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21.5.80

Mon oncle d’Amérique (Alain Resnais, 1980)

Mein Onkel aus Amerika

»La seule raison d’être d'un être, c’est d’être.« Wie eigentlich funktioniert der Mensch? Der Verhaltensbiologe Henri Laborit erläutert seine diesbezüglichen (Hypo-)Thesen, aus denen Jean Gruault eine Filmerzählung für Alain Resnais generiert. Der einzige Grund eines Lebewesens zu leben ist zu leben, seine Struktur zu bewahren, weiterzuleben. Drei Lebewesen, drei Versuchstiere: Jean Le Gall, großbürgerlich-intellektueller Technokrat; Janine Garnier, Schauspielerin aus kommunistischer Pariser Familie; René Ragueneau, leitender Angestellter mit bäuerlichen Wurzeln. »Mon oncle d’Amérique«, angelegt wie eine populärwissenschaftliche Enquête, entfaltet und verwickelt die Biographien der drei Protagonisten, um Laborits Theorien über die Anlage des dreistufigen menschlichen Gehirns zu illustrieren: die (Basis-)Triebe des Selbsterhalts und der Fortpflanzung; die Gefühle und die Erinnerung: Glück und Trauer, Angst und Zorn und Liebe (ein lebendes Wesen, sagt Laborit, ist ein Gedächtnis, das handelt); die Fähigkeit zu assoziieren, zu erfinden, Imaginäres zu realisieren. Wie eigentlich funktioniert ein Film? »Mon oncle d’Amérique« beobachtet nicht nur das Verhalten der drei Anschauungsobjekte in Bezug auf ihre Umgebung (wir, sagt Laborit, sind Produkte der anderen, wenn wir sterben, sterben all jene, die uns gemacht haben), zeigt nicht nur Selbsterhaltung, nicht nur Verlangen nach Belohnung und Furcht vor Strafe, nicht nur Menschen auf der Flucht oder im Kampf oder von den äußeren Umständen gelähmt: Indem Resnais die Hauptfiguren seines Films immer wieder mit historischen Leinwandheld(inn)en kurzschließt – Roger Pierre (Jean) und Danielle Darrieux; Nicole Garcia (Janine) und Jean Marais; Gérard Depardieu (René) und Jean Gabin –, studiert er (ganz spielerisch, ohne endgültige Ergebnisse zu postulieren) mit der Natur des Menschen auch das Wesen des Kinos. PS: »L'Amérique, ça n'existe pas … Je le sais, j'y ai vécu.«

R Alain Resnais B Jean Gruault V Henri Laborit K Sacha Vierny M Arié Dzierlatka A Jacques Saulnier Ko Catherine Leterrier S Albert Jurgenson P Philippe Dussart D Roger Pierre, Nicole Garcia, Gérard Depardieu, Pierre Arditi, Henri Laborit | F | 125 min | 1:1,66 | f | 21. Mai 1980

# 817 | 21. Dezember 2013

18.3.76

The Man Who Fell to Earth (Nicolas Roeg, 1976)

