27.9.56

Anastasia, die letzte Zarentochter (Falk Harnack, 1956)

In einer Nacht des Jahres 1920 springt eine Frau in den Berliner Landwehrkanal. Der Suizid mißlingt. Die Lebensmüde wird aus dem Wasser gefischt. Name und Herkunft der verhinderten Selbstmörderin, die keinerlei Fragen beantwortet, die jedermann nur aus verschreckten Augen anblickt, liegen im Dunkeln, bis sie anhand eines Illustriertenfotos erkannt wird: als einzige Überlebende der Erschießung der Zarenfamilie durch die Bolschewisten … Ob die Unbekannte aus dem Kanal tatsächlich Anastasia ist oder eine neurotische Hochstaplerin, die sich ihre Kenntnisse über das Leben am Petersburger Hof aus Zeitungsberichten zusammenstückelte, bleibt offen. So oder so erscheint die Titelheldin als Musterbild einer aus den Fugen geratenen Epoche, die Lebensläufe zerpflückt und Persönlichkeiten schreddert; die Identitätsfrage tritt im selben Maße in den Hintergrund, wie »Anastasia« zum Spielball von familiären und geschäftlichen Interessen, zum gefälligen Monstrum auf dem Jahrmarkt der Sensationen (gemacht) wird. Leider handeln Falk Harnack (Regie) und Herbert Reinecker (Drehbuch) den symbolischen Fall in genau jenem oberflächlichen Boulevardgeist ab, dem er einst entsprang. Zwar hält Lili Palmer die schillernde Hauptfigur – die mit Ludwig II. sagen könnte: »Ein ewiges Rätsel will ich bleiben mir und anderen.« – zwischen Apathie und Erregung, zwischen Zugehörigkeitsbedürfnis und Weltekel delikat in der Schwebe, doch fast alle anderen Beteiligten des (hochbesetzten) Stückes werden auf ihre dramaturgischen Funktionen reduziert. Lediglich zwei Legenden des deutschen Theaters gelingt es, ihre Kurzauftritte mit (umnachtetem) Leben zu erfüllen: Tilla Durieux als greise Zarenmutter, die sich in die splendid isolation ihres hermetisch abgeriegelten Geistes zurückgezogen hat, und Lucie Höflich als Insassin einer Nervenklinik, die immer noch die Heimkehr ihres toten Sohnes erwartet – zwei weitere Zeitbeschädigte, zerrieben zwischen Wahn und Wirklichkeit.

R Falk Harnack B Herbert Reinecker K Friedel Behn-Grund M Herbert Trantow A Fritz Maurischat S Kurt Zeunert P Artur Brauner D Lilli Palmer, Ivan Desny, Susanne von Almassy, Tilla Durieux, Lucie Höflich | BRD | 107 min | 1:1,37 | sw | 27. September 1956

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