18.12.64

Das Verrätertor (Freddie Francis, 1964)

Ein trockenes heist movie, das sich von den üblichen Manierismen der Edgar-Wallace-Reihe bewußt absetzt. Zwar gibt Klaus Kinski einen preziösen Killer, zwar darf Eddi Arent als deutscher Tourist in London seinen Schabernack treiben, doch verzichtet die deutsch-britische Koproduktion gänzlich auf familiäre Intrigen, auf Erbinnen in Not, auf persönlich engagierte Inspektoren: Im Zentrum stehen die Aktivitäten einer hochorganisierten Bande, die sich unter Führung eines ehrenwerten Geschäftsmannes (Albert Lieven) anschickt, die Kronjuwelen ihrer Majestät zu stehlen. Die professionell coole Inszenierung von Freddie Francis (einem maßgeblichen Bildgestalter des Free Cinema) lädt nicht zur Identifikation mit Tätern oder Ermittlern ein; die Kamera (geführt von Denys Coop, einem weiteren Wegbereiter des kitchen sink realism der früher 1960er Jahre) beobachtet reserviert die Mechanik der minutiös geplanten Abläufe. Aufgrund seiner visuellen Qualitäten entwickelt »Das Verrätertor« spröde B-Film-Eleganz, auch wenn die Dramatik rein äußerlich, die Story sichtbar konstruiert, die Figuren gänzlich schablonenhaft bleiben und der Wechsel der erzählerischen Tonlagen gelegentlich eher atmosphärischen Dissonanzen als Spannung erzeugt.

R Freddie Francis B John Sansom (= Jimmy Sangster) V Edgar Wallace K Denys Coop M Peter Thomas A Tony Inglis S Oswald Hafenrichter P Horst Wendlandt D Albert Lieven, Margot Trooger, Gary Raymond, Eddi Arent, Klaus Kinski | BRD & UK | 87 min | 1:1,66 | sw | 18. Dezember 1964

# 821 | 4. Januar 2014

16.12.64

The Disorderly Orderly (Frank Tashlin, 1964)

Der Tölpel vom Dienst

»Don’t try so hard!« Weil Arztsohn Jerome Littlefield (Jerry Lewis) zu empathisch auf Krankheit und Leid reagiert, kann er selbst nicht Doktor werden; er schlägt sich (und andere) ersatzweise als Pfleger durch, wobei aus seiner psychischen Verklemmung ein geradezu apokalyptisches Helfersyndrom entspringt … Es dauert ein Weilchen, bis es Frank Tashlin gelingt, den Hauptdarsteller halbwegs zu disziplinieren, dessen hysterischen Hang zu ichsüchtiger Grimassenschneiderei sowie beliebigen Slapstickdarbietungen in den Griff zu bekommen, um so etwas wie Richtung und Rhythmus einer Story zu generieren, einer Story, die zunächst Blindheit und Hypochondrie, dann das Freimachen von zwanghaften Blockaden und den Aufbruch zu neuen (romantischen wie beruflichen) Ufern ins Bild setzt. Andererseits pfeift Tashlin selbst immer wieder fröhlich auf Erzähldisziplin, klopft Situationen nur allzugern auf ihre absurden filmischen Möglichkeiten ab: Fernsehschnee weht wie ein Blizzard durch ein Krankenzimmer, ein Ganzkörperverband erweist sich als leere Gipshülle, ein gebrochener Knöchel schwillt an wie ein Luftballon. Das wahnsinnige Finale vereint alle Beteiligten in einer furiosen Verfolgungsjagd, hügelauf und hügelab: Mediziner und Patienten, in Rettungsfahrzeugen und auf Rollbahren, Liebende und Geliebte, zwischen Mülltonnen, Einkaufswagen und Konservendosen.

R Frank Tashlin B Frank Tashlin, Norm Liebman, Ed Haas K W. Wallace Kelley M Joseph J. Lilley A Hal Pereira, Tambi Larsen S John Woodcock P Paul Jones D Jerry Lewis, Glenda Farrell, Susan Oliver, Karen Sharp, Kathleen Freeman, Everett Sloane | USA | 89 min | 1:1,85 | f | 16. Dezember 1964

# 785 | 28. Oktober 2013

Kiss Me, Stupid (Billy Wilder, 1964)

Küß mich, Dummkopf

»If you’ve got what it takes, sooner or later, somebody will take what you’ve got.« Seit Jahren schreiben Orville J. Spooner und Barney Milsap, Klavierlehrer und Tankstellenbesitzer in Climax, Nevada, unverdrossen einen Schlager nach dem anderen (mit so vielversprechenden Titeln wie »Pretzels in the Moonlight« oder »Two Coins in the Fountain«), ohne daß sich der erhoffte Erfolg einstellen würde. Als eines Tages der berühmte Entertainer Dino (ölig: Dean Martin) auf dem Weg von Las Vegas nach Hollywood in ihrem abgelegenen Wüstenkaff strandet, beschließen Komponist und Textdichter, die einmalige Chance zu nutzen und dem saufgierigen Weiberhelden einen ebenso anregenden wie einbringlichen Aufenthalt zu bereiten: Ein (herzensgutes) leichtes Mädchen (Kim Novak als ›Polly the Pistol‹) wird aus dem örtlichen Amüsierschuppen »Belly Bottom« (»Drop in and get lost!«) herbeigeschafft, eine (ziemlich weltkluge) Ehefrau aus dem Haus expediert, dann nimmt das erfolgsgierige songwriting team den durchreisenden Star in die erotisch-musikalische Zange: »If I’m all agitato, / Every heartstring vibrato.« Billy Wilder betrachtet seine männlichen Protagonisten mit illusionslosem Wohlwissen, während er den weiblichen Figuren eine Art biestiger Zärtlichkeit angedeihen läßt. Trotz oder gerade wegen der unausgewogenen (und bemerkenswert kaltschnäuzigen) Inszenierung entwirft diese in schmuddelig-grauen Panavision-Bildern ausgerollte Vulgärromanze über Hingabe und Eifersucht, diese ätzende Sozialstudie über Angebot und Nachfrage ein Menschenbild von ungeschminkter Ehrlichkeit: »Every look passionato, / Who but you made me so?«

R Billy Wilder B Billy Wilder, I. A. L. Diamond V Anna Bonacci K Joseph La Shelle M André Prévin, George Gershwin A Alexandre Trauner S Daniel Mandell P Billy Wilder D Dean Martin, Kim Novak, Ray Walston, Felicia Farr, Cliff Osmond | USA | 125 min | 1:2,35 | sw | 16. Dezember 1964

# 1078 | 11. Oktober 2017


15.12.64

Hush … Hush, Sweet Charlotte (Robert Aldrich, 1964)

Wiegenlied für eine Leiche

»You weep because you had a dream last night …« Zwei Jahre nach »What Ever Happened to Baby Jane?« wollte Robert Aldrich die Band wieder zusammenbringen, um in puncto Grand-Guignol-Grusel noch einen draufzusetzen. Leider warf Joan Crawford kurz nach Drehbeginn das Handtuch. Praktisch jeder abgelegte Star weiblichen Geschlechts wurde angebettelt, ihre Rolle zu übernehmen – bis sich Olivia de Havilland erbarmte … Bette Davis diesmal als verdatterte (und sehr reiche) alte Jungfer, deren – kurz vor der Hochzeit (von wem?) ermordeter – Verlobter sich 40 Jahre später überraschend aus dem Reich der Toten meldet. Aldrich mixt aus Familienintrigen, Südstaaten-Dekadenz, abgehackten Händen und wandelnden Wasserleichen einen noch hämischeren Gothic-Punch in noch härterem Schwarzweiß (Kamera: Joseh Biroc). Neben dem Duo infernal Davis / de Havilland tragen weitere namhafte has beens – brüchig: Mary Astor; zerlumpt: Agnes Moorehead; verlebt: Joseph Cotten – das Ihre zum wohligen Entsetzen bei.

R Robert Aldrich B Lukas Heller, Henry Farrell K Joseph Biroc M Frank De Vol A William Glasgow S Michael Luciano P Robert Aldrich D Bette Davis, Olivia de Havilland, Joseph Cotten, Agnes Moorehead, Mary Astor | USA | 133 min | 1:1,66 | sw | 15. Dezember 1964

10.12.64

Les barbouzes (Georges Lautner, 1964)

Mordrezepte der Barbouzes 

Der internationale Waffenhändler Benar Shah stirbt à la Félix Faure in einem Pariser Bordell. Ohne Einhaltung der Trauerfrist bemühen sich Nachrichtendienstler diverser Nationen bei der hübschen jungen Witwe Amaranthe (Mireille Darc) um die explosive Hinterlassenschaft des Verblichenen: Patente für Massenvernichtungswaffen der Marken A, B, C und H. Natürlich hat in einem französischen Film der sympathisch-kantige »barbouze« Francis Lagneau (Lino Ventura), der so sprechende Aliasnamen trägt wie ›Petit Marquis‹ oder ›Belles Manières‹ oder ›Bazooka‹ oder ›La Praline‹, die Nase vorn – während der blutrünstig-wahrheitssuchende Deutsche (genannt ›le bon docteur‹), der ungestüm-ästhetische Sowjet (bekannt als ›Trinitrotoluène‹), der scholastisch-neutrale Schweizer Mystizist (Bernard Blier), der amerikanische Scheckbuch-Agent mit dem kleinkarierten Hütchen (Jess Hahn) und Dutzende von kampfschreienden Abziehbild-Chinesen das Nachsehen haben … Georges Lautner (Regie) und Michel Audiard (Dialoge) veräppeln mit sarkastischem Charme das zweitälteste Gewerbe der Welt, machen sich lustig über das brettharte Getue und den bigotten Nationalismus der verbissen konkurrierenden und doch denkbar ähnlich gestrickten (Kino-)Geheimagenten aller Provenienz, dieser sonderbaren Spezies, die sich durch eine »faszinierende Synthese von Gehirn und Muskeln« auszeichnet.

R Georges Lautner B Michel Audiard, Albert Simonin K Maurice Fellous M Michel Magne A Jacques D’Ovidio S Michelle David P Alain Poiré D Lino Ventura, Bernard Blier, Mireille Darc, Jess Hahn, Noël Roquevert | F & I | 109 min | 1:1,66 | sw | 10. Dezember 1964

4.12.64

Une femme mariée (Jean-Luc Godard, 1964)

Eine verheiratete Frau

»Je ne sais pas.« (Hände finden zueinander.) ... Madame Bovary im Zeitalter des Nylons. Fragmente eines Film, gedreht in Paris im Jahr 1964: Teile von Körpern, Splitter von Gedanken, Anflüge von Empfindungen. Ein Ausschnitt aus dem Leben von Charlotte (Macha Méril): sie trifft sich mit ihrem Liebhaber (in dessen Wohnung), sie verbringt die Nacht mit ihrem Mann (zuhause), sie trifft sich mit ihrem Liebhaber (im Flughafenhotel); dazwischen: hektische Fluchtmanöver (Charlotte fühlt sich verfolgt), Schmökern in Magazinen (Charlotte mißt sich an Idealfiguren), ein Besuch beim Frauenarzt (Charlotte fragt nach der Verbindung von Liebe, Empfängnis und Vergnügen). Am Bespiel seiner (fremdgängerischen) Protagonistin reflektiert Jean-Luc Godard über Gedächtnisverlust, S(t)imulation und Fernsteuerung in der Konsumgesellschaft: Charlotte lebt (nur allzu gerne) in einer hermetisch-materialistischen Gegenwart der stilvollen Oberflächen, der systematischen Manipulation, der mentalen Gleichschaltung. Godards Ekel vor diesem Zustand offenbart sich in der gewagten Parallelisierung der von ihm konstatierten (Selbst-)Demontage des Individuums zugunsten vorfabrizierter Wunschbilder, Verhaltensmuster und Denkschablonen mit der Vernichtungslogik der Konzentrationslager. Ein Trost zum Schluß: Umdenken (Befreiung durch Verzicht) scheint immerhin möglich ... (Hände lösen sich voneinander.) »C’est fini.«

R Jean-Luc Godard B Jean-Luc Godard K Raoul Coutard M Ludwig van Beethoven, Claude Nougaro A Henri Nogaret S Agnès Guillemot, Françoise Collin P Philippe Dussart, Maurice Urbain D Macha Méril, Bernard Noël, Philippe Leroy, Roger Leenhardt, Rita Maiden | F | 96 min | 1:1,37 | sw | 4. Dezember 1964

# 1191 | 18. Januar 2020

27.11.64

Das siebente Opfer (Franz Josef Gottlieb, 1964)

Im herrschaftlichen Umfeld von Lord Mant (Walter Rilla), einem pensionierter Kronrichter und siegesbewußten Rennstallbesitzer, ereignet sich ein Mord nach dem anderen; schließlich fällt der ehrenwerte Pferdefreund selbst einer (Heugabel-)Attacke zum Opfer, ohne daß das Meucheln damit zu einem Ende käme … Bis fast zum Schluß des Films bleibt unklar, worum es eigentlich geht, Franz Josef Gottlieb läßt die Handlung seiner Bryan-Edgar-Wallace-Bearbeitung lässig unter den Tisch fallen, verbrät stattdessen die üblichen Sujets des (Sub-Sub-)Genres (Zwistigkeiten in komplizierten Familienverhältnissen, (Blut-)Rache für frühere Ungerechtigkeit, allgemeine Undurchsichtigkeit von Beweggründen, anonyme Auftritte des großen Unbekannten) in einem freien Spiel der Themen und Motive, schafft viel Raum für die stereotypen Krimifiguren und ihre gut aufgelegten Darsteller: die kantige Adelsfrau (Alice Treff), den honorigen Geistlichen (Hans Nielsen), den fragwürdigen Veterinär (Harry Riebauer), die undurchsichtige Schönheit (Ann Savo), den fiesen Gauner (Wolfgang Lukschy), den verlotterten Erben (Helmuth Lohner), den suspekten Butler (Peter Vogel). Mit wohldosiert-plattem Humor (Trude Herr als beleibte »Diätschwester«!) gerät »Das siebente Opfer« zum originellen billigen Abklatsch eines nicht viel wertvolleren Originals.