Der Mann, der vom Himmel fiel

»I’m just visiting.« – »Oh, a traveler!« Ein Außerirdischer landet auf der Erde. Unter dem Namen Thomas Jerome Newton verschafft sich der rothaarige Besucher Bargeld und baut mittels einiger bahnbrechender Patente einen der größten Konzerne der Vereinigten Staaten auf – es sind weder Macht noch Reichtum, die ihn dabei interessieren, ihm geht es einzig um die Mittel, seinen verdurstenden Heimatplaneten (auf dem er Frau und Kinder zurückließ) mit Wasser zu versorgen. Die Science-Fiction-Erzählung bildet den Rahmen, um aus der Sicht eines Fremden auf Bekanntes – oder: für bekannt Gehaltenes – zu blicken, auf Talmiglanz und Elend der westlichen Zivilisation, auf ihre Gesetze des Marktes und der Stärkeren. In kühnen Ellipsen, in fragmentierten Szenen, in Bildern von halluzinatorischer Qualität verschmilzt Nicolas Roeg hochartifizielle Gesellschaftskritik und rigorose Genredekonstruktion zu einer sarkastische Dystopie, die nicht als Zukunftsvision daherkommt, sondern, vermittelt durch die Perspektive eines Alien, als beklemmendes Zeitbild. David Bowie, der als Popstar zuvor selbst mit außerirdischen Identitäten jonglierte, spielt Newton, den genialischen Magnaten und einzelgängerischen Exzentriker, Simplicissimus, Messias, Ikarus, Freak, ultimativer »stranger in a strange land«. Mit seltsam aufgekratzter Ungerührtheit zeigt Roeg, wie sich »The Man Who Fell to Earth« in eine problematische Beziehung verwickelt, wie er dem Alkohol und hemmungslosem Fernsehkonsum verfällt, wie er sein großes Ziel allmählich aus den Augen verliert – ein fataler Prozeß der Entfremdung (und zugleich Menschwerdung), der in stiller Melancholie endet. »I may not stay sober anymore. But, I still have money.«

R Nicolas Roeg B Paul Mayersberg V Walter Tevis K Anthony Richmond M diverse A Brian Eatwell S Graeme Clifford P Michael Deeley, Barry Spikings D David Bowie, Candy Clark, Rip Torn, Buck Henry, Bernie Casey | UK | 139 min | 1:2,35 | f | 18. März 1976

# 1065 | 31. Juli 2017

20.9.73

L’événement le plus important depuis que l’homme a marché sur la lune (Jacques Demy, 1973)

Die Umstandshose

Marco (Marcello Mastroianni), Inhaber einer Fahrschule, lebt glücklich und zufrieden mit seiner Freundin Irène (Catherine Deneuve), Besitzerin eines kleinen Friseursalons, und dem gemeinsamen Sohn im Pariser Stadtviertel Montparnasse. Geplagt von Kopfweh, Schwindel, Übelkeit (besonders arg während eines Mireille-Mathieu-Konzerts) begibt sich Marco zum Arzt. Diagnose: Monsieur ist im vierten Monat schwanger. Der behandelnde Gynäkologe ist entzückt, bestätigt der sensationelle Fall doch seine Theorie über die schleichende Veränderung des menschlichen Hormonhaushalts infolge von Ernährungsfehlern (zuviel Hühnchen!) und Umweltverschmutzung ... Jacques Demys (etwas phlegmatisch inszenierte) Alltagsburleske über das Kind im Manne verkehrt zwar die Geschlechterrollen, befaßt sich aber kaum mit der gesellschaftlichen oder beziehungstechnischen Bedeutung von Männlichkeit und Weiblichkeit (»le thème – comment dirais-je? – de la ›maternité masculine‹ ... ou de la ›paternité maternelle‹, si vous préférez«), wirft nur den einen oder anderen spöttischen Seitenblick auf die Reaktionen von Medien, Kommerz und Mitwelt auf das biologische Phänomen, ergeht sich lieber in quietschbuten Kulissen und im Herzeigen eines delikaten schlechten Geschmack (ein orange-brauner Schlafanzug für ihn, ein kobaltblauer Pelzmantel für sie) – dazu paßt das laue Ende der Erzählung, das alles wieder in die natürliche (?) Ordnung der Dinge zurückfinden läßt.

R Jacques Demy B Jacques Demy K Andréas Winding M Michel Legrand A Bernard Evein S Anne-Marie Cotret P Henri Baum D Marcello Mastoianni, Catherine Deneuve, Micheline Presle, Raymond Gérôme, Mireille Mathieu | F & I | 94 min | 1:1,66 | f | 20. September 1973

# 1123 | 5. Juni 2018

15.1.71

Vanishing Point (Richard C. Sarafian, 1971)

