22.11.78

Une histoire simple (Claude Sautet, 1978)

Eine einfache Geschichte

Claude Sautet erzählt von Marie (la femme de quarante ans: Romy Schneider), von ihren Männern und ihren Freundinnen, von ihrem fast erwachsenen Sohn und ihren ungeborenen Kindern, von Wünschen und Ängsten, von beklemmenden Zweifeln und reifender Einsicht: eine Geschichte, so einfach (= so kompliziert) wie das Leben, wie die Liebe. Die Figur der Marie – sie trennt sich unter Schmerzen von ihrem ruhelosen Lebensgefährten (Claude Brasseur), sie bandelt, fast ohne es zu wollen, wieder mit ihrem unerschütterlichen Exmann (Bruno Cremer) an, sie findet schließlich Halt und Unabhängigkeit in der Gemeinschaft mit ihrer gebeutelten Kameradin Gabrielle (Arlette Bonnard) – changiert fortwährend zwischen Zerbrechlichkeit und Stärke, Erschöpfung und Agilität, Anlehnungsbedürfnis und Emanzipationsdrang. Schneider, die den Film souverän trägt, wirkt, bei aller Nuanciertheit ihres Spiels, von dieser Spannung (die auch ihre eigene Biographie bestimmt haben mag) gleichermaßen beflügelt wie ausgelaugt – selbst über den (wenigen) Momenten von heiterer Unbeschwertheit, die Sautets Erzählung ihr gönnt, liegt der Schleier einer tiefen Müdigkeit.

R Claude Sautet B Claude Sautet, Jean-Loup Dabadie K Jean Boffety M Philippe Sarde A Georges Lévy S Jacqueline Thiédot P Alain Sarde D Romy Schneider, Bruno Cremer, Claude Brasseur, Roger Pigaut, Arlette Bonnard | F & BRD | 107 min | 1:1,66 | f | 22. November 1978

# 1006 | 31. Mai 2016

8.11.78

In einem Jahr mit 13 Monden (Rainer Werner Fassbinder, 1978)

Frankfurt. Fünf Tage im August 1978. Fünf Tage aus dem Leben der Elvira Weishaupt. Ihre letzten. Geboren wurde Elvira (Volker Spengler) als Erwin. Von der Mutter weggegeben. Aufgezogen von Nonnen im Waisenhaus. Dann Metzgerlehre. Ehe. Kind. Später Operation in Casablanca. Aus Liebe zu einem Mann, der von dieser Liebe nichts wissen will. Schließlich Prostitution. Alkohol. Depression. Das Endspiel dieses kaputten (oder »von der Ordnung, die die Menschen sich geschaffen haben«, kaputtgemachten) Lebens läuft ab als groteske Nummernrevue der Verzweiflung: die (Geschäfts-)Welt erscheint als veritables Schlachthaus, als Analogie des Konzentrationslagers, als dumpfer Todesreigen, die Gesellschaft zeigt sich als kalte, häßliche Hölle der Ausbeutung, der Lüge, der Sprachlosigkeit, der Liebesverweigerung, des absoluten Nein. »Idee, Buch, Produktion, Kamera, Ausstattung, Schnitt, Regie: Rainer Werner Fassbinder«, verkündet der Vorspann. Das Ergebnis ist so etwas wie der totale Autorenfilm, eine ungelenke, ungebremste, oft unansehnliche, in ihrer radikalen Entblößung bisweilen erschütternde Mischung aus kaum zumutbarer Larmoyanz und schriller Travestie, aus deklamatorischer Anklage und wimmerndem Schmerz, aus glasklarer Erkenntnis und (selbst-) zerstörerischer Lust. »In einem Jahr mit 13 Monden« mag Fassbinders persönlichstes Werk sein: Seine kulinarisch genossene Unfähigkeit zum (bzw. seine Verweigerung des) Glück(s) hat sich kaum je so rundheraus, so maßlos in lebende (?) Bilder transformiert wie im horrenden Fall der Elvira Weishaupt.

