Herrenhäuser, kein wabernder Nebel, kein dämonischer Kinski, kein hochanständiger Fuchsberger. Statt dessen jede Menge schwuler Anzüglichkeiten und Dutzende schwingender Mädchenbeine, viel frivoles Artistenmilieu und wüste Farbexzesse (Kamera: Karl Löb). Die subgenretypische Mischung aus Gemetzel und Klamauk funktioniert (nicht zuletzt Dank ›Hubsi‹ von Meyerinck in der Rolle des hitzig-verkalkten Scotland-Yard-Chefs Sir Arthur) so gut wie selten zuvor; zudem bietet »Der Mann mit dem Glasauge« eine der vielleicht bösesten Mutterfiguren der Filmgeschichte: Die von Friedel Schuster eindrucksvoll gespielte Lady Sharringham (deren eiserne Damenhaftigkeit wie eine unheimliche Vorausblende auf Margaret Thatcher wirkt) kann es durchaus aufnehmen mit matriarchalen Monstren vom Schlage einer Mrs. Iselin oder einer Mrs. Bates selig.

R Alfred Vohrer B Paul Hengge V Edgar Wallace K Karl Löb M Peter Thomas A Wilhelm Vorweg, Walter Kutz S Jutta Hering P Horst Wendlandt D Horst Tappert, Karin Hübner, Hubert von Meyerinck, Fritz Wepper, Friedel Schuster | BRD | 87 min | 1:1,85 | f | 21. Februar 1969

11.2.69

Model Shop (Jacques Demy, 1969)

Das Fotomodell

Die Liebe des Auswärtigen, des Besuchers zu einer Stadt ist grundsätzlich anders als die des Einheimischen, des Bewohners: Ohne Erinnerungen, frei von Sehgewohnheiten, gesegnet mit dem unverbrauchten Blick des Fremden, kann sich der Durchreisende, der Gast, der Gestrandete fessellos treiben lassen, kann Oberflächenreize erkunden, kann Erscheinungen studieren. So macht es Jacques Demy, großes Kind, naiv Liebender, mit Los Angeles, dem Objekt seiner amerikanischen Begierde: »Model Shop« ist pure Phänomenologie. Die Figuren des Films – George (zugereist aus San Francisco – Gary Lockwood), ein junger Architekt, der mit seinem Leben gerade nicht besonders viel anzufangen weiß, und Lola (die eigentlich Cécile heißt und aus dem fernen Nantes stammt – Anouk Aimée), die unglückliche, rätselhaft-schöne Französin, der er nachstellt – sind nichts als Katalysatoren, die das neugierige Erkunden der Stadt ermöglichen. Ein Mann, der bald schon in den (Vietnam-)Krieg ziehen muß, eine Frau, die so bald wie möglich in die Heimat zurückkehren will, begegnen sich, verfolgen sich, beäugen sich, finden sich, verlassen sich. 24 Stunden in einer Stadt, die viele für häßlich halten, die aber in der Wirklichkeit des Kinos nur eines ist: reine Poesie. Eine kleine Ewigkeit in einer Stadt, die geschaffen scheint für endlose Fahrten im offenenen Wagen: über vermeintlich monotone Boulevards, vorbei an leuchtenden billboards, entlang des grafischen Liniengewirrs der Stromleitungen, hinauf in die Hügel – von denen sich das grandiose Panorama öffnet auf die magische Geometrie eines urbanen Happenings.

R Jacques Demy B Jacques Demy K Michel Hugo M Spirit A Kenneth A. Reid S Walter Thompson P Jacques Demy D Gary Lockwood, Anouk Aimée, Alexandra Hay, Carole Cole, Tom Holland | USA & F | 95 min | 1:1,85 | f | 11. Februar 1969

29.1.69

Goto, l’île d’amour (Walerian Borowczyk, 1969)

Goto, Insel der Liebe

Vielleicht war es so… Eine stickige, schwarzweiße Nacht. Die Luft vibriert vom Summen der Fliegen. Beckett, Kafka und Jarry kommen aus dem Kino. Der Film hat ihnen nicht gefallen. Nur den Hauptdarsteller, einen gewissen Pierre Brasseur, den mochten sie. Die drei setzen sich auf die Terrasse eines Cafés, bestellen Absinth und beschließen, zusammen ein Drehbuch zu schreiben. Die Geschichte sollte auf einer Insel spielen, die nach einem Erdbeben vom Rest der Welt abgeschnitten wäre. Ein Gouverneur, gütig und sadistisch, herrschte über die kleine Welt. Und eine schöne Frau hätte er. Die liebte aber einen anderen: ihren Reitlehrer. Außerdem gäbe es Fliegen, jede Menge Fliegen. Und da wäre ein Aufzug, mit dem Verurteilte auf eine Bühne gefahren würden, wo sie gegeneinander kämpfen müßten – der Gewinner würde begnadigt, der Verlierer käme aufs Schafott. Der Kellner serviert noch drei Absinth. Und einer, der begnadigt worden wäre, wollte unbedingt die Frau des Despoten für sich haben, und die Macht wollte er auch. Deswegen ginge alles kaputt. Und das Meer rauschte in der Ferne. Und da wären Hunde. Die würde man erschießen, wenn ihr Herr stürbe. Und es gäbe einen Alten, der geniale Fliegenfallen baute. Und alle Namen begännen mit G. Warum G? Warum nicht? Pierre Brasseur müßte die Hauptrolle spielen. Wer aber könnte Regie führen? Der Kellner kennt einen, einen verrückten Polen. Der habe zwar bisher nur Trickfilme gemacht, aber die seien nicht schlecht. Walerian Borowczyk heiße er, und eine schöne Frau habe er auch. Die könne ja die schöne Frau des Herrschers spielen. Beckett, Kafka und Jarry sind begeistert. Der Kellner bringt eine weitere Runde Absinth. Die Fliegen fliegen um den Tisch.

R Walerian Borowczyk B Walerian Borowczyk, Dominique Duvergé K Guy Durban M Georg Friedrich Händel A Walerian Borowczyk S Charles Bretoneiche P Louis Duchesne, René Thévenet D Pierre Brasseur, Ligia Branice, Jean-Pierre Andréani, Ginette Leclerc, Fernand Bercher | F | 93 min | 1:1,66 | sw | 29. Januar 1969