Fluchtpunkt San Francisco

Er heißt Kowalski. Vorname unbekannt. Ex-Soldat, Ex-Bulle, Ex-Rennfahrer. Er soll einen weißen Dodge Challenger von Denver nach San Francisco überführen. Aufgrund einer Wette und mithilfe einer gehörigen Portion Speed will er die 2000 Kilometer quer durch die Wüste in 15 Stunden schaffen. Richard C. Sarafian singt das Hohelied des Gaspedals, zelebriert eine straßenfilmische Messe der Geschwindigkeit(süberschreitung), die den Gläubigen nichts anderes bedeutet als vollkommene Freiheit der Seele. Während Kowalski (Barry Newman) auf seiner staubigen Schußfahrt Hippies, Jesusfreaks und anderen Sonderlingen begegnet, sich fetzenhaft an Polizeieinsätze, Motorrennen und romantische Stunden erinnert, erfährt er durch einen blinden Radio-DJ panegyrische Verklärung als »the Challenger«, »the electric centaur«, »the demi-god«, »the super driver of the golden west«. Daß der Traum dieses »last American hero« ausgerechnet an den Schaufeln behäbiger Planierraupen zerschellt (oder dort im Verschwinden seine Erfüllung findet?), weist Sarafian und den exilkubanischen Autor Guillermo Cabrera Infante als unbarmherzige (dabei durchaus wehmütige) Ironiker aus.

R Richard C. Sarafian B Guillermo Cain (= Guillermo Cabrera Infante), Malcolm Hart K John A. Alonzo M diverse A Glen Daniels, Jerry Wunderlich S Stefan Arnsten P Norman Spencer D Barry Newman, Cleavon Little, Dean Jagger, Gilda Texter | USA | 99 min | 1:1,85 | f | 15. Januar 1971

# 1159 | 20. April 2019

16.10.68

Ho! (Robert Enrico, 1968)

Die Nr. 1 bin ich

Nach einem von ihm verursachten Unfall mit Todesfolge wird dem Rennfahrer François Holin (Jean-Paul Belmondo) die Lizenz entzogen; fünf Jahre später verdingt er sich als Fahrer von Fluchtwagen in der Pariser Unterwelt, wobei er fortgesetzt die Herablassung seiner berufsverbrecherischen Kollegen zu spüren bekommt. Erst ein spektakulärer Ausbruch aus dem Untersuchungsgefängnis verschafft dem kleinen Ganoven jenen Starnimbus, den er von jeher für sich beansprucht hat: »Arsène Lupin + Al Capone = François Holin« titelt eine Boulevardzeitung nach dem Bravourstück, und der solchermaßen Bekomplimentierte pflastert ein ganzes Zimmer mit den Bildern und Schlagzeilen, die sein öffentliches Image erschaffen. Nach einem Roman von José Giovanni liefert Robert Enrico das eindrückliche Porträt des Gangsters als eitler Mann, das Psychogramm eines seelisch Lädierten, der sein aufgeputschtes Medienbild für die Wahrheit nimmt – eine fatale Disproportion, die François de Roubaix’ zwischen sanfter Wehmut und hektischer Unruhe wechselnder (Klavier-)Soundtrack musikalisch virtuos ausgestaltet. Wenn Ho/Holin am Ende seines zunehmend blutigen Weges durch ein Gewitter von Blitzlichtern schwankt, ist er endlich die Berühmtheit, die er immer sein wollte, einer, der alles gewonnen und dabei alles verloren hat.

R Robert Enrico B Lucienne Hamon, Pierre Pelegri, Robert Enrico V José Giovanni K Jean Boffety M François de Roubaix A Jacques Saulnier S Jacqueline Meppiel P Paul Laffargue D Jean-Paul Belmondo, Joanna Shimkus, Raymond Bussières, Paul Crauchet, Sidney Chaplin | F & I | 103 min | 1:1,66 | f | 16. Oktober 1968

# 1054 | 5. Juni 2017

6.2.67

Accident (Joseph Losey, 1967)

