1.6.56

The Man Who Knew Too Much (Alfred Hitchcock, 1956)

Der Mann, der zuviel wußte

Die eigentliche, die nacherzählbare Handlung dieses Nervenkitzlers für die ganze Familie ist, wie so häufig bei Alfred Hitchcock, blanker Unsinn; die – Anführungszeichen auf – politische Dimension – Anführungszeichen zu – des Werks hat wenig zu tun mit dem betonierten politischen Klima des Kalten Krieges, atmet vielmehr das Aroma der konfusen Zwischenkriegszeit, jener Jahre, in denen Hitchcock den Stoff entwickelte und erstmals realisierte. Wie kaum ein anderer Regisseur aber versteht es Hitchcock (jedenfalls in seinen genialen Momenten), figürliche Stereotypen und alberne Kolportage zum Anlaß zu nehmen, konkrete filmische Poesie auf die Leinwand zu zaubern. Die zufällige Verwicklung des all-american Ehepaares ›Jo‹ und Ben McKenna (Doris Day und James Stewart) sowie ihres kleinen Sohnes in ein internationales Ränkespiel, das von Marokko nach London führt, wo der Staatsmann eines namenlosen europäischen Landes ermordet werden soll, wird genutzt, um die musterhafte nuclear family den Prinzipien des Thrillers auszuliefern – und zu beobachten, was dabei passiert: Norman Rockwell meets Eric Ambler. Der wohl brillanteste dramaturgische Einfall von »The Man Who Knew Too Much« liegt im Verzicht auf den klassischen Schurken: Den rechtschaffenen McKennas steht, gleichsam spiegelbildlich, ein anderes Paar gegenüber – Lucy und Edward Drayton (Brenda De Banzie und Bernard Miles), scheinbar freundliche Eheleute mittleren Alters, die in der Maske von Entwicklungshelfern oder Geistlichen auftreten, arbeiten für die dunkle Seite der Macht: Sie heuern Attentäter an, entführen Kinder, assistieren Aufrührern und Umstürzlern. Daß Hitchcock alle vier zentralen Charaktere zudem in innere Widersprüche zwischen Stärke und Erschöpfung, Entschiedenheit und Sentimentalität verstrickt, erhöht den Reiz dieser fulminanten Suspense-Dichtung, die ihren Höhepunkt in einer knapp 10minütigen, dialoglosen Konzert-Sequenz in der Royal Albert Hall findet, die Bilder (≈ Außenwelt) und Musik (≈ Innenleben) zu einem kinomagischen Crescendo verschmilzt.

R Alfred Hitchcock B John Michael Hayes V Charles Bennett, D. B. Wyndham-Lewis K Robert Burks M Arthur Benjamin, Bernard Herrmann A Henry Bunstead, Hal Pereira Ko Edith Head S George Tomasini P Alfred Hitchcock D James Stewart, Doris Day, Brenda De Banzie, Bernard Miles, Daniel Gélin | USA | 120 min | 1:1,85 | f | 1. Juni 1956

4 Kommentare:

  1. Ich muss zugeben, dass ich die erste Verfilmung des Stoffs noch nicht gesehen habe (wohl Hitch's einziger Tonfilm, der noch aussteht). Die 1956er Version war aber der einzige jener fünf Filme, die erst nach langer Zeit wieder in die Kinos kamen, der mich enttäuschte. Er enthält zwar ein paar wirklich beeindruckende Szenen (den Mord am Anfang, James Stewart's Schreiten durch fremde Hinterhöfe); im Ganzen kommt die Geschichte aber zu pompös daher, zieht sich für meinen Geschmack mühsam in die Länge.

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  2. Bei mir war's umgekehrt: »The Man Who Knew Too Much« war diejenige von den fünf Wiederaufführungen, die mir am besten gefallen hat. »Rear Window« und »Vertigo« sind sicherlich die wichtigeren Filme, »TMWKTM« schaue ich mir aber bis heute einfach lieber an. Für mich einer von Hitchcocks surrealsten Filmen – dazu paßt vielleicht auch der schlafwandlerische Rhythmus … :)

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  3. Mich hat der Vergleich zur Erstverfilmung immer irritiert. In gewisser Weise hat Hitchcock verschlimmbessert. War die erste Fassung zu kurz, scheint mir die zweite an manchen Stellen zu lang, zu unkonzentriert. Die Rolle der von Doris Day verkörperten Ehefrau scheint mir sogar rückschrittlicher konzipiert zu sein als in der ersten Fassung. Beide Filme kämpfen mit einem nicht ganz ausgegorenen Drehbuch. Trotzdem gibt es - wie Whoknows schrieb - auch hier wieder beeindruckend suggestive Szenen, in denen Hitchcock einfach den Kolportagekern hinwegzaubert.

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  4. Ich würde ja eher sagen, daß Hitchcock den Kolportagekern offenlegt. :)

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