R Franz Josef Gottlieb B Franz Josef Gottlieb V Bryan Edgar Wallace K Richard Angst M Raimund Rosenberger A Hans-Jürgen Kiebach, Ernst Schomer S Walter Wischniewsky P Artur Brauner D Hansjörg Felmy, Hans Nielsen, Ann Smyrner, Wolfgang Lukschy, Heinz Engelmann | BRD | 93 min | 1:1,37 | sw | 27. November 1964

18.11.64

Le tigre aime la chair fraîche (Claude Chabrol, 1964)

Der Tiger liebt nur frisches Fleisch

Roger Hanin ist Louis Rapière (= der Degen), genannt ›le tigre‹, ein taffer französischer Geheimdienstler, der freudig austeilt, sich aber, wie es scheint, ab und zu auch ganz gern mal durchprügeln läßt. Der ›Tiger‹ hat den Auftrag, einen Waffendeal zwischen der Grande Nation und der Türkei abzusichern, den eine Handvoll (rivalisierender) Finsterlinge hintertreiben will; insbesondere gilt es, die attraktive Frau und die hübsche Tochter des angereisten Kriegsministers vor den Nachstellungen der Halunken zu beschützen … Claude Chabrol betrachtet die Mechanismen des Spionagefilms mit der ihm eigenen spöttischen Distanz und fabriziert (nach einem Drehbuch des Hauptdarstellers) einen kauzigen 007-Aufguß im Westentaschenformat, wobei er dem Vorbild unumwunden Reverenz erweist: Ian Flemings Roman »From Russia with Love« wird prominent ins Bild gerückt, der platinblonde Schlagetot Dombrovsky (Mario David) ist eine parodistische ›Red‹-Grant-Imitation, und Bond girl Daniela Bianchi spielt gleich selber mit. Die läppische Intrige zerfällt schnell in x-beliebige Erzählbausteine, was – dank Jean Rabiers stilvoller Schwarzweiß-Fotografie, dank eines wachen Sinns für die Inszenierung von Schauplätzen (eine überschwemmte Villa, der Flughafen Orly, ein Autofriedhof mit Schrottpresse) und dank des kuriosen Schurkenkabinetts (unter anderem ein Zwerg namens Jean-Luc) – nicht besonders unangenehm auffällt.

R Claude Chabrol B Antoine Flachot (= Roger Hanin), Jean Halain K Jean Rabier M Pierre Jansen S Jacques Gaillard P Christine Gouze-Rénal D Roger Hanin, Mario David, Daniela Bianchi, Maria Mauban, Jimmy Karoubi | F & I | 86 min | 1:1,66 | sw | 18. November 1964

4.11.64

Fantômas (André Hunebelle, 1964)

Fantomas

Wer hat Angst vorm Blauen Mann? oder Die Wiedergeburt eines genußvoll-sadistischen Superverbrechers als vermummungslustiger Kinderschreck: André Hunebelle erweckt die Stummfilmlegende »Fantômas«, die das Paris der späten Belle Époque unsicher machte und den Surrealisten Begeisterungsseufzer entlockte, als konsumierbaren Antihelden einer modischen (streckenweise recht behäbig inszenierten) Actionklamotte zu neuem Leben. Drei Gerechte ziehen gegen den Schurken zu Felde: ein alerter Journalist (Jean Marais), eine platinblonde Fotografin (Mylène Demongeot) und ein Gesetzeshüter am Rande des Nervenzusammenbruchs. Louis de Funès in der Rolle des fratzenschneidenden, wild gestikulierenden Kommissar Juve hat den Film fest im Griff und stiehlt dem statuarischen, mimisch durch die Latexmaske arg eingeschränkten Titelhelden die kriminelle Schau. Vor allem durch de Funès' Turbo-Performance verwandelt sich der schwarze Pulp-Anarchismus der Vorlage in einen neckischen Pop-Mummenschanz ohne Bedrohungspotential. PS: »Non, ce n’est pas fini! Nous nous retrouverons, Fantômas!«

R André Hunebelle B Jean Halain, Pierre Foucaud V Pierre Souvestre, Marcel Allain K Marcel Grignon M Michel Magne A Paul-Louis Boutié S Jean Feyte P Paul Cadéac, Alain Poiré D Jean Marais, Louis de Funès, Mylène Demongeot, Jacques Dynam, Robert Dalban | F & I | 100 min | 1:2,35 | f | 4. November 1964

2.11.64

Topkapi (Jules Dassin, 1964)

Topkapi

Formal und erzählerisch unausgewogene Gaunerkomödie über einen Einbruch ins Istanbuler Topkapi-Museum. Jules Dassin parodiert sein eigenes, klassisches, schwarzes 1955er heist movie »Du rififi chez les hommes« als bonbonbunt-polternde Diebesclownerie; schmuddlige Ironie und diskrete Boshaftigkeit der Vorlage von Eric Ambler gehen dabei im Bosporus baden. Der Raubzug selbst (von oben, an Seilen hängend, über trittempfindlichem Fußboden) ist, wenn auch nicht gerade nervenzerreißend, so doch zumindest professionell inszeniert, und der mopsfidele Cast – Melina Mercouri (kleptoman und mannstoll), Peter Ustinov (scheinheilig und akrophob), Maximilian Schell (gründlich und improvisationsfreudig), Robert Morley (ausgetüftelt und vollfett), Akim Tamiroff (immer besoffen) – lohnt durchaus einen Blick (oder zwei).

R Jules Dassin B Monja Danischewsky V Eric Ambler K Henri Alekan M Manos Hatzidakis A Max Douy S Roger Dwyre P Jules Dassin D Melina Mercouri, Peter Ustinov, Maximilian Schell, Robert Morley, Jess Hahn | USA | 120 min | 1:1,66 | f | 2. September 1964

21.10.64

My Fair Lady (George Cukor, 1964)

My Fair Lady

Die Tatsache, daß an George Cukor kein großer Musicalregisseur verlorengegangen ist, wird durch ein fideles Ensemble, durch die unausrottbaren Ohrwürmer von Lerner und Loewe, vor allem aber durch Gene Allens künstlich-elegante Bauten und Cecil Beatons parodistisch-exaltiertes Kostümbild halbwegs kaschiert. Die soziale Veredelung des Cockney-Blumenmädchens Eliza (»I'm a good girl, I am!« – Audrey Hepburn) durch den arrogant-eigenbrötlerischen Stimmbildner Professor Higgins (»Why can't a woman be more like a man?« – Rex Harrison) entbehrt jeder gesellschaftssatirischen Schärfe, stattdessen wirft sich »My Fair Lady« ganz auf das gemächliche Herzeigen nostalgischer production values und die Entwicklung einer eher unglaubwürdigen love story. Höhepunkte des Film sind – neben den visuell imposanten Tableaus der Ascot Gavotte – die Auftritte von Elizas Vater, des Müllkutschers Alfred P. Doolittle (Stanley Holloway), eines immer leicht angetüterten Rinnstein-Philosophen mit gesundem Vorbehalt gegen jede Form von middle-class morality, der das überlange Geschehen (leider zu selten) mit flotten Weisheiten aufmischt: »The Lord above made man to help his neighbor – but / With a little bit of luck, with a little bit of luck / When he comes around you won't be home!«

R George Cukor B Alan Jay Lerner V George Bernard Shaw K Harry Stradling M Frederick Loewe A Gene Allen, Cecil Beaton S William H. Ziegler P Jack L. Warner D Audrey Hepburn, Rex Harrison, Stanley Holloway, Wilfrid Hyde-White, Gladys Cooper | USA | 170 min | 1:2,35 | f | 21. Oktober 1964

14.10.64

Send Me No Flowers (Norman Jewison, 1964)

Schick mir keine Blumen

»When he tells me he's dying and he doesn't die ... wouldn't he know that I'd get suspicious?« Day/Hudson/Randalls dritter flotter Dreier, ein drolliger Versuch über Leben und Sterben in Suburbia, wird ihr letztes Teamwork bleiben: Doris als vorörtliche Hausfrau, Rock als ihr hypochondrischer Ehemann mit einem gefühlten Bein im Sarg, Tony als nachbarlicher Freund und Buffo. Handwerklich wohl der beste Film des Trios, entbehrt diese schwarze Komödie in Pastell leider ein wenig die urbane Überspanntheit ihrer beiden Vorgänger. Milkman statt door man, Country Club statt Night Club, Gesichter und Lichter der Vorstadt.

R Norman Jewison B Julius Epstein V Norman Barasch, Carroll Moore K Daniel L. Fapp M Frank De Vol A Alexander Golitzen S J. Terry Williams P Harry Keller D Doris Day, Rock Hudson, Tony Randall, Paul Lynde, Hal March | USA | 100 min | 1:1,85 | f | 14. Oktober 1964

25.9.64

Die Festung (Alfred Weidenmann, 1964)

Rund 12 Millionen Deutsche mußten infolge des verlorenen Zweiten Weltkriegs ihre Heimat verlassen. Weder im westdeutschen noch im ostdeutschen Kino der Nachkriegszeit wurde diese unfreiwillige Völkerwanderung in einer Form thematisiert, die ihrer historischen Bedeutung entsprochen hätte … »Die Festung« (auch (un)bekannt unter dem reißerischen Titel »Verdammt zur Sünde«) ist einer der wenigen Filme, die das Schicksal von Vertriebenen schildern – allerdings nicht, wie man es erwarten dürfte, als realistisches Problemstück sondern als Mixtur aus naturalistischer Groteske und tragikomischem Gesellschaftsschwank. Hugo Starosta (fulminant: Martin Held), einst Gespannführer in Ostpreußen, haust mit seiner vielköpfigen Sippschaft in einer alten Burg, die hunderten von Flüchtlingen als Notunterkunft dient, vertrödelt dort saufend, spielend, paffend die Tage, meidet jede Verantwortung, wartet darauf, daß ihm sein persönliches Wirtschaftswunder in den Schoß fällt: ein Windbeutel, ein Maulheld, ein Schelm. Familiäre Entwicklungen – zwei Söhne verdingen sich auf dem Rummel, ein anderer landet im Erziehungsheim, die hübsche Tochter verkauft statt ihrer Arbeitskraft lieber ihre Reize, die zähe Oma (betörend: Tilla Durieux) spart eisern auf einen Sarg – sieht Hugo mit Gelassenheit, die Verhältnisse biegt, träumt, lügt er sich hin, wie er sie braucht, pocht dabei streitbar auf seine (vermeintlichen) Rechte. Regisseur Alfred Weidenmann deutet diesen Mikrokosmos nicht platt als soziales Gleichnis, beleuchtet vielmehr, mit Gespür für saftige Details und dramatische Verdichtung, einen denkwürdigen Einzelfall, der gleichwohl zum Exempel taugt: Nach der Entwurzelung kann es vielleicht eine neue Behausung geben, aber kein wirkliches Zuhause mehr, vielleicht wieder einen Alltag, aber wohl kaum noch Alltäglichkeit. Instinktiv mißtraut Starosta jeder Fiktion von Normalität, verweigert eine Betriebsamkeit, die schon einmal in die Katastrophe führte.

R Alfred Weidenmann B Eberhard Keindorff, Johanna Sibelius V Henry Jaeger K Enzo Serafin M Gert Wilden A Herta Pischinger P Eberhard Klagemann D Martin Held, Else Knott, Hildegard Knef, Michael Ande, Christa Linder, Tilla Durieux | BRD | 104 min | 1:1,66 | sw | 25. September 1964

17.9.64

Goldfinger (Guy Hamilton, 1964)

James Bond 007 – Goldfinger 

Mit »Goldfinger« kreiert Regisseur Guy Hamilton den James-Bond-Film als parodistische Potenz des spy movie und erschafft ein (wiederum häufig parodiertes und (jedenfalls versuchsweise) potenziertes) Subgenre mit feststehenden Regeln sowie in der Folge nur oberflächlich variierten Ingredienzien: Der unverwundbare, weltläufige, selbstironische Held der westlichen Welt trifft auf einen megalomanen Schurken, dem ein sadistischer Scherge dabei hilft, in abgedrehten Settings und mit viel Getöse einen teuflischen Plan zu realisieren – ein Unternehmen, das mindestens die Weltordnung, wenn nicht gar die Zukunft des Planeten gefährdet. Der Held (dem sich reihenweise atemberaubend gutaussehende weibliche Wesen mit sonderbaren Namen an den Hals (und andere Körperteile) werfen) verfügt souverän über raffinierte Gadgets – und ist in der Lage, noch in scheinbar aussichtsloser Lage extra-trockene Sprüche zu klopfen. »Goldfinger« ist der Prototyp dieser Art von eskapistisch-chauvinistischem, radikal belanglosem und vielleicht gerade darum so unterhaltsamen Bang-bang-(kiss-kiss)-Filmemachen: ›Auric Goldfinger‹ (Gert Fröbe – ein Deutscher!) ist der definitive Widersacher, den ›Oddjob‹ (Harold Sakata – ein Asiate!) als perfekter Handlanger dabei unterstützt, die Weltwirtschaft zu persönlichem Vorteil zu ruinieren; ein silberner Aston Martin verwandelt sich in eine Art Batmobile für den gentleman spy; Bond quittiert die gefährliche Annäherung eines Laserstrahls an seine Weichteile mit der Bemerkung »Thank you for the demonstration!«; der sprechende (um nicht zu sagen: schreiende) Rollenname ›Pussy Galore‹ (Honor Blackman) bringt die dramaturgische Funktion der (widerspenstigen = zu zähmenden) Agentengespielin so platt wie geistreich auf den Punkt. Daneben setzen Ken Adams barock-modernistische Bühnenbilder, Robert Brownjohns sexy-smartes title design und John Barrys cool-treibender Action-Soundtrack filmische Standards. PS: (Weil es nicht fehlen darf …) »Do you expect me to talk?« – »No, Mr. Bond. I expect you to die.«