Accident – Zwischenfall in Oxford

Ein Sonntagnachmittag im Garten. Es ist Sommer. Die Sonne scheint. Rosalind macht ein Nickerchen, Stephen jätet Unkraut, Anna flicht einen Kranz aus Gänseblümchen, Charley erklärt William, wie einfach es ist, einen Roman zu schreiben: »Child’s play. All you need is a starting point. Here for instance.« – »Where?« – »Here, on this lawn. What are we all up to?« Rosalind (Vivien Merchant) ist hochschwanger, ihr introvertierter Ehemann Stephen (Dirk Bogarde), Dozent in Oxford, lechzt nach seiner attraktiven Studentin Anna (Jacqueline Sassard), die mit ihrem blaublütigen Kommilitonen William (Michael York) zusammen ist und mit Stephens großspurigem Kollegen Charley (Stanley Baker) ins Bett geht … Die Emotionen, die dieser spannungsreichen Konstellation innewohnen, werden fast vollständig kaschiert vom jederzeit angemesenen Verhalten der wohlerzogenen Beteiligten, sind zwischen den Zeilen der herausfordernd belanglosen Konversationen (Drehbuch: Harold Pinter) lediglich zu erahnen, entladen sich jedoch schließlich im titelgebenden Unfall, der per se nichts weiter ist als einer der vielen scheinbar zufälligen Umstände, der vermeintlich unbedeutenden Momente, die sich, von Joseph Losey demaskierend präzise inszeniert, in »Accident« zur elliptischen Erzählung reihen. »Philosophy«, erläutert Stephen in einer Tutorenstunde, »is a proces of inquiry only. It doesn’t attempt to find specific answers to specific questions.« Losey und Pinter tun im Grunde nichts anderes: Sie untersuchen an ihren Studienobjekten Phänomene wie Verlangen und Frustration, Ehrgeiz und Entwürdigung, Contenance und Grausamkeit – daß dabei das (nicht gänzlich unironische) Portrait einer Gesellschaft von (hochkultivierten) Zombies entsteht, ist wohl so wenig akzidentiell wie der Crash, mit dem der Film beginnt und endet.

R Joseph Losey B Harold Pinter V Nicholas Mosley K Gerry Fisher M John Dankworth A Carmen Dillon S Reginald Beck P Joseph Losey, Norman Priggen D Dirk Bogarde, Stanley Baker, Jacqueline Sassard, Michael York, Vivien Merchant, Delphine Seyrig | UK | 105 min | 1:1,85 | f | 6. Februar 1967

1.12.65

La decima vittima (Elio Petri, 1965)

Das zehnte Opfer

Zur Kanalisierung von Aggressionen, zur präventiven Abfuhr von Gewalt hat die Staatengemeinschaft ein weltweites Todesspiel initiiert: »Die große Jagd« ersetzt Verbrechen und Krieg. Zehnmal müssen die Teilnehmer antreten, immer abwechselnd als Jäger und Opfer. Wer alle Runden überlebt, erwirbt den Titel »Dekathlet« und eine Million Dollar als Siegesprämie. Elio Petris exzentrische Action-Satire führt von New York, wo Caroline Meredith (rassig: Ursula Andress) im »Club Masoch« souverän einen Jäger austrickst, nach Rom (die alte Heimat von »panem et circenses«), wo die Kandidatin ihr nächstes (zehntes = letztes) Opfer erledigen muß. Der lässige Latin Lover Marcello Poletti (blondiert: Marcello Mastroianni), selbst ein erfahrener Wettkämpfer, weiß sich freilich seiner Haut nonchalant zu wehren. »La decima vittima« befaßt sich hinlänglich mit den medialen Implikationen des modernen Gladiatorenkampfs: Caroline will ihren Gegner für »Ming Tea« im Tempel der Venus (!) abknallen, Marcello plant, seine Kontrahentin für »Cola 80« an ein Krokodil zu verfüttern – Töten als definitiver Werbegag. Letzten Endes tritt jedoch die Gesellschaftskritik zugunsten von dekorativ-futuristischen Op’n’Pop-Fantasien in den Hintergrund: Kostüm und Dekor scheinen Petri allemal wichtiger zu sein als Analyse und Reflexion – Töten als extravagante (von Gianni Di Venanzo delikat fotografierte) Modestrecke.