R Rainer Werner Fassbinder B Rainer Werner Fassbinder K Rainer Werner Fassbinder M Peer Raben A Rainer Werner Fassbinder S Rainer Werner Fassbinder P Rainer Werner Fassbinder D Volker Spengler, Ingrid Caven, Elisabeth Trissenaar, Gottfried John, Liselotte Eder | BRD | 124 min | 1:1,66 | f | 8. November 1978

25.10.78

La cage aux folles (Edouard Molinaro, 1978)

Ein Käfig voller Narren

Robuste Boulevard-Klamotte, die ihre amüsanten Funken aus der Begegnung von besonders effeminierten Schwulen und äußerst hypokritischen Großbürgern schlägt. Renato (bronziert: Ugo Tognazzi), Impressario eines Nachtclubs in Saint-Tropez, seit zwanzig Jahren liiert mit Albin, dem Star des Hauses (kreischig: Michel Serrault), ist dem anderen Geschlecht nur ein einziges Mal so richtig nahe gekommen; der Sohn, den er seinerzeit zeugte, hat sich nun verlobt: mit der Tochter eines konservativen Politikers (gußeisern: Michel Galabru). Die Vorlage von Jean Poiret verzichtet konsequent auf das Pinseln feiner Zwischentöne, und auch die Inszenierung von Édouard Molinaro begnügt sich mit dem grellen Ausleuchten von Gemeinplätzen: hie abgespreizte kleine Finger und ausladende Hüftschwünge, da Ehrpusseligkeit und Pharisäertum. Der finale Rollentausch, auf den das turbulente Possenspiel erwartungsgemäß zuläuft, macht überdeutlich, daß auf allen Seiten Verstellung und Maskerade regieren: das Leben, ein endloses Kostümfest.

R Édouard Molinaro B Édouard Molinaro, Francis Veber, Marcello Danon V Jean Poiret K Armando Nannuzzi M Ennio Morricone A Mario Garbuglia S Monique Isnardon, Robert Isnardon P Marcello Danon D Ugo Tognazzi, Michel Serrault, Michel Galabru, Rémi Laurent, Claire Maurier | F & I | 100 min | 1:1,66 | f | 25. Oktober 1978

# 845 | 15. März 2014

6.10.78

Rheingold (Niklaus Schilling, 1978)

»Jetzt machen wir ein Unglück.« Eine Eisenbahnfahrt entlang des deutschesten aller Flüsse, eine sentimentale Reise in den Tod, ein melodramatisches Dreieck: eine schöne Frau mit goldblonden Locken, ihr Geliebter, ihr eifersüchtiger Ehemann … Im Trans-Europ-Express »Rheingold« trifft Elisabeth Drossbach (Elke Haltaufderheide) eines Tages ihren besten Freund aus Kindertagen wieder, der auf der legendären Strecke als Zugkellner arbeitet. Eine Liebesgeschichte nach Fahrplan nimmt ihren Lauf, bis der gehörnte Gatte die Treulose im Affekt mit einem goldenen Brieföffner ersticht. Während Elisabeth langsam und geschmackvoll verblutet, ziehen vor dem Fenster ihres Abteils malerische Landschaften, nationale Mythen und persönliche Erinnerungen vorüber. Fremde steigen zu und wieder aus, begleiten die Sterbende jeweils einige Stationen auf ihrem letzten Weg: ein Mon-Chéri-süchtiger Astrologe, der Erfinder der kleinsten Nähmaschine der Welt, eine geheimnisvoll lächelnde Rothaarige, ein weißhaariger Großvater, der seiner gretelhaften Enkelin Geschichten erzählt, von der Loreley und ihren Opfern, von Raubrittern und ihren Burgen. Woge, du Welle, walle zur Wiege! Schäumende Klangwolken eines wagnerianischer Synthesizer-Sounds ballen sich über dem pathetischen Geschehen, durch das Niklaus Schilling immer wieder helle Blitze der Ironie zucken läßt. »Rheingold« – ein kinematographischer Luxuszug, ein Erster-Klasse-Bewußtseinsstrom, eine schillernde Assoziationskette aus Schwulst und Spott.

