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6.9.69

Krasnaja palatka (Michail Kalatosow, 1969)

Das rote Zelt

Ende der sechziger Jahre sprach Jean-Luc Godard vom »gewaltigen Hollywood-Mosfilm-Cinecittà-Pinewood-Imperium«, das weltweit Kunstverständnis und Formgefühl des Kinos präge. Mit seinem letzten Werk, einer opulenten sowjetisch-italienischen Koproduktion über die spektakulär gescheiterte Nordpol-Mission des Luftschiffs ›Italia‹ im Jahr 1928 und die ebenso spektakuläre anschließende Rettungsaktion, liefert Michail Kalatosow ein Paradebeispiel für den von Godard geschmähten »internationalen Stil« filmischer Epik. Aus der hochinteressanten Prämisse – vier Jahrzehnte nach den Ereignissen lädt der von Gewissensbissen geplagte Expeditionsleiter Umberto Nobile (Peter Finch) die Geister der Beteiligten, darunter seinen Freund und Konkurrenten Roald Amundsen (Sean Connery), zu einem imaginären nächtlichen Prozeß – schlägt die Regie kaum Funken: Kalatosow erzählt kon­ventionell nach, reflektiert über die Bürde des Führens, schildert durchaus eindrucksvoll den Durchhaltekampf im ewigen Eis, aber nur selten gewinnen die Bilder jene autonome Kraft, die seine Meisterwerke auszeichnet – das Fehlen des Kameragenies Ussurewski macht sich schmerzlich bemerkbar. Hin und wieder durchbricht Kalatosows inszenatorisches Temperament die formale Solidität von »Krasnaja palatka«: wenn ein verliebtes Paar euphorisch durch den Schnee wirbelt, wenn ein sowjetischer Funkamateur die Signale der Überleben den auffängt, wenn der Leningrader Eisbrecher ›Krassin‹ zur Bergungsfahrt aufbricht, wenn der verschollene Amundsen das bizarre Wrack der ›Italia‹ erkundet, wenn Menschen zu Marginalien unendlicher Landschaften werden.

R Michail Kalatosow B Ennio De Concini, Richard Adams K Leonid Kalaschnikow M Ennio Morricone A Michail Fischgoit S Peter Zinner P Franco Cristaldi, Victor Freilich D Peter Finch, Claudia Cardinale, Sean Connery, Hardy Krüger, Mario Adorf, Eduard Martsewitsch | SU & I | 121 (158) min | 1:1,66 | f | 6. September 1969

6.9.64

Soy Cuba (Michail Kalatosow, 1964)

Ich bin Kuba 

Der Mensch und die Geschichte – eine optimistische Tragödie … Ein Episodenfilm über die Vorgeschichte der kubanischen Revolution? Eher eine filmische Symphonie über eine revolutionäre Situation: vier Sätze über gesellschaftliche Bedingungen, die im Umsturz gipfeln. Eine Prostituierte aus den Slums von Havanna (mit ihrem Verlobten, einem Obsthändler, und einem reichen amerikanischen Freier); ein alter Bauer (mit seinen halbwüchsigen Kindern und dem Grundbesitzer, der ihm die Existenz raubt); ein couragierter Student (mit seinen Kommilitonen und den Schergen des Systems); ein verarmter Landarbeiter (mit seiner Familie und den Kämpfern der Rebellenarmee) – diese Figuren, kaum als Träger von Handlung zu bezeichnen, gleichen, wie die imposanten Landschaften und die dramatischen Stadtansichten, wie die hochragenden Palmen und das wogende Zuckerrohr, ikonischen Motiven einer epochalen filmischen Komposition. Michail Kalatosows rhythmische Inszenierung und Sergei Urussewskis grafische Kamera lösen sich (fast) vollständig aus der Indienstnahme durch die Erzählung, orchestrieren stattdessen eine einmalige audiovisuelle Erfahrung, ein Weitwinkel-Poem von zäher Todesmacht und ihrer lebensgefährlichen Überwindung, eine ungeniert hymnische Liebeserklärung an ein Land und seine Menschen. Infrarotfotografie verzaubert alle Pflanzen in glänzende Zuckerkristalle, virtuose Plansequenzen setzen sich über räumliche Beschränkungen hinweg wie Revolutionäre über scheinbar eherne Verhältnisse. »Soy Cuba« endet mit dem Sieg der Aufständischen, mit einem endlosen Strom von Jubelnden. Die Geschichte, deren Motor (nach Joseph Brodsky) mit Sterbenden befeuert wird, macht Pause.