R Elio Petri B Tullio Pinnelli, Ennio Flaiano, Giorgio Salvioni, Elio Petri V Robert Shackley K Gianni Di Venanzo M Piero Piccioni A Piero Poletto S Ruggero Mastroianni P Carlo Ponti D Marcello Mastroianni, Ursula Andress, Elsa Martinelli, Massimo Serrato, Jacques Herlin | I & F | 96 min | 1:1,85 | f | 1. Dezember 1965

# 967 | 8. August 2015

3.8.65

Darling (John Schlesinger, 1965)

Darling

»I’m as happy as anyone could possibly be.« London, die Hauptstadt der swingenden Sechziger: Auf­bruch, Hedonismus, Ungezwungenheit, das Leben als endlose Party. Eine old fashioned Metro­pole wird zum Epizenztrum der kapitalistischen Kulturrevo­lution – hier spielt John Schlesingers fellineskes Gesellschaftspanorama »Darling«: ein Röntgenbild der Oberflächlichkeit, ein leichtfüßig-frostiges Soziogramm, ein silbriges Glanzstück. Julie Christie ist Diana Scott. Sie ist jung und schön, sie wirkt natürlich und unkompliziert, sie weiß genau, was sie will, besser gesagt wohin: nach oben. Darling Diana ist ein Archetyp der Ära, »happiness girl« und »ideal woman«, Hure und Prinzessin. Männer pflastern ihren Weg: Dirk Bo­gar­de, der Intellektuelle, Laurence Harvey, der Zyniker, José de Vilallonga, der Fürst. Darling benutzt und läßt sich benutzen. Am Ende ist sie da, wo sie immer sein wollte. Sie residiert in einem Schloß, sie sieht ihr Gesicht im Spiegel, und sie weiß: »Darling’s life is a great big steaming mess.«

R John Schlesinger B Frederic Raphael K Kenneth Higgins M John Dankworth A Ray Simm S Jim Clark P Joseph Janni D Julie Christie, Dirk Bogarde, Laurence Harvey, José Luis de Vilallonga, Roland Curram | UK | 128 min | 1:1,66 | sw | 3. August 1965

12.2.64

Seven Days in May (John Frankenheimer, 1964)

Sieben Tage im Mai

US-Präsident Lyman (staatsmännisch: Fredric March) hat einen Vertrag zur nuklearen Abrüstung mit den Sowjets ausgehandelt. Führende Angehörige der Streitkräfte opponieren gegen das in ihren Augen hochverräterische Abkommen, Generalstabschef Scott (selbstüberzeugt: Burt Lancaster) plant einen Staatsstreich … In seiner Abschiedsansprache warnte Präsident Eisenhower 1961 vor der Bedrohung der demokratischen Ordnung durch den »militärisch-industriellen Komplex«; John Frankenheimers frostiger Thriller zeigt anschaulich, wie ein Konflikt zwischen Politik und Militär ablaufen könnte. »Seven Days in May« spielt in einem Klima von Mißtrauen und Verrat, von konspirativer Strippenzieherei und öffentlicher Stimmungsmache; die Handlung ­– von einer Mischung aus unheilverkündenden Trommelwirbeln und coolem Midnight Jazz (Jerry Goldsmith) effektvoll vorangetrieben – läuft vorwiegend in fensterlosen Innenräumen ab; der häufige gestalterische Einsatz von Fernseh- oder Überwachungsmonitoren schafft eine Atmosphäre zwischen eisiger Distanz und penetranter Indiskretion. Die geschilderte Kontroverse ist nur vordergründig die zwischen Falken und Tauben, im Grunde geht es um einen Widerstreit von gesetztem und gefühltem Recht, von Legitimität und Selbstermächtigung. Rettung in allerletzter Sekunde bringt, wie der reitende Bote auf dem Theater, ein alles enthüllender Brief; nach der illusionslosen Schilderung von Arglist und Wahn erscheint dieses papierne »happy ending« so naiv wie das abschließende Statement des idealistischen Präsidenten: »We will see a day when on this earth all men will walk out of the long tunnels of tyranny into the bright sunshine of freedom.« Well … 
 