R Niklaus Schilling B Niklaus Schilling K Ernst Wild M Eberhard Schoener A Greta Zeppel S Thomas Nikel P Elke Haltaufderheide D Elke Haltaufderheide, Rüdiger Kirschstein, Gunther Malzacher, Reinfried Keilich, Frank Zimmermann | BRD | 91 min | 1:1,66 | f | 6. Oktober 1978

# 773 | 19. September 2013 

29.9.78

Death on the Nile (John Guillermin, 1978)

Tod auf dem Nil

Eine mondäne Flußkreuzfahrt, eine schöne, reiche, tote Frau, ein belgischer (!) Detektiv: Hercule Poirot (Peter Ustinov) ermittelt an Bord des Nildampfers ›Karnak‹ im Fall der erschossenen Millionärin Lillet Ridgeway (Lois Chiles), die selbstverständlich nicht das einzige Opfer bleibt. Genauso selbstverständlich hatten alle illustren Mitreisenden (gespielt unter anderem von Bette Davis, Maggie Smith, Angela Lansbury, George Kennedy, Jack Warden) jeweils ein starkes persönliches Interesse am Ableben der schnippischen Geldlady – insbesondere die überreizte Jacqueline (Mia Farrow), der die Ermordete kurz zuvor den stattlichen Verlobten ausgespannt hatte … Mit seiner hochkarätigen Besetzung und seinen luxuriösen Zwanziger-Jahre-Dekors, mit Jack Cardiffs delikater Fotografie, Nino Rotas schwelgerischer musikalischer Untermalung und John Guillermins gravitätischer Inszenierung präsentiert sich der Whodunit als großes Kino-Epos; die angedeuteten menschlichen und gesellschaftlichen Konflikte bleiben indes schmückendes Beiwerk in einem elegant-ironischen, bisweilen etwas langatmigen kriminalistischen Ratespiel.

R John Guillermin B Anthony Shaffer V Agatha Christie K Jack Cardiff M Nino Rota A Peter Murton S Malcolm Cooke P John Brabourne, Richard Goodwin D Peter Ustinov, David Niven, Bette Davis, Mia Farrow, Angela Lansbury | UK | 140 min | 1:1,85 | f | 29. September 1978

# 852 | 7. April 2014

22.9.78

Anton der Zauberer (Günter Reisch, 1978)

»Er war einer von uns.« Kurzweilig-systemkonformer Schelmenroman querfeldein durch die Geschichte der DDR: Anton Grubke (Ulrich Thein), begeisterter Autoschrauber, gewinnender Charmeur und fassungsvermögender Biertrinker, unterstützt auf seine (recht eigennützige Weise) den Aufbau des sozialistischen Vaterlandes – nicht der Mensch, das Geld steht (zunächst) im Mittelpunkt seiner privaten Planwirtschaft. Durch eine Haftstrafe auf den rechten (= linken) Weg gebracht, wird der begnadete Selbsthelfer zum revolutionären Zauberer des Glücks für alle, das heißt (in der Logik der (ideologischen) Erzählung): auch für sich persönlich. Wo der Jäger von Ersatzteilen zuvor nur den eigenen Vorteil (= das eigene Konto) im Auge hatte, nutzt er nach der (Selbst-)Erweckung sein Talent zur Verwandlung von Alt in Neu nur mehr im Sinne (= zum Wohle) des großen Ganzen. Günter Reischs Film kapituliert bei allem kritischen Anspruch letzten Endes vor der eigenen, allumfassenden Nettigkeit, die jeden satirischen Funken im Keim erstickt; zudem triumphiert die parteiliche Didaktik über die historische Atmosphärenmalerei: die 40er, die 50er, die 60er – alle Jahrzehnte sehen aus wie die 70er.

