31.1.74

Supermarkt (Roland Klick, 1974)

»You know I want my celebration, babe, before I die.« Willi rennt. Gegen Wände. Immer wieder weg. Um sein Leben. Willi (lumpenproletarisch-sexy: Charly Wierczejewski), eine arme Sau vom Hamburger Kiez, frettet sich durch, mopst Kleingeld vom Tresen, hat aber immer eine Münze für die Musicbox. Kommen die Bullen, haut er ab, auch wenn er gar nichts getan hat, denn für irgendetwas würden sie ihn schon drankriegen. Da sind welche, die ihm angeblich helfen wollen, aus dem Dreck herauszukommen, aber eigentlich wollen sie alle bloß etwas von ihm: Der berufsbetroffene Reporter (Michael Degen) will eine Story, der wohlhabende Schwule (Hans-Michael Rehberg) will einen Fick, der miese Gauner (Walter Kohut) braucht jemanden, der ihm hilft, ein mieses Ding zu drehen. Willi hat offensichtlich seine Erfahrungen gemacht, beißt konsequent in jede Hand, die sich nähert; ein wenig Zutrauen faßt er nur zu einer blonden Nutte (Eva Mattes), die niemandem helfen kann, noch nicht einmal sich selbst … Roland Klick dreht im Grunde einen typischen deutschen Problemfilm, aber, und das ist der feine große Unterschied, er problematisiert das soziale Elend nicht, skizziert anstattdessen – mit extrem beweglicher Kamera (Jost Vacano rennt so schnell wie der nervöse, immer alarmierte Protagonist) – eine rauhe, unbeseelte Welt, die einerseits ein einziger Supermarkt ist, ein kaltes Paradies der Käuflichkeit, andererseits jedoch gerade dieses eben nicht: Für Willi und Konsorten gibt es nichts zu kaufen, letztlich noch nicht einmal etwas zu klauen …

R Roland Klick B Roland Klick, Georg Althammer, Jane Sperr K Jost Vacano M Peter Hesslein, Udo Lindenberg A Georg von Kieseritzky S Jane Sperr P Roland Klick, Heinz Angermeyer D Charly Wierczejewski, Eva Mattes, Michael Degen, Walter Kohut, Hans-Michael Rehberg | BRD | 84 min | 1:1,66 | f | 31. Januar 1974

30.1.74

Lacombe Lucien (Louis Malle, 1974)

Lacombe, Lucien

Echoes of France … Sommer 1944. Die Alliierten sind in der Normandie gelandet, die deutschen Truppen weichen zurück. Weiter südlich, in einer kleinen Stadt im Midi, sucht der 17jährige Bauernsohn Lucien (Pierre Blaise) Anschluß an die Résistance. Vom örtlichen Chef des Widerstandes als zu jung abgelehnt, gerät Lucien, eher zufällig, in die Fänge von Mitarbeitern der Gestapo française, die ihn in ihre Reihen aufnehmen. Eine Art unbedarfte Brutalität eignet dem (Anti-)Helden; er wirkt gleichermaßen präpotent und so zerbrechlich wie die Singvögel, die er mit der Zwille abschießt. Das Gemisch aus Grausamkeit und Unschuld, das im Zwischenraum von Jugend und Erwachsensein herrscht, bestimmt die Erzählung des Films. Lucien erfüllt ohne weiteres seine Rolle als Hilfspolizist, genießt die daraus ersprießende Macht, fügt sich wie selbstverständlich in die zynisch-vulgäre Gesellschaft der Kollaborateure ein, drängt sich ohne Scham der versteckt lebenden Familie eines kultivierten jüdischen Herrenschneiders auf, dessen Tochter France (!) (Aurore Clément) er offen begehrt, linkisch umschwärmt, ehrlich liebt, schlußendlich rettet. Louis Malle und sein Koautor Patrick Modiano (der die schummerlichtigen Landschaften der Okkupation schon in seinen brillanten ersten Romanen beschrieb) suchen nicht, das Verhalten ihres Protagonisten zu beschönigen, vermeiden jede moralische Bewertung, betonen eine Ambivalenz, die sich einfachen Zuschreibungen wie »gut« oder »böse« entzieht. Sie stehen vor Lucien, dieser seltsamen Kreuzung aus Engel und Ungeheuer, wie der Vater von France, der ratlos-fasziniert gestehen muß: »C’est curieux, je n’arrive pas à vous détester tout à fait.«

R Louis Malle B Louis Malle, Patrick Modiano K Tonino Delli Colli M Django Reinhardt A Ghislain Uhry S Suzanne Baron P Louis Malle, Claude Nedjar D Pierre Blaise, Aurore Clément, Holger Löwenadler, Therese Giehse | F & I & BRD | 137 min | 1:1,66 | f | 30. Januar 1974

# 951 | 4. Juni 2015