7.7.72

Der Stoff, aus dem die Träume sind (Alfred Vohrer, 1972)

Schon der knallharte Gegenschnitt von einem tödlich endenden Fluchtversuch an der deutsch-tschechischen Grenze (kurz nach dem Prager Frühling) auf eine Revolverblatt-Redaktionskonferenz zum Thema Verkaufsförderung durch Tittentitel (mit jeder Menge marktforscherisch präzise aufbereitetem Anschauungsmaterial) gleich zu Beginn des Films läßt Alfred Vohrers souverän-triviale Meisterschaft erkennen. In der Romanvorlage verarbeitete Johannes Mario Simmel seine langjährigen Erfahrungen als rasender Reporter und Allesschreiber der Illustrierten »Quick« zu einer (hypo-)kritischen Abrechnung mit den Boulevardmedien und ihrem unstillbaren Hunger auf menschliches Schicksal. »Der Stoff, aus dem die Träume sind« verbindet – vor allem Dank der delirierenden (Hand-)Kamera von Charly Steinberger – ohne große Anstrengung Themen wie Schizophrenie, Spionage, Scheckbuchjournalismus, sexuelle Befreiung, politischen Mord, ideologischen Verrat und Nackttanz zu einem filmischen Quodlibet der Sonderklasse. Dazu kommen eine Reihe eindrücklicher Schauspielerleistungen: Neben alten Kämpen wie Arno Assmann, Paul Edwin Roth oder Walter Buschhoff geht insbesondere Edith Heerdegen als betagte Jugendpflegerin mit dem zweiten Gesicht zu Herzen – ihr stimmenhörendes, langsam in ein (hoffentlich) besseres Jenseits abdriftendes Fräulein Luise bleibt als eine der spukhaftesten Erscheinungen der deutschen Filmgeschichte im Gedächtnis.

R
Alfred Vohrer B Manfred Purzer V Johannes Mario Simmel K Charly Steinberger M Peter Thomas A Günther Kob S Susanne Paschen P Luggi Waldleitner D Herbert Fleischmann, Paul Neuhaus, Edith Heerdegen, Hannelore Elsner, Arno Assmann | BRD | 142 min | 1:1,85 | f | 7. Juli 1972

2.7.72

Nachtschatten (Niklaus Schilling, 1972)

Blaß ist die Heide, mondbleich und berückend, irgendwie jenseitig. Langsam ist die Heide, todmüde und weltvergessen, seltsam aus der Zeit gefallen. Von Hamburg kommt der Musikverleger Jan Eckmann (John van Dreelen) in die Heide, um ein zum Verkauf stehendes Gutshaus zu besichtigen. Elena Berg (Elke Haltaufderheide), die Besitzerin des Hauses gibt sich merkwürdig spröde, desinteressiert am Geschäft, sie wirkt zerstreut, mysteriös, auf geisterhafte Art absent, ständig verbrennt sie etwas im Kamin, verweigert ohne Erklärung den Zugang zu bestimmten Zimmern, und eben wegen ihrer sonderbaren Abwesenheit entfaltet Elena eine unentrinnbare verführerische Wirkung auf den diesseitigen Besucher, fesselt ihn magisch an den ihm so fremden, so vertrauten Ort. Des Nachts träumt Jan von einem weißen Stein, auf dem sein Name steht, er träumt von seinem eigenen Grab, über das sich die Gastgeberin beugt, über das sie blutrote Mohnblüten streut. Ist er vielleicht schon seit drei Jahren tot? Oder ist er der Wiedergänger eines längst Verstorbenen? Ein schlafwandlerischer Heimatfilm um eine sirenenhafte blonde Schönheit, die einen kreglen Geschäftsmann in ihren gespenstigen Abgrund zieht. Am Ende enthüllt Niklaus Schilling das Rätsel seiner ätherischen Heldin. Vielleicht wäre es besser gewesen, ihr Geheimnis zu bewahren, den erzählerischen Zauber nicht zu brechen. Die Auflösung stellt indes klar, daß Heimat kein Idyll ist, sondern ein Reich der Schatten, ein tiefes Moor, in dem man restlos versinken kann. Das solide Haus ist kein geschützter Raum, und der Liebreiz der Landschaft erweist sich als verderbliche Illusion.

R Niklaus Schilling B Niklaus Schilling K Ingo Hamer M Edvard Grieg S Niklaus Schilling P Elke Haltaufderheide D Elke Hart (= Elke Haltaufderheide), John van Dreelen, Max Krügel | BRD | 96 min | 1:1,37 | f | 2. Juli 1972

# 776 | 27. September 2013