R Günter Reisch B Karl Georg Egel, Günter Reisch K Günter Haubold M Wolfram Heicking A Hans-Jörg Mirr S Bärbel Weigel P Manfred Renger D Ulrich Thein, Anna Dymna, Erwin Geschonneck, Barbara Dittus, Erik S. Klein | DDR | 106 min | 1:2,35 | f | 22. September 1978

28.7.78

The Driver (Walter Hill, 1978)

Driver

»I respect a man that’s good at what he does.« – »The Driver« erzählt kaum etwas, verzichtet auf jede Form von Psychologisierung, ist first and foremost: ein ›movie‹. Die minimalistische Handlung setzt drei abgeklärte Figuren zueinander in (höchst (auto-)mobile) Beziehung: den ›driver‹ (Ryan O’Neal), der als bezahlter Profi Gangster vom Tatort wegschafft, den ›detective‹ (Bruce Dern), dessen obsessives Ziel es ist, den ›driver‹ zu stellen, den (einigermaßen rätselhaften) weiblichen ›player‹ (Isabelle Adjani), die gegen Geld Alibis liefert, aber letztlich ihr eigenes Süppchen kocht … Stark beeinflußt von Jean-Pierre Melvilles abstrakten Unterwelt-Balladen, setzt Walter Hill den Fuß aufs filmische Gaspedal und treibt (in immer neuen Variationen von Abbremsen und Beschleunigung) sein Bewegungsspiel zu extremer Geschwindigkeit. Die nächtliche Stadt (L.A.) bereitet das Terrain für die rasant inszenierten car chases; ein gegen Null gehender Score (Michael Small), ultralakonische Dialoge und die No-Face-Performances aller Akteure unterstreichen die distinguierte Bedeutungslosigkeit des Geschehens.

R Walter Hill B Walter Hill K Philip H. Lathrop M Michael Small A Harry Horner S Tina Hirsch, Robert K. Lambert P Lawrence Gordon D Ryan O’Neal, Bruce Dern, Isabelle Adjani, Ronee Blakley, Matt Clark | USA | 91 min | 1:1,85 | f | 28. Juli 1978

30.5.78

Fedora (Billy Wilder, 1978)

»Just a dream ago, when the world was young.« Die Frau im Sarg oder Das Geheimnis der weißen Handschuhe: Ein has-been Produzent am Abgrund der Pleite (William Holden) versucht, eine legendäre Hollywood-Diva (Marthe Keller – ?) noch einmal vor die Kamera locken, wobei er unwillentlich das Mysterium der Zeitlosigkeit von Stars ergründet. »The Snows of Yesteryear« heißt das Drehbuch, das Barry Detweiler verfilmen will, die x-te Adaption von »Anna Karenina«, ein üppiges costume drama, wie in den alten Tagen, die längst vergangen sind. (»It’s a whole different business now. The kids with beards have taken over.«) Fedora soll die Hauptrolle spielen, Fedora (»You are Fedora.« – »Yes, of course.«), »the star of all stars«, so groß wie Garbo, Dietrich, Harlow, Monroe zusammen, Fedora (»You are Fedora.« – »I was Fedora.«), die sich auf dem Höhepunkt ihrer Karriere von der Leinwand zurückzog. Ihr Domizil, die ›Villa Kalypso‹ (benannt nach jener Nymphe, die dem schiffbrüchigen Odysseus einst Unsterblichkeit und immerwährende Jugend versprach), auf einer winzigen Insel vor Korfu gelegen, gleicht einer Gruft, wo die Legende (»I am Fedora.«), in glanzvolle Vergangenheit eingemauert, ihre eigene Zeit überlebt. Doch: »You can’t cheat nature without paying the price.« Billy Wilder erzählt von der ewigen Wiederkehr falscher Hoffnungen, von Traum und Trug, von Glanz und Verhängnis. »Fedora« ist der Film eines alten Regisseurs über alte Menschen, die nicht wahrhaben wollen, daß sie nicht jung geblieben sind, ein elegisch-ironischer Abgesang auf (vermeintlich?) bessere Zeiten, ein letzter Walzer am späten Nachmittag, »when the light starts to go«. Das ist traurig, aber traurig schön, wie eine Beerdigung im Sommer, »wenn alles hell ist und die Erde für Spaten leicht.«

R Billy Wilder B Billy Wilder, I. A. L. Diamond V Tom Tryon K Gerry Fisher M Miklós Rózsa A Robert André S Stefab Arnsten, Fredric Steinkamp P Billy Wilder D William Holden, Marthe Keller, Hildegard Knef, José Ferrer, Frances Sternhagen, Mario Adorf | BRD & F | 116 min | 1:1,85 | f | 30. Mai 1978