R John Frankenheimer B Rod Serling V Fletcher Knebel, Charles W. Bailey II K Ellsworth Fredericks M Jerry Goldsmith A Cary Odell S Ferris Webster P Edward Lewis D Kirk Douglas, Burt Lancaster, Fredric March, Edmond O’Brien, Ava Gardner | USA | 118 min | 1:1,85 | sw | 12. Februar 1964

# 853 | 7. April 2014

19.12.61

Der Traum von Lieschen Müller (Helmut Käutner, 1961)

Helmut Käutners kabarettistische Revue vom Tanz ums goldene Kalb: Lieschen Müller (Sonja Ziemann), die kleine Bankangestellte aus Dingskirchen, träumt den Traum vom großen Glück: Roben aus goldener Seide, darauf Saphirsterne, darüber Platinnerze, dazu offene Luxuswagen, feudale Hotels und ein attraktiver Bräutigam auf Bestellung – das Leben als einzige Wunscherfüllung. Möglich macht es Impressario Dr. Schmidt (Martin Held), der für die Durchschnittsfrau einen toten Onkel aus Amerika und eine Erbschaft in Höhe von drei Milliarden Dollar erfindet. Das brave Lieschen Müller verwandelt sich in die allseits umschwärmte Liz Miller, der man auf Grund ihres fiktiven Vermögens unbegrenzten Kredit gewährt … In eastmancolorbunten Showkulissen und allegorischen Szenen, mit satirischen Songs und allerlei skurrilen Filmtricks erklärt Käutner das Geheimnis des wirtschaftlichen Wachstums: Wo Geld ist, kommt Geld hin – denn: »Das Geld ist gern beim Geld zu Gast.« Und auch das virtuelle Kapital trägt (jedenfalls für manche) greifbare Früchte, ganz einfach »weil man jeden Käse glaubt«. Was die einen miesepetrig als Betrug bezeichnen, ist für die anderen eine reife Leistung der ökonomischen Phantasie. Das oberste Gebot des Finanzkapitalismus lautet: So tun, als ob. Letztlich schreckt Käutner leider vor der Konsequenz seiner eigenen Analyse zurück und verkündet – vermutlich wider besseres Wissen: »Das Glück, das kann keiner sich kaufen, / Und gäb’ er Milliarden dafür.« Lieschen Müller wird aus ihrem bunten Traum in die schwarzweiße Rahmenhandlung zurückversetzt, wo sie Tröstung durch einen adretten jungen Mann (Helmut Griem) und die Aussicht auf ein Einfamilienhaus im Wiesengrund erfährt.

R Helmut Käutner B Helmut Käutner, Willibald Eser K Günther Senftleben M Bernhard Eichhorn, Michel Legrand A Otto Pischinger, Herta Pischinger S Klaus Dudenhöfer P Ilse Kubaschewski D Sonja Ziemann, Martin Held, Helmut Griem, Cornelia Froboess, Peter Weck, Wolfgang Neuss | BRD | 92 min | 1:1,66 | sw/f | 19. Dezember 1961

# 904 | 31. August 2014

12.9.57

A King in New York (Charles Chaplin, 1957)

Ein König in New York

»There are many things absurd these days.« Ist König Shahdov von Estrovia, den seine Untertanen vom Thron jagten, ein royaler Kommunist? Charlie Chaplins (autobiographisch inspirierte) gallige Komödie expediert einen gestürzten alteuropäischen Monarchen ins New Yorker Exil und stößt ihn in die bizarren Klüfte der (schönen?) neuen Welt (»This wonderful, wonderful America … its youth, its genius, its vitality!«) – bis hin zur Vorladung vor das Komitee für unamerikanische Umtriebe. Der König erlebt staunend allgegenwärtigen Konsumterror und tendenziösen Journalismus, Massenhysterie und Jugendwahn, Gesinnungszwang und Paranoia, awful plastic surgery und exklusive Dinnerparties, die sich unversehens ins Werbeprogramm des Lokalfernsehens verwandeln. Bei aller satirischen Bitterkeit ist »A King in New York« kein antiamerikanischer Film, eher ein zornig-mokanter Blick auf die pervertierten Gründungsideale einer großen Nation. Spätestens mit der tragischen Schlußpointe weicht die Belustigung vollends dem politischen Statement – dankenswerterweise unter Vermeidung der ansonsten üblichen chaplinesken Sentimentalität.