R Guy Hamilton B Richard Maibaum, Paul Dehn V Ian Fleming K Ted Moore M John Barry A Ken Adam S Peter Hunt P Albert R. Broccoli, Harry Saltzman D Sean Connery, Honor Blackman, Gert Fröbe, Shirley Eaton, Harold Sakata | UK | 110 min | 1:1,85 | f | 17. September 1964

9.9.64

Polizeirevier Davidswache (Jürgen Roland, 1964)

»Alle Geschehnisse dieses Films haben sich tatsächlich zugetragen.« Regisseur Jürgen Roland und Autor Wolfgang Menge, die sich mit ihrer erfolgreichen Fernsehreihe »Stahlnetz« als Spezialisten für halbdokumentarische Kriminalfilme (»Dieser Fall ist wahr!«) ausgewiesen haben, erkunden das Gebiet des Hamburger Polizeireviers 15, »ein halber Quadratkilometer zwischen Millerntor, Hafen und Nobistor«. 48 Stunden auf St. Pauli: Heilsarmee und Herbertstraße, Striptease und Flottenbesuch, reinster Nepp und kalter Mord. Protagonisten der kaleidoskopischen Nachtrevue rund um die Davidswache sind die Hauptwachtmeister Schriever und Glantz (Wolfgang Kieling als braver Beamter, dessen baldiger Tod zu Beginn der Erzählung angekündigt wird) sowie der nach vier Jahren Haft aus dem Gefängnis entlassene Gentleman-Ganove Bruno Kapp (zynisch-brutal: Günther Ungeheuer) der, ganz anders als seine bieder-naive Freundin, nicht davon träumt, ein kleines Haus im Vorort zu beziehen; dazu gesellen sich Dutzende aus dem Leben (oder aus dem Groschenheft) gegriffene Figuren, die, nach kurzer schlaglichtartiger Beleuchtung, wieder in der Anonymität der Großstadt abtauchen. Im Widerspruch zum Bemühen um journalistische Nüchternheit, versetzen Roland und Menge die pointierten Vignetten aus dem schillernden Amüsierbetrieb mit einer gewissen Portion fatalistischer Melodramatik und einem guten Schuß piefiger Kiez-Sentimentalität, wodurch zwar die Authentizität, nicht aber der Unterhaltungswert ihrer Milieustudie beeinträchtigt wird.

R Jürgen Roland B Wolfgang Menge K Günter Haase M Günter Marschner A Dieter Bartels, Dieter Reinecke S Susanne Paschen P Hans Eckelkamp D Wolfgang Kieling, Günther Neutze, Günther Ungeheuer, Hannelore Schroth, Silvana Sansoni, Jürgen Draeger | BRD | 101 min | 1:1,66 | sw | 9. September 1964

# 1020 | 22. August 2016

6.9.64

Soy Cuba (Michail Kalatosow, 1964)

Ich bin Kuba 

Der Mensch und die Geschichte – eine optimistische Tragödie … Ein Episodenfilm über die Vorgeschichte der kubanischen Revolution? Eher eine filmische Symphonie über eine revolutionäre Situation: vier Sätze über gesellschaftliche Bedingungen, die im Umsturz gipfeln. Eine Prostituierte aus den Slums von Havanna (mit ihrem Verlobten, einem Obsthändler, und einem reichen amerikanischen Freier); ein alter Bauer (mit seinen halbwüchsigen Kindern und dem Grundbesitzer, der ihm die Existenz raubt); ein couragierter Student (mit seinen Kommilitonen und den Schergen des Systems); ein verarmter Landarbeiter (mit seiner Familie und den Kämpfern der Rebellenarmee) – diese Figuren, kaum als Träger von Handlung zu bezeichnen, gleichen, wie die imposanten Landschaften und die dramatischen Stadtansichten, wie die hochragenden Palmen und das wogende Zuckerrohr, ikonischen Motiven einer epochalen filmischen Komposition. Michail Kalatosows rhythmische Inszenierung und Sergei Urussewskis grafische Kamera lösen sich (fast) vollständig aus der Indienstnahme durch die Erzählung, orchestrieren stattdessen eine einmalige audiovisuelle Erfahrung, ein Weitwinkel-Poem von zäher Todesmacht und ihrer lebensgefährlichen Überwindung, eine ungeniert hymnische Liebeserklärung an ein Land und seine Menschen. Infrarotfotografie verzaubert alle Pflanzen in glänzende Zuckerkristalle, virtuose Plansequenzen setzen sich über räumliche Beschränkungen hinweg wie Revolutionäre über scheinbar eherne Verhältnisse. »Soy Cuba« endet mit dem Sieg der Aufständischen, mit einem endlosen Strom von Jubelnden. Die Geschichte, deren Motor (nach Joseph Brodsky) mit Sterbenden befeuert wird, macht Pause.

R Michail Kalatosow B Jewgeni Jewtuschenko, Enrique Pineda Barnet K Sergei Urussewski M Carlos Fariñas A Jewgeni Swidetelew S Nina Glagolewa P Semjon Mariachin, Miguel Mendoza D Luz María Collazo, Jean Bouise, Raúl García, José Gallardo, Raquel Revuelta | SU & C | 141 min | 1:1,37 | sw | 6. September 1964

4.9.64

Postava k podpírání (Pavel Juráček & Jan Schmidt, 1964)

Josef Kilian

Das Leben als Odyssee zum Pol der Unerreichbarkeit – Pavel Juráček und Jan Schmidt beschreiben die menschliche Grundsituation als (post-)stalinistische Farce: Auf der erfolglosen Suche nach einem alten Bekannten (einem gewissen Josef Kilián) nutzt der Protagonist der Erzählung das Angebot eines Katzenverleihs, kann das für 24 Stunden geborgte Tier allerdings nicht retournieren, da das Geschäft tags darauf unauffindbar ist. Von Schuldgefühlen getrieben, gefangen in einem Netz aus ängstlicher Selbstbezichtigung und behördlichem Verdacht, fahndet der Held nach dem Zuständigen (ausgerechnet dem bewußten Kilián), irrt durch ein (von Jan Čuřík in klaustrophobischen Schwarzweißbildern fotografiertes) kafkaeskes Labyrinth dunkler Kellergänge, unausmeßbarer Archive, endloser Behördenflure, leerer Amtsstuben. Der gefühlt allgegenwärtige Kilián bleibt spurlos verschwunden – seine auf Schritt und Tritt spürbare Abwesenheit klafft als bedrohliche Leerstelle in einem anonymen System, das den Einzelnen zum Delinquenten macht.

R Pavel Juráček, Jan Schmidt B Pavel Juráček, Jan Schmidt K Jan Čuřík M Wiliam Bukový A Oldřich Bosák S Zdenek Stehlík P Ladislav Fikar, Consuela Morávková, Pavel Bártl, Pavel Šilhánek D Karel Vasicek | CS | 38 min | 1:1,37 | sw | 4. September 1964

# 1168 | 3. August 2019

Il deserto rosso (Michelangelo Antonioni, 1964)

Die rote Wüste

Giuliana (Monica Vitti) hat versucht, sich das Leben zu nehmen. Einen Unfall mit nachfolgendem Schock nennt es ihr Mann, ein Ingenieur. Giuliana hat Schwierigkeiten, und sie hat Angst. Sie hat Schwierigkeiten, die Wirklichkeit als Wirklichkeit anzunehmen, sie hat Angst vor Straßen, vor Fabriken, vor Farben, vor Menschen. Nach dem sogenannten Unfall, in der Klinik, hat Giuliana gelernt, sich wieder einzugliedern. Giuliana gibt sich Mühe, die Welt so zu sehen, wie sie ist (besser gesagt: wie sie, einer allgemeinen Übereinkunft entsprechend, gesehen werden soll), doch immer wieder verliert sie den Boden unter den Füßen, immer wieder fällt sie aus der Realität in ein tiefes Loch der Desorientierung. Niemand bietet Giuliana Halt, nicht ihr Mann, nicht ihr Kind, nicht ihr Geliebter (Richard Harris): Die Körper sind getrennt, eins plus eins ergibt nicht zwei. Giuliana streift ziellos durch ihre Existenz, durch ihre Stadt, die eine einzige Industriezone ist: Ravenna gleicht einer Assemblage aus Rohrleitungen und Maschinen, aus Stahlkonstruktionen und Kontrollräumen, aus qualmenden Schornsteinen und ölschillernden Tümpeln. »Il deserto rosso« visualisiert (besser gesagt: ästhetisiert) Giulianas Anpassungsschwierigkeiten und Wahrnehmungsstörungen mittels Unschärfen und Nebelschleiern, durch suggestive Farbverfremdungen und elektronische Klänge – anders als Giulianas sachliche Umwelt betrachtet Michelangelo Antonioni die Protagonistin dabei nicht als Kranke, ist es doch gerade ihr vermeintlich gestörtes Empfinden, das die seltsam kaputte Schönheit einer menschengemachten Schöpfung offenbart. Und wie Vögel gelernt haben, um aufsteigende Giftschwaden einen großen Bogen zu fliegen, müssen Menschen lernen, sich an die von ihnen radikal veränderte Umwelt zu adaptieren und dort mit sich alleine zu sein.

R Michelangelo Antonioni B Michelangelo Antonioni, Tonino Guerra K Carlo Di Palma M Giovanni Fusco, Vittorio Gelmetti A Piero Poletto S Eraldo Da Roma P Tonino Cervi D Monica Vitti, Richard Harris, Carlo Chionetti, Valerio Bartoleschi | I & F | 117 min | 1:1,85 | f | 4. September 1964

# 837 | 20. Februar 2014

31.8.64

Tonio Kröger (Rolf Thiele, 1964)

Künstler-Bürger-Problematik, unfreiwilliges Außenseitertum, Sehnsucht nach den Wonnen der Gewöhnlichkeit, die Enge der Heimat, die trügerischen Versprechungen der Fremde, Komik und Elend – Thomas Mann hat seine großen Themen in »Tonio Kröger« geradezu kontormäßig korrekt durchgearbeitet. Daß sich die Novelle nicht nur zur Quälerei unschuldiger Deutschschüler eignet, sondern auch die Vorlage zu einem gelungenen Film liefern kann, beweist Rolf Thiele: Seine formalen Gespreiztheiten (die sich hier gleichwohl in verträglichem Rahmen halten) bilden ein nicht unpassendes Pendant zu Manns fast possenhafter sprachlicher Überfeinerung. Die schwarzweiße Kameraarbeit (Wolf Wirth) und die elegische Komposition (Rolf A. Wilhelm) bewegen sich auf hohem Niveau; Jean-Claude Brialy in der Titelrolle tut einfach gar nichts, verzieht keine Miene, bleibt als Tonio (Mathieu Carrière spielt ihn als Jungen) Zaungast seines bourgeoisen Dichter-Lebens – uns taugt so paradoxerweise nicht schlecht als Medium zur Einfühlung in die schwierige Figur. Des weiteren trumpft »Tonio Kröger« mit sympathisch-manierierten schauspielerischen Kabinettstückchen: Gert Fröbe (als eine Art Wachtmeister Dimpfelmoser), Theo Lingen (als französelnd-effeminierter Tanzlehrer), Günther Lüders (als beflissener Volksbibliothekar), Walter Giller (als seekranker Kaufmann mit Weltschmerz), Rudolf Forster (als serviler Hoteldirektor) und Beppo Brem (als lebensvoller Literat). Einzig Nadja Tiller (als russischstämmiges Malweib mit rrrollendem R) trifft hier nicht ganz den richtigen Ton.

R Rolf Thiele B Erika Mann, Ennio Flaiano V Thomas Mann K Wolf Wirth M Rolf A. Wilhelm A Wolf Englert S Ingeborg Taschner, Heidi Genée P Franz Seitz D Jean-Claude Brialy, Mathieu Carrière, Nadja Tiller, Werner Hinz, Rudolf Forster | BRD & F | 90 min | 1:1,66 | sw | 31. August 1964

21.8.64

Der Hexer (Alfred Vohrer, 1964)

Von Alfred Vohrer routiniert durchgeführte, aber weitgehend schwunglose Edgar-Wallace-Adaption um Rache, Recht und Richten. Im Gegensatz zu anderen Filmen der Reihe steht nicht die Ermittlung eines Mörders im Zentrum des undurchsichtigen Geschehens sondern die Frage nach der Identität des geheimnisvollen, ›Hexer‹ genannten, Vergelters Arthur Milton, der verwirrende Spiele mit Masken treibt und unter den Augen der Polizei ein Netzwerk schändlicher älterer Herren – allen voran der feiste Jochen Brockmann als Anwalt Maurice Messer (!) – für böse Taten zur tödlichen Rechenschaft zieht … Daß »Der Hexer« keinen subtilen Diskurs über Selbstjustiz führt, liegt in der Natur eines parodistischen Kriminalfilmes, dennoch hätten das Thema und vor allem die originelle Anlage der Erzählung mehr erlaubt, als ab und zu ein selbstreferentielles Mätzchen zu machen (der ›Hexer‹ liest den Roman »Der Hexer«, um sich über den Fortgang der Handlung zu orientieren), ansonsten aber aufs Neue (respektive: aufs Alte) die restlos bekannten Gestaltungsklischees abzuspulen.

R Alfred Vohrer B Herbert Reinecker V Edgar Wallace K Karl Löb M Peter Thomas A Walter Kutz, Wilhelm Vorweg S Jutta Hering P Horst Wendlandt D Joachim Fuchsberger, Heinz Drache, Margot Trooger, Siegfried Lowitz, Siegfried Schürenberg | BRD | 85 min | 1:2,35 | sw | 21. August 1964

25.7.64

Mir nach, Canaillen! (Ralf Kirsten, 1964)

Die galanten Abenteuer und tollkühnen Streiche des Schafhirten Alexander (der sich den klingenden Nachnamen »von der grünen Weide« gibt) in hannöverschen, preußischen sowie sächsischen Landen des frühen 18. Jahrhunderts, über Wiesen und Straßen, in Kutschen und Betten, durch Ställe und Schlösser – bis in die Arme der hübschen Baronesse Ulrike. Manfred Krug gibt, mit auffallend lockigem Haarschopf, einen deutsch-demokratischen Verwandten von Fanfan und Cartouche, dessen agrarproletarischer Stolz ihn zum geborenen Widersacher militaristischen Geweses und feudalen Schranzentums bestimmt. Trotz manch flauer Witzchen und erzählerischer Umständlichkeiten entfaltet Ralf Kirstens flüssige Totalscope-Inszenierung oft genug echten Mantel-und-Degen-Schwung, und zahlreiche bewährte Defa-Schauspieler (u. a. Fred Düren, Herwart Grosse, Helga Göring) dürfen an der Seite des rustikal-charmanten Heldendarstellers Krug ihre Befähigung als Knattermimen unter Beweis stellen.