19.5.78

Despair – Eine Reise ins Licht (Rainer Werner Fassbinder, 1978)

»Der perfekte Mord wäre der, der nie stattgefunden hat, aber dennoch verübt worden ist.« Berlin, um 1930 – Krise der Wirtschaft, Niedergang der Demokratie, Morgenröte der Nazis: Der russische Emigrant Hermann (disparat und desperat: Dirk Bogarde), »Sohn eines Deutschbalten und einer Rothschild«, bedrückt von den politischen Zeitumständen, von der ererbten Schokoladenfabrik, von seiner sinnlichen, aber hoffnungslos beschränkten Ehefrau Lydia (Andréa Ferréol), vor allem aber von der totalen Hohlheit der eigenen Existenz, sucht ein Entkommen aus seinem Dilemma – und findet es in einem Spiegelkabinett … »Sie wissen doch sicher, was ein Double ist?« fragt der vornehme Hermann den abgerissenen Felix (Klaus Löwitsch), den Mann, in dem er seinen Doppelgänger zu erkennen glaubt. »Nein«, sagt Felix. Darauf Hermann: »Aber Sie waren doch schon mal im Kino!?« Rainer Werner Fassbinders ultrakünstliche Adaption eines Romans von Vladimir Nabokov (nach einem Drehbuch des englischen Dramatikers Tom Stoppard) – ein metaphysisches Kriminalspiel, ein sperrig-luxuriöses, radikal überhöhtes Zeitbild, die psychopathologische Studie einer sich spaltenden Persönlichkeit – gleicht einem filmischen Labyrinth, das aus der hermetischen Art-Déco-Welt (Bauten: Rolf Zehetbauer) eines entwurzelten Ästheten ins schneeweiße Licht der erlösenden (Selbst-)Zerstörung führt: Verzweiflung als Chance, Wahnsinn als Weg.

R Rainer Werner Fassbinder B Tom Stoppard V Vladimir Nabokov K Michael Ballhaus M Peer Raben A Rolf Zehetbauer S Juliane Lorenz, Franz Walsch (= Rainer Werner Fassbinder) P Peter Märthesheimer D Dirk Bogarde, Andréa Ferréol, Klaus Löwitsch, Volker Spengler, Bernhard Wicki | BRD & F | 119 min | 1:1,66 | f | 19. Mai 1978

# 897 | 22. Juli 2014

5.4.78

La chambre verte (François Truffaut, 1978)

Das grüne Zimmer

François Truffauts dunkel umflortes, nur vom Schein Dutzender Altarkerzen illuminiertes Requiem erscheint erfüllt von der Ahnung des eigenen frühen Todes, der den Regisseur nur wenige Jahre später antreten wird ... Julien Davenne, Veteran des Ersten Weltkriegs, als Redakteur einer würdevoll verdämmernden Provinzzeitschrift hauptamtlicher Verfasser von Nachrufen, wid­met sein Leben (sofern man diese Existenz überhaupt noch »Leben« nennen kann) der Erinne­rung an seine hingeschiedenen Frau und dem Kult um jene Heimgegangenen, die ihm einst lieb und teuer waren. Alles, was atmet und blutet, was lacht und weint, läßt er peu à peu hinter sich, bis er seinen teuren Verstorbenen über die große Gren­ze folgt. Nathalie Baye, als junge Seelenfreundin des Todestrunkenen zwar auch dem Jenseits hingegeben, haucht dieser auf Motiven von Henry James basierenden Erzählung ein gewisses (und gebotenes) Maß an Wärme ein, während die finstere Energie, mit der Truffaut den Protagonisten spielt (seine dritte Hauptrolle nach »L’enfant sauvage« und »La nuit américaine«), trotz des bedrückenden Themas paradoxerweise zu keinem Zeitpunkt Trübsinn aufkommen läßt.