R Michail Kalatosow B Jewgeni Jewtuschenko, Enrique Pineda Barnet K Sergei Urussewski M Carlos Fariñas A Jewgeni Swidetelew S Nina Glagolewa P Semjon Mariachin, Miguel Mendoza D Luz María Collazo, Jean Bouise, Raúl García, José Gallardo, Raquel Revuelta | SU & C | 141 min | 1:1,37 | sw | 6. September 1964

4.5.60

Neotprawlennoje pismo (Michail Kalatosow, 1960)

Ein Brief, der nicht abging 

Der Mensch und die Natur – eine elementare Untersuchung … Drei Geologen und ihr Führer suchen in Sibirien nach Diamanten. Sie werden fündig. Dann brennt der Wald. Dann bricht eine Sintflut herein. Dann kommt der Winter. Der Schnee. Das Eis … Noch stärker als im Vorgängerfilm »Letjat schurawli« gerät die Handlung aus dem Fokus von Michail Kalatosows Interesse. Das erste Bild, gesehen aus einem sich entfernenden Helikopter, rückt die Proportionen zurecht: Vier Menschen stehen im flachen Uferwasser eines Flusses, winken zum Abschied, werden immer kleiner, bis sie nur noch winzige Punkte in überwältigender Landschaft sind. Auch wenn die expressive Kamera (wiederum brillant: Sergei Urussewski) die Protagonisten immer wieder in Nah- und Nächstaufnahme betrachtet, auch wenn (Inter-)Aktionen Rückschlüsse auf charakterliche Eigenschaften zulassen, bleibt die Psychologie der Figuren ohne Relevanz. Die Natur kümmert sich schließlich auch nicht darum. Was zählt, ist die physische Fähigkeit, dem Ansturm der Elemente zu trotzen. Wasser, Erde, Feuer und Luft sind die wahren Akteure des Films. So wie die Natur den Menschen zum (überraschend widerstandsfähigen aber letztlich hilflosen) Spielball ihrer Gewalten macht, reduziert »Neotprawlennoje pismo« die Figuren auf Anschauungsobjekte im Rahmen einer (visuell überwältigenden) Forschungsreise durch das Wirken ungezähmter Kräfte. Das Schlußbild des Films wiederholt bilanzierend den Anfang: Der Letzte der vier, die aufgebrochen sind, liegt wie tot auf einer Eisscholle; über ihm kreist ein Rettungshubschrauber – und wieder entfernt sich die Kamera, bis das menschliche Treiben zum Nichts in immenser Weite schwindet.

R Michail Kalatosow B Waleri Ossipow, Grigori Koltunow, Wiktor Rosow V Waleri Ossipow K Sergei Urussewski M Nikolai Krjukow A David Winitski S N. Anikina P Mosfilm D Tatjana Samoilowa, Jewgeni Urbanski, Innokenti Smoktunowski, Wassili Liwanow, Galina Koschakina | SU | 97 min | 1:1,37 | sw | 4. Mai 1960

12.10.57

Letjat schurawli (Michail Kalatosow, 1957)