R Ralf Kirsten B Ralf Kirsten, Ulrich, Plenzdorf, Manfred Krug V Joachim Kupsch K Hans Heinrich M André Asriel A Hans Poppe, Jochen Keller S Christel Röhl P Werner Liebscher D Manfred Krug, Monika Woytowicz, Fred Düren, Erik S. Klein, Carola Braunbock | DDR | 108 min | 1:2,35 | f | 25. Juli 1964

# 1013 | 2. August 2016

22.7.64

Marnie (Alfred Hitchcock, 1964)

Marnie

»You Freud, me Jane?« Die frigid-kleptomanische Sekretärin Marnie Edgar (mal blond, mal brünett, mal schwarz: ›Tippi‹ Hedren) und der helfersyndromisch-sadistische Verleger Mark Rutland (Sean Connery) in einem bresthaften Küchen-Psycho-Mutter-Tochter-Schmock (»Why don't you love me, Mama?«) voller naiver Pappkulissen, derber Farbdramaturgie (Rot! Rot! Rot!), grenzwertiger Darstellerleistungen und kläglicher Rückprojektionen. Der Begriff des »Seelenklempners« ist in diesem viktorianisch-triebhaften Thriller-Melo beinahe wörtlich zu verstehen: Mit ein paar einfachen therapeutischen Handgriffen (Assoziationsspiele, Vergewaltigung, Erinnerungsstimulation) gelingt es dem leidenschaftlichen Hobbypsychologen Mark, Marnies verstopften Mentaltraps gründlich durchzuspülen und ihre posttraumatische Belastungsstörung erfolgreich zu beheben. Trotz aller visuellen Pannen und erzählerischen Abgeschmacktheiten gewinnt »Marnie« eine geradezu krankhafte Intensität, denn Alfred Hitchcocks frustrierender amour fou zu seinem, für ihn unerreichbaren, in Anführungszeichen gesetzten Mannequin-Star quillt düster zwischen den Bildern und Dialogen hervor: »I've tracked you and caught you and by God I'm going to keep you.« So verwandelt sich ein triviales Hintertreppendrama in ein obsessives Trauer-Spiel: »I don't believe in luck.« – »What do you believe in?« – »Nothing.« Dazu schauert und schäumt ein vollfetter Score von Bernard Herrmann (der sein letzter für Hitchcock bleiben wird). A guilty pleasure – für alle Beteiligten.

R Alfred Hitchcock B Jay Presson Allen V Winston Graham K Robert Burks M Bernard Herrmann A Robert Boyle Ko Edith Head, Vincent Dee, Rita Riggs S George Tomasini P Alfred Hitchcock D ›Tippi‹ Hedren, Sean Connery, Diane Baker, Martin Gabel, Louise Latham | USA | 130 min | 1:1,85 | f | 22. Juli 1964

7.7.64

Der geteilte Himmel (Konrad Wolf, 1964)

»Den Himmel wenigstens können sie nicht zerteilen.« – »Doch, der Himmel teilt sich zuallererst.« Konrad Wolfs hochpathetische Romanze aus der Zeit der gerade noch offenen deutsch-deutschen Grenze beleuchtet in expressivem Schwarzweiß am Beispiel zweier Liebender aus einer namenlosen DDR-Großstadt die changierenden Gefühlszustände der Skeptischen und der Hoffnungsvollen, der Vergrübelten und der Empfindsamen, der Gehenden und der der Bleibenden. Der Film macht sich die sozialistische Religiosität seiner jungen Heldin (Renate Blume als Rita) bedingungslos zu eigen. Ihr frustriert vom politischen Glauben abfallender Geliebter (Eberhard Esche als Manfred), der am Ende in einem engen Zimmer in Westberlin sitzt, wird weniger desavouiert als bedauert: nichts bleibt ihm mehr »von diesem seltsamen Stoff Leben«. Der hohe Ton der Dialoge und Off-Kommentare (Drehbuch nach und von Christa Wolf) provoziert so manche nervliche Rückkopplung, aber mit seiner sachlich-symbolischen Szenographie (Alfred Hirschmeier) und seinen plakativ-poetischen Totalvision-Bildern (Werner Bergmann) sichert sich »Der geteilte Himmel« einen Platz unter den visuell stärksten Filmen des deutschen Nachkriegskinos.

R Konrad Wolf B Christa Wolf, Gerhard Wolf, Konrad Wolf, Willi Brückner, Kurt Barthel V Christa Wolf K Werner Bergmann M Hans-Dieter Hosalla A Alfred Hirschmeier S Helga Krause P Hans-Joachim Funk D Renate Blume, Eberhard Esche, Hans Hardt-Hardtloff, Hilmar Thate, Martin Flörchinger | DDR | 113 min | 1:2,35 | sw | 7. Juli 1964

6.7.64

A Hard Day’s Night (Richard Lester, 1964)

Yeah Yeah Yeah

»Are you a mod or a rocker?« – »I'm a mocker.« Einen fiktiven Tag lang begleitet die (pseudo-)dokumentarische Kamera (Gilbert Taylor) die fabulösen Vier, John, Paul, George & Ringo, deren Leben in erster Linie aus Sprücheklopfen und dem Weglaufen vor hysterischen Fans zu bestehen scheint. Musik wird zwischendurch gemacht – in den Atempausen. In seiner wilde Mischung aus Slapstick und Swinging London, aus Godard und Jukebox, aus ironisch-selbstreferentiellem Starkult und locker gefaketem cinéma vérité wächst Richard Lesters »A Hard Day’s Night« zu einem Meilenstein der (filmischen) Popkultur. Die aufgedrehte Zuversicht der frühen 1960er Jahre strahlt aus 24 Bildern pro Sekunde und wirkt über die Dekaden hinweg ansteckend – zwischen den kurzen Schnitten ist ganz gelegentlich jedoch auch der Zweifel zu verspüren, daß die Ungezwungenheit von Dauer sein würde: »Has success changed your life?« – »Yes.«

R Richard Lester B Alun Owen K Gilbert Taylor M The Beatles A Ray Simm S John Jympson P Walter Shenson D John Lennon, Paul McCartney, George Harrison, Ringo Starr, Wilfrid Brambell | UK | 87 min | 1:1,75 | sw | 6. Juli 1964

5.7.64

Bande à part (Jean-Luc Godard, 1964)

Die Außenseiterbande

Die bande à part sind drei: zwei pos(s)enhafte Typen (Frey und Brasseur) und ein Schulmädchen à l’air demodé (Karina) auf der Jagd nach dem Glück, das ein Zungenkuß sein kann, ein Ballett zur Musik der Zeit, ein Louvre-Besuch (in 9 Minuten 43 Sekunden) oder ein Kleiderschrank voller Franc-Scheine. Das Geld verspricht Freiheit – Freiheit vom Winter in der Stadt, vom drögen Englisch-Kurs, von der schwarzweißen Tristesse der Banlieu –, es verspricht eine Zukunft in den heißen Ländern, eine Leben in Breitwand und Farbe. Der Weg dorthin führt (in Coutards lockeren Bildern und zu Legrands rummeliger Musik) über einen nicht besonders raffinierten Plan und ein paar gutplazierte Ohrfeigen zu einem bewaffnet-maskierten Überfall. Der knallige Schluß reduziert die ménage à trois gewaltsam auf eine vielversprechende Zweierkiste … Den Godard von »Bande à part« sollte man nicht allzu ernst nehmen: Der will doch nur (an)spielen – und ein bißchen angeben, so wie die coolen Jungs mit ihrer Knarre. PS: Die versprochene Fortsetzung des Abenteuers hat JLG der Welt bisher leider vorenthalten.

R Jean-Luc Godard B Jean-Luc Godard V Dolores Hitchens K Raoul Coutard M Michel Legrand S Agnès Guillemot, Françoise Collin P Philippe Dussart D Anna Karina, Samy Frey, Claude Brasseur, Louisa Colpeyn, Ernest Menzer | F | 95 min | 1:1,37 | sw | 5. Juli 1964

2.7.64

Das Ungeheuer von London-City (Edwin Zbonek, 1964)

Das Leben imitiert die Kunst, die das Leben imitiert: Der Schauspieler Richard Sand (Hansjörg Felmy in zerzauster Mr.-Hyde-Maske) spielt auf der Bühne den historischen Jack the Ripper, dessen Verbrechen wiederum auf den Straßen Londons Nacht für Nacht kopiert werden; wegen des blutigen Nachahmungseffektes fordern Politiker die Absetzung des Horror-Stücks, während sich der Spielleiter über lebens-, besser gesagt: todesechte Werbung freut … Unter dem Bryan-Edgar-Wallace-Label schustern Regisseur Edwin Zbonek und Autor Robert A. Stemmle (neben seiner Filmarbeit auch Herausgeber des »Neuen Pitaval«) eine holprige Schlitzerposse zusammen: Die einigermaßen groteske Figur des regsamen Mörders in Schlapphut und Pelerinenkragen sorgt zwar für einen gewissen Unterhaltungswert, das eigentliche Thema des Films – die gegenseitigen Beeinflussungen von Realität und medialem Abbild, von Authentizität und Fiktion – verschwimmt jedoch flusig im dichten Bühnennebel.

R Edwin Zbonek B Robert A. Stemmle, Bryan Edgar Wallace K Siegfried Hold M Martin Böttcher A Hans-Jürgen Kiebach, Ernst Schomer S Walter Wischniewsky P Artur Brauner D Hansjörg Felmy, Marianne Koch, Dietmar Schönherr, Hans Nielsen, Fritz Tillmann | BRD | 89 min | 1:2,35 | sw | 2. Juli 1964

1.7.64

Murder Ahoy (George Pollock, 1964)

Mörder ahoi! 

Miss Marple wird zu Wasser gelassen und ermittelt (in höchst fashionabler Marine-Uniform) an Bord des Schulschiffes ›H.M.S. Battledore‹, wo sie (mit Recht, wie sich zeigen wird) einen Schnupftabakkiller und allerhand trübe Geschäftemacherei vermutet. Wie immer, wenn die energische alte Dame (von den zuständigen Behörden ungebeten) die Ermittlung in einer Mordsache übernimmt, so gibt es auch auf See weitere Tote zu beklagen, bevor sie den Täter unter Einsatz ihres reifen Lebens stellen kann. Mit kauziger Grandezza absolviert Margaret Rutherford in »Murder Ahoy« ihr letztes Marple-Engagement; neben den üblichen Verdächtigen an ihrer Seite (Stringer Davis als »Bekannter« der Hobbydetektivin, Charles Tingwell als unterbelichteter Inspektor) spielt Lionel Jeffries einen ebenso inkompetenten wie sympathischen master and commander. PS: »Damn the torpedoes, full steam ahead!«

R George Pollock B David Pursall, Jack Seddon V Agatha Christie K Desmond Dickinson M Ron Goodwin A William C. Andrews S Ernest Walter P Lawrence P. Bachmann D Margaret Rutherford, Lionel Jeffries, Charles Tingwell, William Merwyn, Stringer Davis | UK | 93 min | 1:1,66 | sw | 1. Juli 1964

26.6.64

The Pawnbroker (Sidney Lumet, 1964)

Der Pfandleiher

»Everything that I loved was taken away from me, and ... I did not die.« Rod Steiger als menschlich gefrorener KZ-Überlebender Sol Nazerman: Der Betreiber einer Pfandleihe in Spanish Harlem sieht alltäglich dem Elend ins Gesicht – doch was sind die Wunden, die Schmerzen, die Narben der anderen gegen seine eigene Verletzung, die ihn zum lebenden Toten gemacht hat? New York wird zum grauen Spiegel der Gespenster, die Nazerman heimsuchen: Eine überfüllte U-Bahn gemahnt an den Transport ins Vernichtungslager, in einer Bandenkeilerei hallt das Echo wachmannschaftlicher Prügelorgien wider, der Verführungsversuch durch eine Prostituierte evoziert Bilder des SS-Bordells, in dem seine Frau geschändet wurde. Steiger, kein Darsteller, der für Subtilität oder underplay bekannt wäre, bleibt auch als seelisch Gelähmter ein Ausbund an explosiver schauspielerischer Energie, wodurch das Porträt eines Paralysierten zur vibrierenden Demonstration gerät. Ebenso ambivalent erscheint – neben dem von sanftem Lyrismus in pulsierende Hektik kippenden Score (Quincy Jones) – der Gegensatz zwischen der gestalterischen Überhöhung der im Studio gebauten Innenräume sowie den (mitunter recht kitschigen) Erinnerungssequenzen und dem ganz unmittelbaren filmischen Zugriff auf die urbane Realität, der an Meister der street photography wie William Klein oder Robert Frank denken läßt (Kamera: Boris Kaufman). Zur Vergegenwärtigung der biographischen Zerrissenheit seiner Titelfigur kontrastiert Regisseur Sidney Lumet peinigende Nähe und eisige Distanzierung, die inszenatorischen Doppelbelichtungen von Faktizität und Mystifikation machen »The Pawnbroker« zu einem Beispiel für etwas, das man vielleicht »abstrakten Naturalismus« nennen könnte.