R François Truffaut B Jean Gruault, François Truffaut V Henry James K Néstor Almendros M Maurice Jaubert A Jean-Pierre Kohut-Svelko S Martine Barraqué P François Truffaut D François Truffaut, Nathalie Baye, Jean Dasté, Patrick Maléon, Jeanne Lobre | F | 94 min | 1:1,66 | f | 5. April 1978

22.3.78

La zizanie (Claude Zidi, 1978)

Der Querkopf 

Guillaume Daubray-Lacaze (Louis de Funès), Kleinfabrikant mit einem Bein im Konkursgericht und Bürgermeister einer beschaulichen Provinzstadt, verkauft unverhofft 3000 Stück seines Rauchverzehrers CX-22 an japanische Geschäftsleute. Weil die Produktionskapazitäten nicht ausreichen, funktioniert der Boß sein Wohnhaus kurzerhand zur Werkstatt um; Gattin Bernadette (Annie Girardot) trägt die Prüfung mit ehefraulicher Geduld – bis ihr hingebungsvoll gepflegter Gemüsegarten und das geliebte Gewächshaus Raub der ungezügelten unternehmerischen Aktivitäten werden … Der schlagartig ausbrechende Ehekrieg, in dessen Verlauf Bernadette als Vertreterin der Liste »Défense de la nature« bei den Gemeinderatswahlen gegen ihren wachstumsorientierten Mann (»Mon programme en trois points : premièrement, le plein emploi, deuxièmement, le plein emploi et troisièmement, le plein emploi!«) antritt, umschreibt in Form einer quatschigen Groteske den Konflikt zwischen Ökonomie und Ökologie, der die zunehmend im Wohlstandsmüll versinkenden westlichen Konsumgesellschaften in den 1970er Jahren erfaßt. Claude Zidi ist an zivilisationskritischen Untertönen allerdings nur in dem Maße gelegen, wie sie das ungebremste Spiel der temperamentvollen Hauptdarsteller nicht stören.

R Claude Zidi B Claude Zidi, Michel Fabre, Pascal Jardin K Claude Renoir M Vladimir Cosma A Théobald Meurisse S Robert Isnardon, Monique Isnardon P Christian Fechner D Louis de Funès, Annie Girardot, Julien Guiomar, Maurice Risch, Daniel Boulanger, Geneviève Fontanel | F | 97 min | 1:2,35 | f | 22. März 1978

# 901 | 4. August 2014

18.1.78

Tendre poulet (Philippe de Broca, 1978)

Ein verrücktes Huhn

»Croyez-moi, nous sommes la carpe et le lapin.« Nach 25 Jahren treffen sie sich zufällig (besser gesagt: unfällig) wieder: Lise Tanquerelle (quirlig: Annie Girardot) und Antoine Lemercier (gemächlich: Philippe Noiret); damals waren sie Studenten, heute ist die eine Kriminalkommissarin der Pariser Polizei, der andere Professor für Altgriechisch an der Sorbonne. Philippe de Broca inszeniert die romantische Begegnung von Karpfen und Kaninchen, das Aufeinandertreffen von Gemütsmensch und Energiebündel als emotional-skurrile Kurvenfahrt mit permanenten Tempowechseln zwischen Hochgeschwindigkeit und Vollbremsung (inklusive der wahrscheinlich langsamsten Verfolgungsjagd der Filmgeschichte). Während Lise eine rätselhafte Mordserie an Abgeordneten der Nationalversammlung aufzuklären hat (»Immer wenn wir uns treffen«, bemerkt Antoine, »stirbt ein Parlamentarier.«), ziehen sich die Gegensätze unweigerlich an, um in einer finalen Karambolage endgültig zueinanderzufinden.

R Philippe de Broca B Michel Audiard, Philippe de Broca V Jean-Paul Rouland, Claude Olivier K Jean-Paul Schwartz M Georges Delerue A François de Lamothe S Françoise Javet P Alexandre Mnouchkine, Georges Dancigers, Robert Amon D Annie Girardot, Philippe Noiret, Catherine Alric, Hubert Deschamps, Guy Marchand, Paulette Dubost | F | 105 min | 1:1,66 | f | 18. Januar 1978

# 1001 | 15. Mai 2016