R Charles Chaplin B Charles Chaplin K Georges Périnal M Charles Chaplin A Allan Harris S John Seabourne P Charles Chaplin D Charles Chaplin, Dawn Addams, Sid James, Oliver Johnston, Michael Chaplin | UK | 110 min | 1:1,37 | sw | 12. September 1957

14.6.51

Ace in the Hole (Billy Wilder, 1951)

Reporter des Satans

»Bad news sells best. Cause good news is no news.« In gewisser Weise wirkt Chuck Tatum (Kirk Douglas) wie ein Bruder im Geiste jener amoralischen Wilder-Helden von Schlage eines Walter Neff (»Double Indemnity«) oder Joe Gillis (»Sunset Blvd.«), denen zur Erreichung eines fragwürdigen Lebensglücks jedes Mittel recht ist. Wo der durchschnittliche Versicherungsmann im Verein mit dessen fataler Gattin einen wohlhabenden Klienten tötet, wo sich der abgeschriebene Drehbauchautor an eine gewesene, aber vermögende Hollywood-Diva ranschmeißt, jazzt der windige Reporter eine Lokalmeldung zum nationalen Knüller hoch. Gestrandet beim »Albuquerque Sun Bulletin«, für das er über so aufregende Ereignisse wie die Jagd auf Klapperschlangen zu berichten hat, wittert Tatum die Chance, sich von New Mexico an die Ostküste zurückzuschreiben, als er vom Schicksal eines Schatzsuchers erfährt, der beim Schürfen nach indianischen Kunstgegenständen in einem alten Stollen verschüttet wurde. Eine Nachricht, weiß der hartgesottene Journalist, ist immer so groß wie die Schlagzeile, unter der sie steht, und so verkompliziert er kurzerhand die Rettung des Eingeschlossenen, um Stoff für eine wochenlange sensationelle Artikelserie voller »human interest« zu generieren … In Form einer sardonischen Drama-Farce zeigt »Ace in the Hole« zum einen die Wechselwirkung zwischen dem gnadenlosen Unterhaltungscharakter der Massenmedien und der ebenso gnadenlosen Unterhaltungssucht der medienkonsumierenden Massen, zum anderen die obsessive Konsequenz, mit der Arrivisten in einer allseits korrupten Welt über Leichen gehen, auch wenn es zu böser Letzt die eigene ist. Daß Billy Wilder diesen karnevalesken Noir-Alptraum nicht im Dunkel der Nacht spielen läßt sondern in der strahlenden Helligkeit der Wüste, beweist einmal mehr seinen Sinn für gallige Ironie.

R Billy Wilder B Billy Wilder, Lesser Samuels, Walter Newman K Charles Lang M Hugo Friedhofer A Hal Pereira, Earl Hedrick S Arthur P. Schmidt P Billy Wilder D Kirk Douglas, Jan Sterling, Robert Arthur, Porter Hall, Richard Benedict | USA | 111 min | 1:1,37 | sw | 14. Juni 1951

# 958 | 29. Juni 2015

1.5.41

Citizen Kane (Orson Welles, 1941)