R Sidney Lumet B Morton Fine, David Friedkin V Edward Lewis Wallant K Boris Kaufman M Quincy Jones A Richard Sylbert S Ralph Rosenblum P Philip Langner, Roger Lewis D Rod Steiger, Geraldine Fitzgerald, Brock Peters, Jaime Sánchez, Thelma Oliver | USA | 116 min | 1:1,85 | sw | 26. Juni 1964

23.6.64

A Shot in the Dark (Blake Edwards, 1964)

Ein Schuß im Dunkeln

»You fell of the sofa, you stupid …« – »Everything I do is carefully planned, Madame.« Tatsächlich überlassen Blake Edwards und Peter Sellers nichts dem Zufall – jeder Moment ihrer clouseauesken Whodunit-Farce ist minutiös choreographiert. Mit starrem Entsetzen blickt die Kamera (Christopher Challis) auf die Spasmen des unaufhaltsamen Pariser Inspektors, der seine Ermittlung mit der stattlichen Bilanz von vierzehn Leichen und einem verrückt gewordenen Vorgesetzten (»Give me ten men like Clouseau and I could destroy the world.« – Herbert Lom) abschließt. Die Stiff-upper-lip-Inszenierung setzt wie im Vorgänger auf den Kontrast zwischen geschmackvoller Unmoral der oberen Zehntausend und achtbarem Aufklärungswahn des biederen Polizisten, verschiebt (und simplifiziert) das meisterhafte »Pink Panther«-Gleichgewicht von Romantik und Slapstick jedoch grundsätzlich zugunsten des (von Sellers zugegebenermaßen begnadet dargebotenen) Körperwitzes.

R Blake Edwards B Blake Edwards, William Peter Blatty V Harry Kurnitz, Marcel Achard K Christopher Challis M Henry Mancini A Michael Stringer S Ralph E. Winters P Blake Edwards D Peter Sellers, Elke Sommer, George Sanders, Herbert Lom, Tracy Reed | USA & UK | 101 min | 1:2,35 | f | 23. Juni 1964

15.6.64

För att inte tala om alla dessa kvinnor (Ingmar Bergman, 1964)

Ach, diese Frauen

Ingmar Bergmans manieriert-bonbonbuntes Satyrspiel zum harten Schwarzweiß seiner »Kammerspiel-Trilogie«: Der Starkritiker (und Hobbykomponist) Cornelius will die Biographie des berühmten Cellisten Felix schreiben, dringt zum (unsichtbar bleibenden) Meister jedoch nicht vor – und verliert sich stattdessen in den Liebeshändeln und Ränkespielen des künstlerischen Hofstaates, der neben Impressario und Chauffeur einen siebenköpfigen Harem umfaßt. In ultrakünstlich-zuckerbäckerigen Kulissen (P. A. Lundgren) wird ein weitgehend blutleerer Retorten-Slapstick abgespult, eine ungalante Marivaudage, die als mokanter Racheakt an inkompetent-parasitären Kunstrichtern noch am ehesten nachzuvollziehen ist. Vor dem (meist starren) Auge von Sven Nykvists formal meisterlicher Kamera hampeln und chargieren die Akteure und Aktricen, daß die dünnen Wände wackeln. Für die provozierende Verweigerung von Ernst und Tiefgründigkeit gebührt Bergman (zumal nach einem so ernsten und tiefgründigen Werk wie »Tystnaden«) allerdings ein gewisser Respekt.

R Ingmar Bergman B Ingmar Bergman, Erland Josephson K Sven Nykvist M Erik Nordgren A P. A. Lundgren S Ulla Ryghe P Allan Ekelund D Jarl Kulle, Bibi Andersson, Harriet Andersson, Eva Dahlbeck, Gertrud Fridh | S | 80 min | 1:1,37 | f | 15. Juni 1964

12.6.64

Tim Frazer jagt den geheimnisvollen Mister X (Ernst Hofbauer, 1964)

»J’ai péché.« Eine geheimnisvolle Mordserie erschüttert Antwerpen: Alle zehn Tage stirbt ein Hafenarbeiter durch einen Stilettstich in den Rücken. Der überforderte Inspektor Stoffels (Paul Löwinger) erhält Verstärkung aus London: Tim Frazer (Adrian Hoven) stellt fest, daß Opfer und Täter durch Mitgliedschaft in einer Bande von Rauschgiftschmugglern – beteiligt sind unter anderem eine frivole Schankwirtin, eine leopardige Barbesitzerin und der hinkende Konsul von Anatolien – miteinander verbunden sind … Die ausgedehnten Hafenanlagen Antwerpens und die winkligen Straßen der Altstadt bilden die atmosphärische Kulisse für eine (abgesehen von einigen expressiv beleuchteten Nachtszenen, ein paar überraschenden jump-cuts à la Godard sowie zwei visuell recht attraktiven Verfolgungsjagden auf eine Klappbrücke und durch die Röhre des Sint-Annatunnels unter der Schelde) eher behäbig inszenierte Krimiplotte (die mit Francis Durbridges »Tim Frazer«-Romanen nichts zu tun hat); mindestens ebensosehr wie für die Aufklärung der Bluttaten interessiert sich Ernst Hofbauer für weibliche Dekolletés, denen zu dekorativen Folterzwecken schon mal eine glühende Zigarette gefährlich naherückt. Eine gewisse Originalität beweist die Besetzung Ady Berbers: In den Edgar-Wallace- und Mabuse-Filmen auf die Rolle des debilen Schergen abonniert, darf sich der sympathische Wiener Koloß in diesem Falle einmal als tapferer Helfer der Gesetzeshüter beweisen.

R Ernst Hofbauer B Ernst Hofbauer K Raimund Herold M Heinz Neubrand A Hans Zehetner S Arnd Heyne P Josef Eckert D Adrian Hoven, Paul Löwinger, Corny Collins, Ellen Schwiers, Mady Rahl, Ady Berber | A & B | 87 min | 1:1,66 | sw | 12. Juni 1964

# 916 | 13. November 2014

Banco à Bangkok pour OSS 117 (André Hunebelle, 1964)

Heiße Hölle Bangkok

»L’avenir est une illusion. Le passé n’est qu’un souvenir. Seul le présent conte.« – OSS 117, der französische Smokingtaschen-Bond (in diesem Abenteuer verkörpert von Kerwin Mathews), ermittelt in Bangkok gegen einen gewissen Dr. Gunnar Sinn (Robert Hossein), Modearzt und Parapsychologe, der die Welt mittels eines verbesserten Pestvirus von Überbevölkerung und atomarem Wahnsinn befreien möchte. Guter Plan – aber der Film trödelt ziemlich gedankenlos vor sich hin. Pier Angeli als Lila Sinn (die gute Schwester des Bösen), der rasante, jazzig-thailandisierende Score von Michel Magne sowie eine (vor allem ausstattungsmäßig) angemessen abgedrehte Schlußsequenz heben »Banco à Bangkok« immerhin auf akzeptables Niveau.

R André Hunebelle B Pierre Foucaud, Michel Lebrun, André Hunebelle V Jean Bruce K Raymond Pierre Lemoigne M Michel Magne A René Moulaert S Jean Feyte P Paul Cadéac D Kerwin Mathews, Robert Hossein, Pier Angeli, Dominique Wilms, Gamil Ratib | F & I | 105 min | 1:2,35 | f | 12. Juni 1964

31.5.64

Nikutai no mon (Seijun Suzuki, 1964)

Gate of Flesh

Tokio, Sommer 1945 – inmitten des staubig-grauen Nachkriegschaos lebt (»leben« bedeutet hier eigentlich nur, nicht tot zu sein) eine Gang von fünf Prostituierten – eine in Rot, eine in Gelb, eine in Schwarz, eine in Lila, eine in Grün – nach der Regel: »Niemals Sex ohne Geld«. Wer das Gesetz mißachtet, wird von den anderen grausam-genüßlich bestraft. Als ein kriminell gewordener Kriegsheimkehrer in dieses menschenfeindliche Idyll stößt, wird die brutale weibliche Solidarität von Eifersucht zersetzt, aber auch so etwas wie (trügerische) Hoffnung blüht wieder in den Ruinen … Seijun Suzuki und sein Ausstatter Takeo Kimura lassen die zerbombte japanische Hauptstadt als surreale Sperrholzkulisse wiederauferstehen und verwandeln ihren Sado-Maso-Groschenroman in ein grellbuntes moralisches Schlammcatchen, wo unter anderem folgende Frage von bleibender Aktualität verhandelt wird: Essen wir, um uns verkaufen zu können, oder verkaufen wir uns, um essen zu können?

R Seijun Suzuki B Goro Tanada V Taijiro Tamura K Shigeyoshi Mine M Naozumi Yamamoto A Takeo Kimura S Akira Suzuki P Kaneo Iwai D Yumiko Nogawa, Jo Shishido, Kayo Matsuo, Satoko Kasai, Tamiko Ishii | JP | 90 min | 1:2,35 | f | 31. Mai 1964

27.5.64

La cripta e l’incubo (Camillo Mastrocinque, 1964)

Ein Toter hing am Glockenseil

Ein dunkles Familiengeheimnis, ein einsames Schloß, ein verlassenes Dorf, eine Glocke die vom Wind geläutet wird – auf der Familie von Karnstein liegt ein uralter Fluch: Vor Jahrhunderten wurde eine der ihren wegen Hexerei gekreuzigt; der Geist jener vermaledeiten Sheena aber blieb lebendig und sucht die nachfolgenden Generationen heim. Graf Ludwig (Christopher Lee) fürchtet um das Wohl seiner Tochter Laura, die unter dem Bann der nachtragenden Ahnin zu stehen scheint. Ein schwarzromantischer Gruselfilm über Besessenheit und Rache, über Schuld, die nicht vergeht, und Vergangenheit, die unheilvoll wiederkehrt. Laura, von Alpträumen gequält, findet Zuspruch bei Ljuba, einer zärtlichen Fremden, die eines Tages in ihr Leben tritt – und doch geht von ebendieser liebevollen Trösterin eine tödliche Bedrohung aus. Ein Historiker mit dem doppeldeutschen Namen Friedrich Klauss, ein Mann der Fakten und der Aufklärung, dem Okkulten dennoch nicht abhold, wird herbeigerufen, das Mysterium zu ergründen. Ein traumverlorenes Nachtstück über Grabsteine ohne Namen, über seherische Krüppel, über Bilder, unter deren sichtbarer Oberfläche die eigentlichen Bilder schimmern – Camillo Mastrocinques freie Bearbeitung einer Novelle von Sheridan Le Fanu deutet die Welt als Palimpsest, als Überlagerung von verborgenen, verdrängten, verhüllten Erinnerungen, Schicksalen, Wirklichkeiten, von unmerklich waltenden Kräften, die irgendwann, vielleicht, hoffentlich offenbar werden. »Per quanto la realtà possa essere brutta, è sempre meno impressionante dei fantasmi della paura«, behauptet der Realist: »Auch wenn die Wahrheit brutal sein kann, so ist sie doch weniger bedrohlich als die Gespenster der Angst.«

R Thomas Miller (= Camillo Mastrocinque) B Robert Bohr (= Tonino Valerii), Julian Berry (= Ernesto Gastaldi) V Sheridan Le Fanu K Julio Ortas M Herbert Buckman (= Carlo Savina) A Demos Filos (= Demofilo Fidani) S Herbert Markle P William Mulligan (= Mario Mariani) D Christopher Lee, Audry Amber (= Adriana Ambesi), Ursula Davis, José Campos, Vera Valmont | I & E | 82 min | 1:1,85 | sw | 27. Mai 1964

# 946 | 21. März 2015

22.5.64

Nebelmörder (Eugen York, 1964)

Schon zweimal hat der brutale Killer bei Nacht und Nebel im Forst zugeschlagen. In beiden Fällen wurden Frauen mit einem Okuliermesser abgestochen. Trotz aller Bemühungen von Kommissar Hauser (Hansjörg Felmy), den Täter zu stellen, ereignet sich ein weiterer Mord in der ansonsten ruhigen Provinzstadt Hainburg. Neben einem vorbestraften Gewaltverbrecher und einem geistig minderbemittelten Gärtner geraten zwei Abiturienten in Verdacht: der leicht gehemmte Primus Erwin und sein blitzgescheiter Klassenkamerad Heinz Auer (Ralph Persson) … Zwar erinnert das (sehr sporadische) Auftreten des brutalen Schlitzers – mit Hut, Maske und bodenlangem Gummimantel – an vergleichbare Gestalten des italienischen Thrillers, doch Ästhetik, Erzählweise und Problembewußtsein von Eugen Yorks »Nebelmörder« sind ganz dem frühen bundesdeutschen Fernsehkrimi verpflichtet. Die Darstellung von aufblühender Jugendkultur (Scheunenpartys! Kleidertausch! Sex vor der Ehe!) und ratlos-besorgter Elterngeneration weist, wenn auch mit einiger Onkelhaftigkeit, immerhin auf die soziologischen Verwerfungen der späteren 1960er Jahre voraus.

R Eugen York B Walter Forster, Per Schwenzen K Günter Haase M Herbert Jarczyk A Karl Schneider S Walter Fredersdorf P Waldemar Schweitzer D Hansjörg Felmy, Ingmar Zeisberg, Ralph Persson, Jürgen Janza, Berta Drews | BRD | 90 min | 1:1,37 | sw | 22. Mai 1964

9.5.64

The Pumpkin Eater (Jack Clayton, 1964)

Schlafzimmerstreit

Szenen einer Ehe in den Zeiten des Überflusses ... »My life is an empty place.« Diejenige, die das sagt, hat acht (!) Kindern von drei Vätern: Jo Armitage (Anne Bancroft), verheiratet mit Jake (Peter Finch), einem erfolgreichen Drehbuchautor, der jedem Rock hinterherläuft. »The Pumpkin Eater« (der Titel zitiert einen alten englischen Kinderreim: »Peter, Peter, pumpkin eater / Had a wife and couldn't keep her. / He put her in a pumpkin shell / And there he kept her very well«) verfolgt – von Harold Pinter nicht linear nacherzählt, sondern in erhellenden Rück- und Vorausblenden seziert – den Weg eines wohlhabenden Londoner Paares vom ersten Kennenlernen, durch Höhen und Tiefen, bis zur großen Krise (Höhepunkt: Jos theatralischer Nervenzusammenbruch im Kaufhaus Harrods), in der sich (für beide Partner) die Frage von Gehen oder Bleiben stellt. Regisseur Jack Clayton – der zuvor, mit jeweils großer formaler Finesse, eine düstere Sozialstudie und einen schauerromantischen Horrorfilm drehte – inszeniert die Beziehungsgeschichte der krankhaft fruchtbaren Frau und des zwanghaft fremdgängerischen Mannes im Stile eines extravaganten Naturalismus von bisweilen halluzinatorischer Qualität. Die Thematisierung zwischenmenschlicher Entfremdung, die satirische Verzerrung gesellschaftlicher Verhältnisse verraten Einflüsse von Antonioni und Fellini; Oswald Morris’ scharfsichtige Schwarzweißbilder, Georges Delerues elegischer Score, vor allem aber die außerordentlichen Leistungen der Schauspielerinnen und Schauspieler verleihen dieser ebenso originellen wie strapaziösen filmischen Betrachtung von Liebe und Sex, Bindungswunsch und Fluchtreflex, Normen und Neurosen ihre ganz eigentümliche Faszinationskraft.