Die Kraniche ziehen 

Der Mensch und das Glück – ein ekstatisches Melodram … Kraniche ziehen. Weronika und Boris haben sich gefunden. Der Krieg reißt die beiden auseinander. Sie wartet auf seine Rückkunft, läßt sich mit seinem Cousin ein, haßt sich und die ganze Welt dafür, wartet auf die Heimkehr des Geliebten. Der Krieg geht zu Ende. Boris kommt nicht wieder. Weronika ist allein. Kraniche ziehen … »Letjat schurawli« ist auch ein Film über die Liebe und den Krieg. Auch. Vor allem aber ist es ein Film über das Glück. Besser gesagt: über das Streben nach Glück, den Willen zum Glück. Das Leben selbst bleibt von diesem menschlichen Drang einigermaßen unbeeindruckt: Kraniche ziehen. Der Film findet denn auch für Euphorie und Tod die jeweils gleiche fulminante optische Entsprechung: Ein delirierender Kamerawirbel kann die Seligkeit bedeuten – und ihr absolutes Gegenteil. Jenseits dieser (und anderer) mitreißenden formalen Abstraktionen erzählen Michail Kalatosow und der begnadete Kameramann Sergei Urussewski eine berührende Geschichte um ganz einfache und zugleich hoch­komplexe Gefühle; sie tun dies in eingängigen und zugleich radikalen Bildern, in exaltierten Weitwinkel-Kompositionen, die den Menschen in die Tiefe extremer Totalen schleudern, in drastischen Close-ups, die sein Innerstes nach außen stülpen, in furiosen Kamerafahrten, die das Getriebensein aller menschlichen Existenz verbildlichen. Natürlich ist das Geschehen, vor allem das Ende des Films, auch ganz anders zu betrachten: Die Liebe zu einem Einzelnen ginge auf in der Liebe zur Gemeinschaft; die Wiederkehr der Kraniche spräche von einem höheren Glück als der erfüllten persönlichen Sehnsucht. Das wäre dann jener (nicht nur sozialistische) Realismus, den »Letjat schurawli« auf der visuellen Ebene so großartig konterkariert.

R Michail Kalatosow B Wiktor Rosow V Wiktor Rosow K Sergei Urussevski M Moisei Wainberg A Jewgeni Swidetelew S Marija Timofejeva P Mosfilm D Tatjana Samoilowa, Alexey Batalow, Wassili Merkurjew, Alexander Schworin, Swetlana Charitonowa | SU | 97 min | 1:1,37 | sw | 12. Oktober 1957

1.7.55

Perwij eschelon (Michail Kalatosow, 1955)

Die erste Staffel 

Neuland unterm Pflug: Eine Gruppe begeisterter Komsomolzen macht sich auf, die fruchtbare sibirische Steppe zu entjungfern. Unter der Anleitung wohlwollender alter Füchse wachsen die übermütigen jungen Hunde an ihren Aufgaben und an ihrer Verantwortung … Zwei Jahre nach Stalins Tod entstanden, ist Michail Kalatosows »Perwij eschelon« weitgehend den schlichten Aussagen und der dogmatischen Ästhetik des sozialistischen Realismus verpflichtet: Immer wieder versammeln sich die angehenden Helden zu statischen Genrebildern, immer wieder richten sie ihre Blicke hochgestimmt (manchmal auch nachdenklich) in die, von Dmitri Schostakowitsch musikalisch antizipierte, rote Zukunft. Doch da sind diese überraschenden Bilder von Einsamkeit, ja Vergeblichkeit: einzelne Figuren, verloren in grenzenlosen Weiten. Die Herausforderungen scheinen plötzlich nicht zu be­wältigen, jede Anstrengung zum Scheitern verurteilt. Auch das Ende des Films stimmt nicht eben hoffnungsvoll: Die erste Ernte wird durch ein Feuer vernichtet, der Wettbewerb um die Bestleistung eines landwirtschaftlichen Aufbau-Kollektivs geht verloren. Aber wie sagte ein (amerikanischer) Philosoph: »Unser großer Ruhm ist nicht, niemals zu fallen, sondern jedes Mal wieder aufzustehen.«

R Michail Kalatosow B Nikolai Pogodin K Juri Jekeltschik, Sergei Urussewski M Dmitri Schostakowitsch A Michail Bogdanow, Gennadi Mjasnikow S Soja Werjowkina P Mosfilm D Wsewolod Sanajew, Sergei Romodanow, Oleg Efremow, Tatjana Doronina, Isolda Iswitskajka | SU | 114 min | 1:1,37 | f | 1. Juli 1955