Citizen Kane

»I am, have been, and will be only one thing – an American.« Mehr noch als einem jener jigsaw puzzles, die ein zentrales Symbol dieses außergewöhnlichen Werkes darstellen, gleicht Orson Welles’ fulminantes Debüt »Citizen Kane«, die an die Biographie des realen amerikanischen Pressezaren William Randolph Hearst angelehnte Filmbiographie des fiktiven amerikanischen Pressezaren Charles Foster Kane, einem monströsen Sammelsurium, einem enormen Fundus, einer gewaltigen Aufhäufung. Wie die disparaten Bauteile von Kanes gigantischem Traumschloß »Xanadu« (»Cost: no man can say.«) an der Golfküste Floridas – einem Äquivalent zu Hearsts gigantischem Traumschloß oberhalb des kalifornischen Ortes San Simeon – türmen, schichten, stapeln sich die narrativen, konzeptionellen, bildlichen Einfälle, Tricks, Bravourstücke. Die leidlich komplexe Rückblendenerzählung (Koautor: Herman J. Mankiewicz), die, ausgehend vom letzten Wort des verstorbenen Magnaten (»Rosebud«), in Form einer journalistischen Recherche das Geheimnis eines exzeptionellen Lebens zu ergründen trachtet, vermischt Kolportage und Reflexion, Melodrama und Satire, Mockumentary und Tragödie; Gregg Tolands Kamera exzelliert in Tiefenschärfe und Weitwinkeloptik, in extremen Untersichten und schrägen Perspektiven; die schauspielerischen Darstellungen wechseln von einer Szene zur nächsten zwischen kühlem Underplay und hysterischer Exaltation. Bald soziologisches Vaudeville, bald psychologische Persönlichkeitsstudie, zeichnet »Citizen Kane« – ohne dem Rätsel des populistischen Nabobs und sentimentalen Egomanen, des fanatischen Raffers und (selbst-)zerstörerischen Hasardeurs letztlich beizukommen – das Porträt eines Mannes, der felsenfest davon überzeugt ist, immer und überall nach eigenen Regeln spielen zu können, und damit auch das Bild des Landes (und seines Wesens), von dem er geformt wurde und das er formte: »I am, have been, and will be only one thing – an American.«

R Orson Welles B Herman J. Mankiewicz, Orson Welles K Gregg Toland M Bernard Herrmann A Van Nest Polglase S Robert Wise P Orson Welles D Orson Welles, Joseph Cotten, Dorothy Comingore, Everett Sloane, Ruth Warrick | USA | 119 min | 1:1,37 | sw | 1. Mai 1941

# 1092 | 5. Dezember 2017

30.8.20

Vie privée (Louis Malle, 1962)

Privatleben

»No one leaves a star. That’s what makes one a star«, bemerkte einst Norma Desmond (die es wissen mußte), und Louis Malle scheint noch einen Schritt weiterzugehen, wenn er demonstriert, daß es nicht einmal dem Star selbst möglich ist, sich zu verlassen, will sagen dem Gefängnis des eigenen Ruhms zu entfliehen. Jill (Brigitte Bardot in einer kryptobiographischen Rolle), aus gutbürgerlichem Genfer Hause stammend, jung und schön, ziemlich lebenslustig und etwas oberflächlich, tanzt, modelt, steigt, fast ohne eigenes Zutun, kometenhaft zu internationaler Prominenz auf, hetzt von Film zu Film, von Mann zu Mann. Ein mädchenhafter Vamp, eine herausfordernde Unschuld, bewundert und beneidet, kultisch verehrt und abgrundtief gehaßt, bald umschwärmt, bald gejagt von Fans und Fotografen, fällt Jill in Depressionen, sucht Erlösung in der Liebe zu einem ritterlichen Intellektuellen (Marcello Mastroianni). Ein Märchen aus dem Paparazzizeitalter, das beginnt wie eine skizzenhafte soziologische Studie, das sich fortsetzt als Mischung aus klaustrophobischem Kammerspiel und fieberhaftem Melodram, das (alp-)traumhaft endet mit einem Sturz ins Bodenlose, in die Freiheit.

R Louis Malle B Louis Malle, Jean-Paul Rappeneau, Jean Ferry K Henri Decaë M Fiorenzi Carpi A Bernard Evein Ko Marie Martine Real S Kenout Peltier P Christine Gouze-Renal D Brigitte Bardot, Marcello Mastroianni, Ursula Kübler, Antoine Roblot, Gregor von Rezzori | F & I | 104 min | 1:1,66 | f | 31. Januar 1962

# 1196 | 30. August 2020