R Jack Clayton B Harold Pinter V Penelope Mortimer K Oswald Morris M Georges Delerue A Edward Marshall S Jim Clark P James Woolf D Anne Bancroft, Peter Finch, James Mason, Janine Gray, Maggie Smith, Cedric Hardwicke | UK | 110 min | 1:1,85 | sw | 9. Mai 1964

# 1047 | 16. Februar 2017

30.4.64

Die Gruft mit dem Rätselschloß (Franz Josef Gottlieb, 1964)

Eine junge Australierin wird nach London geladen, um das Erbe jenes Mannes anzutreten, der einst ihren Vater ruinierte und in den Selbstmord trieb. Es ist das schlechte Gewissen, das den greisen Mr. Real (Rudolf Forster) dazu veranlaßt, sein an manipulierten Spieltischen erworbenes Vermögen in unschuldige Hände zu geben. Der (Pest-)Geruch des Geldes lockt freilich auch andere: die ehemaligen Komplizen des Alten, die sich von ihrem früheren Chef übervorteilt fühlen … Verhängnisvolle Maschinerien stehen im Mittelpunkt des Films (und des (begrenzten) gestalterischen Interesses von Regisseur Franz Josef Gottlieb): das menschenfressende Mahlwerk einer Windmühle sowie ein unterirdischer Safe in Gestalt eines gigantischen Spielautomaten, der für die habgierigen Zocker allerlei tödliche Überraschungen bereithält. Der rettende Scotland-Yard-Inspektor spielt in diesem (erzählerisch eher inkonsequenten) Edgar-Wallace-Jeu ausnahmsweise nur eine Nebenrolle; zu dieser Besonderheit paßt die Figur des charmant-zwielichtigen Protagonisten (Harald Leipnitz), der schließlich – im Konflikt zwischen erotischen und pekuniären Ambitionen – seinen Einsatz verspielt.

R Franz Josef Gottlieb B Robert A. Stemmle, Franz Josef Gottlieb V Edgar Wallace K Richard Angst M Peter Thomas A Wilhelm Vorweg, Walter Kutz S Jutta Hering P Horst Wendlandt D Harald Leipnitz, Judith Dornys, Eddi Arent, Rudolf Forster, Werner Peters, Klaus Kinski | BRD | 89 min | 1:2,35 | sw | 30. April 1964

# 980 | 23. November 2015

23.4.64

Wartezimmer zum Jenseits (Alfred Vohrer, 1964)

Ein kühler, trister, fast schwermütiger Sonderling, dieser seltsam schöne Alfred-Vohrer-Film, ein leicht verschnittenes Krimi-Couture-Stück, weggehängt und vergessen zwischen geläufiger Wallace-Stangenware. James Hadley Chase lieferte die Vorlage: Es geht um ein Erpressersyndikat, das reichen Herren gegen Bezahlung das Leben läßt; Hildegard Knef spielt die unendlich traurige Organisatorin des Terrors, weltweit unterwegs im Auftrag eines gelähmten Hintermannes (erbarmungslos: Richard Münch), der als hochgeschätzter Marchese in einem Traumschloß an der Adria residiert; ein junger Mann (resolut: Götz George), dessen Onkel Opfer der Verbrecher wurde, will den Laden aufmischen … Es sind die Ultrascope-Bilder von ungerührter Klarheit (Kamera: Bruno Mondi), die melancholischen Klavierkaskaden (Musik: Martin Böttcher), die alabasterglänzenden Unterwelten (Bauten: Mathias Matthies & Ellen Schmidt), die dieses Ballett des Mißtrauens und des Verrats, diesen Thriller, der cool an der Grenze von rauhem Spät-Noir und barocker Mabuse-Phantastik wandelt, über den (deutschen) Genre-Durchschnitt heben – aber es ist die nicht erzählte Liebesgeschichte zwischen einer müden Frau und einem draufgängerischen Grünschnabel, die im Gedächtnis bleibt.

R Alfred Vohrer B Eberhard Keindorff, Johanna Sibelius V James Hadley Chase K Bruno Mondi M Martin Böttcher A Mathias Matthies, Ellen Schmidt S Hermann Haller P Horst Wendlandt D Hildegard Knef, Götz George, Richard Münch, Pinkas Braun, Klaus Kinski | BRD | 90 min | 1:2,35 | sw | 23. April 1964

20.4.64

La peau douce (François Truffaut, 1964)

Die süße Haut 

Der (schwache) Mann, die (temperamentvolle) Frau, die (zwanglose) Geliebte. Die (eingefahrene) Ehe, die (kurze) Affäre, der (plötzliche) Tod. Die Liebe? Eher nicht. – Im Mittelpunkt: Pierre Lachenay (Jean Desailly), ein homme de lettres, der Vorträge hält über Balzac und das Geld oder über die letzten Tage von André Gide, verheiratet, ein Kind. Er schlittert in ein hektisches Verhältnis mit der blond-unkomplizierten Stewardess Nicole (Françoise Dorléac), zu deren sorgloser Frische er sich so wenig bekennen kann, wie er sich zur Trennung von seiner brünett-blutvollen Gattin (Nelly Benedetti) entschließen mag. Pierre ist – sein Nachname deutet es an – lâche (= feige), ein Typ ohne Courage, der sich vor Entscheidungen drückt, bis andere (die Frauen) für ihn (und damit für sich selbst) die befreienden Entschlüsse fassen. In der Anlage ein Ehebruchs- und Eifersuchtsdrama, verarbeitet François Truffaut das banale fait divers zu einer klinisch-distanzierten, in eine Vielzahl von kurzen Eindrücken zerlegte Studie einer wüstenhaften männlichen Gefühlslandschaft: »La peau douce« kon­statiert Symptome kommunikativer Impotenz bei gleichzeitig aufleuchtender intellektueller Brillanz, schildert das Nebeneinander von triebhafter Ziellosigkeit und dem Unvermögen, (eigene und fremde) Empfindungen zuzulassen oder zu begreifen. Das somnambule Leben des Protagonisten, für den ob seiner Indolenz keine Empathie, nicht einmal Mitleid, nur seelenkundliches Interesse aufkommt, endet gewaltsam beim Mittagessen im Restaurant – der finale Knalleffekt setzt den Schlußpunkt unter etwas, das nie wirklich begonnen hat.

R François Truffaut B François Truffaut, Jean-Louis Richard K Raoul Coutard M Georges Delerue S Claudine Bouché P François Truffaut D Jean Desailly, Françoise Dorléac, Nelly Benedetti, Daniel Ceccaldi, Laurence Badie | F | 119 min | 1:1,66 | sw | 20. April 1964

17.4.64

Černý Petr (Miloš Forman, 1964)

Der schwarze Peter

Für Petr (Ladislav Jakim), 17 Jahre alt, beginnt das Berufsleben in einem Lebensmittelgeschäft. Seine erste Aufgabe ist die Überwachung der hochgeschätzten, doch stets verdächtigen Kundschaft. Ein vermeintlicher Langfinger, den der Auszubildende durch die halbe Stadt verfolgt, erweist sich als guter Bekannter des Chefs, eine Diebin, die ihre Handtasche mit Bonbons füllt, läßt der Detektiv wider Willen gleichgültig laufen. Zuhause hält der rechthaberische Vater lange Vorträge über das Leben und wie es richtig zu leben sei, während die liebende Mutter mit passiv-repressiver Ausdauer die Forderung nach Gegenliebe erhebt. Miloš Forman zeigt die Welt, in die hineinzuwachsen jedermanns Bestimmung ist, als Bühne eines absurden Theaters, wo sich die Verunsicherung als Gewißheit tarnt und jede Hinwendung zum Vorwurf wird. Aber auch die Wirklichkeit der Jugendlichen – neben dem Protagonisten richtet Miloš Forman seinen Blick insbesondere auf Petrs Flamme Pavla sowie auf die beiden desorientiert-präpotenten Mauerlehrlinge Cenda und Zdenek – erscheint nicht als Himmel auf Erden, sondern als Sphäre der Verklemmung und der Aufschneiderei, der Unübersichtlichkeit und des (Selbst-)Zweifels. Ob im Schwimmbad oder auf der Sommerwiese, ob auf dem Tanzfest oder in der Wohnzimmergruft, überall zeigt Formans skizzenhafter Realismus – mit bissigem Witz und ironischer Anteilnahme –, wie schwer es fällt, sich nicht den schwarzen Peter zuschieben zu lassen.

R Miloš Forman B Miloš Forman, Jaroslav Papoušek K Jan Němeček M Jiří Šlitr A Karel Černý S Miroslav Hájek P Vladimír Bor, Jiří Šebor D Ladislav Jakim, Pavla Martínková, Jan Vostrčil, Božena Matušková, Vladimír Pucholt | CS | 85 min | 1:1,37 | sw | 17. April 1964

# 1172 | 18. August 2019

9.4.64

Die Tote von Beverly Hills (Michael Pfleghar, 1964)

»Tote sind auch nur Menschen.« Auf einem Hügel oberhalb von Los Angeles liegt eine junge Frau. Sie ist schön. Sie ist nackt. Sie wurde ermordet. Der Leichenfinder (Klausjürgen Wussow) und ein Detektiv (Wolfgang Neuss) gehen gemeinsam auf Mörderjagd. Aufschlüsse soll insbesondere das intime Tagebuch der Toten geben, das – im Gegensatz zum spröden Schwarzweiß der Krimi-Rahmenhandlung – als erotisch-verschnörkelter Lebensroman in Eastmancolor inszeniert ist: Lu (Heidelinde Weiss), als Halbwüchsige einem Wagner-Tenor verfallen, reifte, vom lüsternen Blick der Männer gleichermaßen verstört und erregt, zur koketten Nymphomanin, die einen schüchterne Seminaristen ebenso lässig um den Finger zu wickeln verstand wie einen betagten Altertumsforscher … Wollte sich Curt Goetz mit seinem (einzigen) Roman wohl vor allem einen (leicht onkelhaften) Jux auf schnulzige Bekenntnisliteratur und auf das Land seines (unfreiwilligen) Exils machen, liegt die Zielrichtung der Adaption restlos im Dunkeln: Michael Pfleghars überlange kalifornische Extravaganz wartet zwar mit einigen phantasmagorischen Show-Einfällen auf (ein Büro im luftigen Rohbau, eine mondäne Stehparty im Swimmingpool, Ausgrabungen mit dem Bulldozer), der (magere) filmische Witz beschränkt sich jedoch weitgehend auf Zeitraffer-Slapstick, Tricklinsen-Klimbim und furzkissenmäßige musikalische Kommentierung des Geschehens. Daß die Aufklärung des Verbrechens kaum interessiert, daß satirische Gesellschaftskritik nicht unbedingt auf der Agenda des eskapistischen Werks steht, mag zu verschmerzen sein, prekär erscheint allerdings die Ausstrahlung der Hauptdarstellerin, die bei allem Bemühen um sinnliche Fatalität eher an ein nett lächelndes ›Brigitte‹-Covergirl erinnert als an eine männerverhexende Lolita.

Die Tote von Beverly Hills | R Michael Pfleghar B Peter Laregh, Michael Pfleghar, Hansjürgen Pohland V Curt Goetz K Ernst Wild M Heinz Kiessling S Margot von Schlieffen P Hansjürgen Pohland D Heidelinde Weiss, Klausjürgen Wussow, Wolfgang Neuss, Ernst Fritz Fürbringer, Horst Frank | BRD | 110 min | 1:2,35 | sw & f | 9. April 1964

# 924 | 4. Dezember 2014

8.4.64

Paris – When It Sizzles (Richard Quine, 1964)

Zusammen in Paris

»It’s an action, suspense, romantic melodrama with lots of comedy, of course. And deep down underneath, a substrata of social comment.« In jenem glücklichen Paralleluniversum, wo die Filmproduzenten auf ihren Kostümfesten als Kaiser Nero auftreten, sehen die Drehbuchautoren aus wie Doubles von William Holden, schütten während ihrer »Arbeit« gallonenweise teure Spirituosen in sich hinein und leben nicht schlecht von der frechen Behauptung, schreiben zu können. Tippfräulein mit dem gefälligen Äußeren einer Audrey Hepburn bringen den stilvollen Unfug, der den vernebelten Hirnen der überbezahlten Szenaristen entspringt, übers Wochenende zu Papier – und anschließend wird der ganze Quatsch an den schönsten Orten dieser besseren Welt fröhlich auf Zelluloid gebannt. Die Hauptrollen solch angenehm nutzloser Werke spielen sympathische Säufer wie (richtig geraten!) William Holden und ewige Mädchen wie (wer sonst?) Audrey Hepburn; gut gelaunte Knallchargen wie Noël Coward und Tony Curtis tragen das ihre zum Gelingen solcher Unternehmungen bei, und Legenden wie Marlene Dietrich sind sich nicht zu schade, völlig grundlos durchs Bild zu stöckeln, solange man ihnen genug Geld hinterherwirft… »Paris – When It Sizzles« (ein Remake von Julien Duviviers flotter 14-juillet-Komödie »La fête à Henriette«) ist so ein blödsinniger Film – mit der Besonderheit vielleicht, daß er den Blödsinn nicht einfach abspult, sondern gleichzeitig selbstironisch und leichtherzig kommentiert.

R Richard Quine B George Axelrod K Charles Lang M Nelson Riddle A Jean d'Eaubonne S Archie Marshek P Richard Quine, George Axelrod D William Holden, Audrey Hepburn, Grégoire Aslan, Noël Coward, Tony Curtis, Marlene Dietrich | USA | 110 min | 1:1,85 | f | 8. April 1964

27.3.64

Kennwort: Reiher (Rudolf Jugert, 1964)

Belgien und Frankreich im Zweiten Weltkrieg: Eine Geheimorganisation schleust alliierte Soldaten quer durch die von der Wehrmacht besetzten Länder zur spanischen Grenze. Es ist weniger die äußere Bedrohung durch deutsche Verfolger, die Dramatik erzeugt, es sind vielmehr die Konflikte innerhalb des kleinen Fluchttrupps, die den Ton und die Bewegungen von Rudolf Jugerts Film bestimmen, die wachsenden Spannungen zwischen dem aufreizend gelassenen Anführer, Major Barton (Peter van Eyck), der suspekterweise die Sprache des Feindes spricht, und dem hochfahrenden Hektiker (Charles Hickman), dem schneidigen Abwehrmann (Geoffrey Toone) sowie dem anlehnungsbedürftigen Jungspund (Fritz Wepper), es sind die kalten Bilder unwirtlicher Winterland­schaften in der ersten Hälfte und die klaustrophische Enge eines Dachbodens, wo der zweite Teil von »Kennwort: Reiher« spielt, es sind die kleinen Dramolette an den diversen Stationen des gefahrvollen Weges, die Miniaturportraits, die gezeichnet werden – die Gebete des hasenfüßigen Pfarrers, der Genuß eines edlen Rotweins bei der Witwe mit den drei hübschen Töchtern, die tiefe Haßliebe zu allem Deutschen, die den alten Professor (Walter Rilla) beherrscht –, es ist das (bisweilen schwer erträgliche) Feldausgaben-Pathos des Reineckerschen Dialogs: »Verantwortung ist ein hartes Brot, das zu saurem Wein gegessen wird.« Das kalte, bedauernswert ehrliche Ende läßt einen Unschuldigen über die Klinge des falschen Ver­dachts springen und die hilflosen Zuschauer unfroh zurück.

R Rudolf Jugert B Herbert Reinecker V Charles Morgan K Wolf Wirth, Hans Jura M Rolf A. Wilhelm A Wolf Englert S Heidi Genée P Franz Seitz D Peter van Eyck, Maria Versini, Walter Rilla, Fritz Wepper, Charles Hickman | BRD | 97 min | 1: 1,66 | sw | 27. März 1964

20.3.64

Weiße Fracht für Hongkong (Helmuth Ashley, 1964)

Zahlreiche kriminelle Schlitzaugen treiben in Helmuth Ashleys kunterbunter Heftchen-Chinoiserie ihr Unwesen, doch der wahre Schurke des Stücks ist weiß: Robert Perkins, der äußerlich so achtbare Transportunternehmer, agiert nicht nur als »Nummer 1« eines weitverzweigten Heroinschmugglerrings (dessen »Chef« sich bis fast zum Schluß des Films in genreübliche Unsichtbarkeit hüllt), er macht auch krumme Geschäfte auf Kosten der eigenen Spießgesellen. Horst Frank spielt den tückischen Erzhalunken mit kalt lächelnder Abgebrühtheit, mit infam grinsender Lust am Bösen. Hongkong erscheint als fotogen-geläufige Groschenheft-Kulisse: Klaus von Rautenfelds elegante Ultrascope-Kamera setzt in der Schablonenexotik der Nachtbars und Dschunken, der Geheimverliese und Trödelläden immer wieder leuchtend rote Akzente der Gefahr, während »schöne Frauen und mutige Männer« (unter anderem Maria Perschy als verfolgte Unschuld sowie Dietmar Schönherr und Brad Harris als couragierte Söldnerpiloten) in blutig-klamottige »Abenteuer auf Leben und Tod« verwickelt werden.

R Helmuth Ashley B Werner P. Zibaso K Klaus von Rautenfeld M Willy Mattes A Hans Berthel S Herbert Taschner P Wolf C. Hartwig D Horst Frank, Dietmar Schönherr, Brad Harris, Maria Perschy, Philippe Lemaire | BRD & F & I | 90 min | 1:2,35 | f | 20. März 1964

# 839 | 23. Februar 2014

The Pink Panther (Blake Edwards, 1964)

Der rosarote Panther

Paris, Rom, Cortina d’Ampezzo … Diamanten, Pelze, (Après-)Ski … eine steinreiche Prinzessin (Claudia Cardinale), ein kultivierter Gentleman-Dieb (David Niven), ein hartnäckiger Ermittler (Peter Sellers). Blake Edwards mixt mit »The Pink Panther« einen perfekten Cocktail aus fein moussierender Romantik, lässiger sophistication, abgezirkelter Komik, schafft eine delikate Synthese aus cooler Musik, coolen Bildern, coolem Habitus – und mehr: Der surreale Einbruch des (selbst-)zerstörerischen Wahnsinns (in Gestalt des scheinbar unscheinbaren Inspektor Clouseau) in die sorglos-stilvolle Welt der happy few, wo Kriminalität als amüsanter Zeitvertreib unter gleichgestimmten Connaisseuren betrieben wird, veredelt die brillante High-Society-Komödie mittels physischer (und sozialer) Paradoxien unversehens zur formvollendeten Nonsense-Analyse gesellschaftlicher Zustände: Der (ziemlich kleinbürgerliche) Vertreter der Wahrheit erscheint als ehrlicher Dummer, als spektakulärer Pausenclown, der die lasterhaften Schönen und Reichen zwar intuitiv durchschaut, ihrem ruchlosen Treiben aber letztlich nicht beikommen kann. PS: »Where is my Sûreté-Scotland-Yard-type mackintosh?«

R Blake Edwards B Maurice Richlin, Blake Edwards K Philip H. Lathrop M Henry Mancini A Fernando Carrere S Ralph E. Winters P Martin Jurow D David Niven, Peter Sellers, Claudia Cardinale, Capucine, Robert Wagner | USA | 113 min | 1:2,35 | f | 20. März 1964

14.3.64

Sei donne per l’assassino (Mario Bava, 1964)

Blutige Seide

Mario Bavas exquisites Killer-Thriller-Kunstprodukt schickt die gesamte weibliche Belegschaft des vornehmen römischen Modehauses ›Christiana‹ in den Orkus. Der maskierte Mörder beweist dabei eine bemerkenswert morbide Phantasie: Die hübschen Mannequins werden wahlweise in der häuslichen Badewanne ersäuft, mit der dornenbewehrten Pranke einer mittelalterlichen Rüstung erschlagen oder gegen einen glühenden Ofen gedrückt. Wenn auch »Sei donne per l'assassino« erzählerisch kaum mehr bietet denn einen solide konstruierten Whodunit (mit recht hämischer Auflösung), zeigen die brutale Eleganz der Regie, die labyrinthisch-barocken Szenerien und insbesondere die psychedelische Farbdramaturgie Bava auf dem Höhepunkt seiner Meisterschaft als Verfertiger sublimer Trivialitäten.

R Mario Bava B Marcello Fondato, Giuseppe Barilla, Mario Bava K Ubaldo Terzano M Carlo Rustichelli A Arrigo Breschi S Mario Serandrei P Alfredo Mirabile, Massimo Patrizi D Cameron Mitchell, Eva Bartok, Thomas Reiner, Ariana Gorini, Dante DiPaolo | I & F | 88 min | 1:1,85 | f | 14. März 1964

4.3.64

Le journal d’une femme de chambre (Luis Buñuel, 1964)

Tagebuch einer Kammerzofe

»J’aime l’armée, la religion, l’ordre, ma patrie surtout. Un bandit aimerait tout ça?« Célestine (Jeanne Moreau) reist mit der Bahn von Paris in die nordfranzösische Provinz, um bei der landadeligen Familie Monteil in Stellung zu gehen. Mit kühler, ironisch gefärbter Objektivität registriert die Bedienstete ihre neue Umgebung: Madame, frustriert und frigide, beargwöhnt Monsieur, der jedem Rock hinterherhechelt, unterdes der betagte Patriarch seinem Fetisch für Schnürstiefel frönt und der viril-sadistische Kutscher, voller Haß auf alles Fremde, chauvinistische Pamphlete verfaßt. Es ist eine bigotte, graue, feindselige, eine bei allem Sauberkeitsfimmel zutiefst schmutzige Welt, die Luis Buñuel durch die Augen der scharfblickenden Kammerzofe betrachtet, eine Welt, in der Schmetterlinge erschossen werden und Schnecken über die Beine lustgemordeter Mädchen kriechen. Daß Célestine letztlich per Heirat zum Mitglied der depravierten Gesellschaft aufsteigt, kann als kapitulative Resignation oder als konsequente Ausnutzung von Möglichkeiten begriffen werden. Indem Buñuel seine Adaption des zur Jahrhundertwende erschienenen Romans von Octave Mirbeau in die frühen 1930er Jahre verlegt, interpretiert er die herrschende bürgerliche Gesinnung, eine ungute Mischung aus selbstmitleidiger Verbitterung und mörderischer Aggression, als (eine) Triebkraft des heraufziehenden Faschismus.

R Luis Buñuel B Luis Buñuel, Jean-Claude Carrière V Octave Mirbeau K Roger Fellous A Georges Wakhévitch S Louisette Hautecœur P Serge Silberman, Michel Safra D Jeanne Moreau, Georges Géret, Michel Piccoli, Françoise Lugagne, Jean Ozenne | F & I | 101 min | 1:2,35 | sw | 4. März 1964

# 1028 | 6. Oktober 2016

1.3.64

Murder Most Foul (George Pollock, 1964)

Vier Frauen und ein Mord

»Murder most foul as in the best it is / But this most foul, strange and unnatural.« Miss Marple (Margaret Rutherford – who else?) als zwölfte Geschworene in einem Mordprozeß und (natürlich) klüger als der Rest der Jury: Daß der Angeklagte direkt neben der Strangulierten und einem großen Haufen Pfundnoten ertappt wurde, überzeugt die gewitzte Alte längstens nicht von dessen Schuld. Sie gräbt tiefer und stellt den wahren Täter, indem sie als Schauspielerin bei einer Wanderbühne anheuert, wo einstmals auch das Opfer auf den klapprigen Brettern stand, die angeblich die Welt bedeuten. Einmal mehr betrachtet George Pollock Mord nicht gerade »as one of the fine arts«, destilliert aber – vor allem Dank seiner exzentrischen Darsteller – gehobene Unterhaltung aus den Verwicklungen und Bluttaten rund um die kombinatorisch hochbegabte Seniorin.

R George Pollock B David Pursall, Jack Seddon V Agatha Christie K Desmond Dickinson M Ron Goodwin A Frank White S Ernest Walter P Ben Arbeid D Margaret Rutherford, Ron Moody, Charles Tingwell, Andrew Cruickshank, Dennis Price | UK | 90 min | 1:1,66 | sw | 1. März 1964

28.2.64

Kdyby ty muziky nebyly (Miloš Forman, 1964)

Wenn’s keine Musikanten gäbe

Eine halbdokumentarische Feldforschung zum Thema Tradition und Nonkonformismus, ein süffisanter Traktat über Eingliederung und Insubordination. Zwei junge Trompeter spielen in verschiedenen Kapellen, die sich auf die Teilnahme an einem bedeutenden Blasmusikfestival vorbereiten. Am Tag der Tage besuchen die Nachwuchsbläser indes lieber ein Motorradrennen. Für die stolzen Kapellmeister bricht eine Welt zusammen, die ehrvergessenen Orchestermitglieder werden umgehend entlassen. Wenig später finden die beiden Gefeuerten in der jeweils anderen Truppe ein neues blasmusikalisches Zuhause. Miloš Forman gibt den Stimmen von Disziplin und Reglement reichlich Raum, nur um die Phraseologie in einer aberwitzigen Schlußpointe lakonisch verpuffen zu lassen.

R Miloš Forman B Miloš Forman, Ivan Passer K Miroslav Ondříček M diverse S Miroslav Hájek P Vladimír Bor, Jiří Šebor D Jan Vostrčil, František Zeman, Vladimír Pucholt, Vaclav Blumenfeld | CS | 33 min | 1:1,37 | sw | 28. Februar 1964

# 1171 | 18. August 2019

Konkurs (Miloš Forman, 1964)

Wettbewerb

Die Betreiber der Prager Kleinkunstbühne ›Semafor‹ veranstalten einen Wettbewerb, um eine neue Vokalistin für das Ensemble zu finden. Vor den Musikern Jiří Suchý und Jiří Šlitr (in der wirklichen Wirklichkeit Betreiber der Prager Kleinkunstbühne ›Semafor‹) demonstrieren Dutzende junger Kandidatinnen mehr oder weniger überzeugend ihr stimmliches Können – unter ihnen eine Fußpflegerin mit Drang zu Höherem und die schmollmündig-hochnäsige Sängerin einer Rock’n’Roll-Combo, die im entscheidenden Augenblick keinen Ton herausbringt. Miloš Forman betrachtet die (halb arrangierte, halb lebensechte) Talentschau mit dokumentarischer Distanz, ohne sich über Hingabe und Zuversicht der Aspirantinnen lustig zu machen.

R Miloš Forman B Miloš Forman, Ivan Passer K Miroslav Ondříček M Jiří Šlitr S Miroslav Hájek P Vladimír Bor, Jiří Šebor D Jiří Suchý, Jiří Šlitr, Věra Křesadlová, Markéta Krotká, Ladislav Jakim | CS | 47 min | 1:1,37 | sw | 28. Februar 1964

# 1170 | 18. August 2019

27.2.64

Schwarzer Samt (Heinz Thiel, 1964)

Stasi-Offizier Alexander Berg will gerade seinen (seit Jahren immer wieder verschobenen) Winterurlaub antreten, als er den Auftrag erhält, Licht in eine undurchsichtige Sache zu bringen: Es beginnt mit einem verdächtigen Volkswagen an der Ecke Marien- und Luisenstraße in Berlin-Mitte und endet mit der Auflösung eines Intrigengeflechts aus versuchter Sabotage und geplanter Republikflucht, imperialistischer Wühlarbeit und taktischem Ehebruch im Umfeld der Leipziger Frühjahrsmesse … Heinz Thiel inszeniert die Spionagestory ideologisch zuverlässig, dabei durchaus mit Sinn für (vor allem zwischenmenschliche) Spannungsmomente. Interesse verdient »Schwarzer Samt« aber in erster Linie wegen seiner gegen den Strich gebürsteten Besetzung: Der koboldhafte Charaktermime Fred Delmare gibt den ausgebufften Geheimdienstmann, indes Günther Simon, ansonsten auf die Darstellung wackerer Sozialisten abonniert, einen fleischig-verschlagenen Ingenieur spielt, der nicht nur Werk, Staat und Ehefrau hintergeht, sondern, Gipfel der Falschheit, auch noch die eigene Geliebte (die dem Scheißkerl freilich die Rechnung präsentiert).

R Heinz Thiel B Gerhard Bengsch V Fred Unger K Horst E. Brandt M Helmut Nier A Alfred Tolle S Anneliese Hinze-Sokolow P Dieter Dormeier D Fred Delmare, Günther Simon, Christa Gottschalk, Christine Laszar, Herbert Köfer | DDR | 80 min | 1:2,35 | sw | 27. Februar 1964

# 809 | 2. Dezember 2013

20.2.64

Zimmer 13 (Harald Reinl, 1964)

Mit tagesaktueller Behendigkeit strickt Autor Quentin Philips (der im wirklichen Leben Will Tremper heißt und als großschnauziger Boulevardreporter sowie flotter Autorenfilmer seine Meriten verdiente) den berühmten Postzugraub vom August 1963 in die Edgar-Wallace-Plotte um eine Serie von Rasiermessermorden an hübschen jungen Damen. Obwohl abermals ein dunkles Familiengeheimnis seine noch dunkleren Schatten wirft, fällt »Zimmer 13« in mehr als einer Hinsicht (durchaus vorteilhaft) aus dem starren Rahmen der Reihe: Der Tonfall ist verhältnismäßig rough, die Handlung relativ nachvollziehbar, Eddi Arent halbwegs ernstzunehmen. Zudem überrascht Regisseur Harald Reinl mit einem vergleichsweise hohen body count und einer kriminalistischen Auflösung, die den männlichen Helden am Ende ohne weibliche Begleitung dastehen läßt.

R Harald Reinl B Quentin Philips (= Will Tremper) V Edgar Wallace K Ernst W. Kalinke M Peter Thomas A Wilhelm Vorwerg, Walter Kutz S Jutta Hering P Horst Wendlandt D Joachim Fuchsberger, Karin Dor, Richard Häußler, Walter Rilla, Eddi Arent | D & F | 89 min | 1:2,35 | f | 20. Februar 1964

19.2.64

Les parapluies de Cherbourg (Jacques Demy, 1964)

Die Regenschirme von Cherbourg

»Super ou ordinaire?« lautet – gesungen natürlich – die alles entscheidende Frage kurz vor Schluß dieses exzeptionellen ›film enchanté‹. Die Antwort versteht sich von selbst: Super! Super, wie in eine bonbonbunte Romanze ganz beiläufig die Melancholie, die Angst, der Krieg eingeflochten werden, bis die Liebe schließlich zum Drama wird. Super, wie sich ein pathetisches »Ich sterbe, wenn du gehst!« in die pragmatische Ehe mit einem anderen verwandelt. Super, wie Jacques Demy und Michel Legrand die bezaubernde Geneviève (Catherine Deneuve), den gefälligen Guy (Nino Castelnouvo) sowie all die anderen Heldinnen und Helden ihrer alltäglich-überspannten scènes de la vie de province den fettesten Schmalz und die beiläufigsten Mitteilungen von der ersten bis zur letzten Minute mit glockenhellen Stimmen singen lassen, ohne daß es auch nur für einen Moment peinlich oder trivial würde. »On ne meurt d’amour qu’au cinéma«, weiß die kluge, vorteilsbedachte Madame Emery (Anne Vernon), und tatsächlich werden über Trennung und Verlust zwar heiße Tränen vergossen, am Ende aber erweisen sich die immerwährenden Gefühle als so wandelbar wie der schnöde Lauf der Dinge: »Toi, tu vas bien?« – »Oui, très bien.« Was gestern war, was existentiell schien – der Regen spült es fort, der Schnee deckt es zu. »Les parapluies de Cherbourg«, das ist Kino, so groß wie das Leben 
selbst.

R Jacques Demy B Jacques Demy K Jean Rabier M Michel Legrand A Bernard Evein S Anne-Marie Cotret, Monique Tesseire P Mag Bodard D Catherine Deneuve, Nino Castelnuovo, Anne Vernon, Marc Michel, Ellen Farner | F & BRD | 91 min | 1:1,66 | f | 19. Februar 1964

14.2.64

Das Phantom von Soho (Franz Josef Gottlieb, 1964)

»He, du, ich zeig dir, wie man küßt, / Solang du noch am Leben bist.« Ein B(ryan-Edgar-Wallace)-Film über das brutale Aufbrechen einer verdrängter Vergangenheit: Im Londoner Rotlichtdistrikt (»Soho ist voll von Liebe und von Lust. / Sir, das haben Sie nicht gewußt?«) geht ein geheimnisvoller Killer um; in der Nachbarschaft der verruchten (von Elisabeth Flickenschildt mit stolzer Diskretion geführten) »Sansibar« werden vorwiegend ältere Herren erstochen und nach ihrem gewaltsamen Ableben jeweils mit einer 100-Pfund-Note bedacht. Zu den Scotland-Yard-Ermittlern Sir Philip und Inspektor Patton (Hans Söhnker und Dieter Borsche – ebenfalls Männer im besten Alter) gesellt sich die forsche Kriminalschriftstellerin Clarinda Smith (Barbara Rütting), die Inspiration für ihr neuestes Werk sucht, das parallel zum Fortschreiten der Mordserie Gestalt annimmt und mit deren Auflösung seinen Abschluß findet … Auch wenn die Handlung längere Zeit auf der Stelle tritt, ist Franz Josef Gottliebs routiniert runterinszenierter, mit einigen hausbackenen Pikanterien gewürzter Genrebeitrag eine, vor allem vom Ende aus betrachtet, reizvolle Variation über das Verhältnis von Leben zu Kunst zu Körper zu Geld zu Tod.

R Franz Josef Gottlieb B Ladislas Fodor V Bryan Edgar Wallace K Richard Angst M Martin Böttcher A Hans-Jürgen Kiebach S Walter Wischniewsky P Artur Brauner D Dieter Borsche, Hans Söhnker, Barbara Rütting, Elisabeth Flickenschildt, Peter Vogel | BRD | 97 min | 1:2,35 | sw | 14. Februar 1964

12.2.64

Seven Days in May (John Frankenheimer, 1964)

Sieben Tage im Mai

US-Präsident Lyman (staatsmännisch: Fredric March) hat einen Vertrag zur nuklearen Abrüstung mit den Sowjets ausgehandelt. Führende Angehörige der Streitkräfte opponieren gegen das in ihren Augen hochverräterische Abkommen, Generalstabschef Scott (selbstüberzeugt: Burt Lancaster) plant einen Staatsstreich … In seiner Abschiedsansprache warnte Präsident Eisenhower 1961 vor der Bedrohung der demokratischen Ordnung durch den »militärisch-industriellen Komplex«; John Frankenheimers frostiger Thriller zeigt anschaulich, wie ein Konflikt zwischen Politik und Militär ablaufen könnte. »Seven Days in May« spielt in einem Klima von Mißtrauen und Verrat, von konspirativer Strippenzieherei und öffentlicher Stimmungsmache; die Handlung ­– von einer Mischung aus unheilverkündenden Trommelwirbeln und coolem Midnight Jazz (Jerry Goldsmith) effektvoll vorangetrieben – läuft vorwiegend in fensterlosen Innenräumen ab; der häufige gestalterische Einsatz von Fernseh- oder Überwachungsmonitoren schafft eine Atmosphäre zwischen eisiger Distanz und penetranter Indiskretion. Die geschilderte Kontroverse ist nur vordergründig die zwischen Falken und Tauben, im Grunde geht es um einen Widerstreit von gesetztem und gefühltem Recht, von Legitimität und Selbstermächtigung. Rettung in allerletzter Sekunde bringt, wie der reitende Bote auf dem Theater, ein alles enthüllender Brief; nach der illusionslosen Schilderung von Arglist und Wahn erscheint dieses papierne »happy ending« so naiv wie das abschließende Statement des idealistischen Präsidenten: »We will see a day when on this earth all men will walk out of the long tunnels of tyranny into the bright sunshine of freedom.« Well … 
 
R John Frankenheimer B Rod Serling V Fletcher Knebel, Charles W. Bailey II K Ellsworth Fredericks M Jerry Goldsmith A Cary Odell S Ferris Webster P Edward Lewis D Kirk Douglas, Burt Lancaster, Fredric March, Edmond O’Brien, Ava Gardner | USA | 118 min | 1:1,85 | sw | 12. Februar 1964

# 853 | 7. April 2014

5.2.64

L'homme de Rio (Philippe de Broca, 1964)

Abenteuer in Rio 

»Quelle aventure!« Die Mutter aller Abenteuerkomödien: Jean-Paul-Belmondo zu Lande, zu Wasser und in der Luft auf der Jagd nach dem sagenumwobenen Schatz der Malteken. Die von Philippe de Broca fröhlich entfesselte Hatz beginnt in Paris, führt den Soldaten Adrien Dufourquet über Rio und Brasília (das sich gerade als weißer Traum der Moderne aus dem roten Staub des Nirgendwo erhebt) an den Amazonas und in den (noch) dichten südamerikanischen Regenwald – um, genau nach einer Woche (»huit jours de perme«), dort zu enden, wo alles begann: auf einem Bahnhof in der französischen Kapitale. »L’homme de Rio« ist der schönste Comic, den Hergé nie gezeichnet hat, ist ein fröhlicher Alptraum aus glücklicher Zeit, ist ein Schau- und Staunstück der ungedrosselten filmischen Phantasie, ist eine fulminante Schnitzeljagd durch alle Klischees des Genres – eine exaltierte Frau und ein überrumpelter Held, ein polternder Superreicher und ein verschlagener Professor, tödliches Pfeilgift und gefräßige Krokodile, eine romantische Nacht am Strand und ein millionenschweres Geheimnis – kurzum, »L’homme de Rio« gleicht einem Assortiment luftiger Macarons: süß und verlockend, künstlich bunt und unwiderstehlich lecker; und als Himbeere obendrauf gibt es die einzigartige (auf ewig in der überschwenglichen Schönheit ihrer zwanziger Jahre bewahrte) Françoise Dorléac. Für die kinematographischen Zuckerbäcker (für Regisseur, Schauspieler, Autoren und nicht zuletzt für den verträumt-aufgekratzten Kom­ponisten George Delerue) sollte man ein Monument errichten: in rosa mit grünen Sternen.

R Philippe de Broca B Philippe de Broca, Daniel Boulanger, Ariane Mnouchkine, Jean-Paul Rappeneau K Edmond Séchan M Georges Delerue A Mauro Monteiro S Françoise Javet P Alexandre Mnouchkine, Georges Dancigers D Jean-Paul Belmondo, Françoise Dorléac, Jean Servais, Adolfo Celi, Simone Renant | F & I | 112 min | 1:1,66 | f | 5. Februar 1964

29.1.64

Dr. Strangelove or: How I Learned to Stop Worrying and Love the Bomb (Stanley Kubrick, 1964)

Dr. Seltsam oder: Wie ich lernte, die Bombe zu lieben

»You can't fight in here! This is the War Room!« Zwei Weltmächte mit der Fähigkeit die Welt, über die sie Macht ausüben, jederzeit zu atomisieren; an der Spitze jeweils ein älterer Herr, den nervösen Finger am roten Knopf. Stanley Kub­ricks Doomsday-Farce faßt den systemischen Irrsinn des Kalten Krieges (»War is too important to be left to politicians.«) trefflich zusammen: Infiltration und Indoktrination, Subversion und aufwallende Körpersäfte, die Erde als operatives Planungsfeld, Städte als Koordinaten potentieller Angriffe. Verrückte Militärs, besoffene Generalsekretäre, wohlmeinende Präsidenten, mannhafte Bomberpiloten, draufgängerische Berater, kühl kalkulierende (Spiel-)Theoretiker – Jack D. Ripper, Dimitri Kissoff, Merkin Muffley, T. J. Kong, Buck Turgidson, Dr. Strangelove (»What kind of a name is that? That ain't no Kraut name is it?« – »He changed it when he became a citizen. Used to be Merkwürdigliebe.«) –, sie alle wollen nur das (für sich) Beste, und ihnen allen tut es am Ende ganz schrecklich leid (oder auch nicht). »Die Welt ist eine Komödie für die, die denken, eine Tragödie für die, die fühlen«, sagte ein englischer Homme de lettres und Politiker (der nebenbei die Gothic fiction begründete). Kubrick denkt. Denkt das Undenkbare: »Sir! I have a plan! … Mein Führer! I can walk!« Trost bleibt dennoch: »We'll meet again, don't know where, don't know when. / But I'm sure we'll meet again some sunny day.«

R Stanley Kubrick B Stanley Kubrick, Terry Southern, Peter Bryant V Peter Bryant K Gilbert Taylor M Laurie Johnson A Ken Adam S Anthony Harvey P Stanley Kubrick D Peter Sellers, George C. Scott, Slim Pickens, Sterling Hayden, Peter Bull | USA & UK | 95 min | 1:1,66 | sw | 29. Januar 1964

# 772 | 16. September 2013