29.10.70

The Private Life of Sherlock Holmes (Billy Wilder, 1970)

Das Privatleben des Sherlock Holmes

»We all have occasional failures.« Eine hilfsbedürftige Dame und ein weltberühmtes Ungeheuer, die sich jeweils als etwas völlig anderes erweisen, dazu sechs verschwundene Zwerge und eine Gruppe mysteriöser Trappisten, außerdem eine fortpflanzungswillige Primaballerina und eine sehr kleine Königin ... Mit sanfter Ironie und besinnlicher Romantik bereiten Billy Wilder und I. A. L. Diamond ein episch-stilvolles Sherlock-Holmes-Pastiche, das die – von Arthur Conan Doyle eher ausgesparten – Gefühlswelten des legendären, zu Anfällen von Schwermut neigenden Londoner Detektivs (empfindsam: Robert Stephens) ausforscht. Fünfzig Jahre nach dem Tod von Dr. Watson (robust: Colin Blakely) werden, so die Prämisse des Films, in einem Banksafe nicht nur Holmes’ Deerstalker und Pfeife gefunden, sondern auch die Aufzeichnungen zu einigen pikanten Abenteuern, die der treue Eckermann des kombinatorisches Genies mit gutem Grund unter Verschluß gehalten hat. Wilder, in diesem Fall seines ätzenden Spottes vollkommen abhold, ergeht sich in ausführlicher Figurenzeichnung und viktorianischer Stimmungsmalerei, ohne der in diesem Genre üblichen Spannungsentwicklung besondere Aufmerksamkeit zu schenken.

R Billy Wilder B Billy Wilder, I. A. L. Diamond V Arthur Conan Doyle K Christopher Challis M Miklós Rózsa A Alexandre Trauner S Ernest Walter P Billy Wilder D Robert Stephens, Colin Blakely, Genieviève Page, Christopher Lee, Tamara Toumanova | UK & USA | 125 min | 1:2,35 | f | 29. Oktober 1970

# 1101 | 1. März 2018

20.10.70

Le cercle rouge (Jean-Pierre Melville, 1970)

Vier im roten Kreis

»Les hommes sont coupables. Ils viennent au monde innocents mais ça ne dure pas.« – Jean-Pierre Melville zieht um vier Menschen (= Männer – es gibt im Grunde nur Männer bei Melville) seiner eisblau-beige-grauen (Unter-)Welt einen roten Kreis, in dem sie sich treffen werden / sollen / müssen. Corey (Alain Delon), Vogel (Gian Maria Volonté), Jansen (Yves Montand), Mattei (André Bourvil) – Gesetzesbrecher, Gesetzeshüter … wie auch immer, Profis allesamt. Die einen planen (und begehen) ein Verbrechen (in diesem Fall: einen Juwelenraub), ein anderer sucht es zu verhindern (bzw. aufzuklären). Ihre Bewegungen, ihre Methoden, ihre Blicke, ihre Mäntel, ihre Hüte – identisch. Warum einer Polizist wurde und die anderen Gangster? Unwichtig. Man ist es eben (mangels anderer Gelegenheit – vielleicht), und man ist es gut. Der Perfektionismus, die Könnerschaft (um nicht zu sagen: die Kunst) sind die letzte Befriedigung (und Selbstbestätigung), die dem freien (?) Menschen im Zeitalter der (ideologischen) Lüge bleibt – einerlei ob es sich dabei um das gezielte Abfeuern eines Schusses, das sichere Aufstellen einer Falle oder die Inszenierung eines perfekten Films handelt. Und der beste Grund, seine Fertigkeiten unter Beweis zu stellen, scheint noch, an den Bewohnern der Wandschranks Rache zu nehmen. Bewohner des Wandschranks? Es würde zu lange dauern, es zu erklären … PS: »Tous les hommes!«

R Jean-Pierre Melville B Jean-Pierre Melville K Henri Decaë M Éric Demarsan A Théobald Meurisse S Marie-Sophie Dubus P Robert Dorfman D Alain Delon, André Bourvil, Gian Maria Volonté, Yves Montand, Paul Amiot | F & I | 140 min | 1:1,66 | f | 20. Oktober 1970

9.10.70

Der amerikanische Soldat (Rainer Werner Fassbinder, 1970)

»Alone you start my friend, / Alone is now an end.« Richard ›Ricky‹ von Rezzori (Karl Scheydt), gebürtiger Münchner, als US-Soldat im Vietnamkrieg aktiv (»Wie war es?« – »Laut.«), kehrt in seine Heimatstadt zurück: als Killer, der von drei Polizisten angeheuert wird, ein paar nicht zu belangende Kriminelle abzuschießen … Eine vollsynthetische Gangsterfilmaufstellung, Klischees im Spiegel im Spiegel im Spiegel: coole Männer mit Anzügen und Hüten, Frauen als dekoratives oder störendes Beiwerk; Freundschaft, Betrug, Geschäft, Verzweiflung, unterdrückte Leidenschaft, leidenschaftliche Unterdrückung; der Spieltisch, das Polizeirevier, das Hotel, die Bar, das Auto, der Bahnhof. Rainer Werner Fassbinder schickt seinen einsilbigen Protagonisten auf eine absurde Reise ins Herz der Finsternis, und läßt ihn auf seinem Weg jenen absonderlichen Nebenfiguren begegnen, ohne die kein seriöser (oder unseriöser) Genrebeitrag auskommt: Da sind ein schwuler Zigeuner (Ulli Lommel), eine versoffene Informantin (Katrin Schaake), ein verzweifelt bruderliebender Bruder (Kurt Raab), eine leidgefrorene Mutter (Eva Ingeborg Scholz), eine blauäugige Nutte (»Ich mag ihn.« – »Den Killer?« – »Der ist lieb.«) (Elga Sorbas als ›Rosa von Praunheim‹), ein desperates Zimmermädchen (Margarethe von Trotta), das – als Vorahnung eines kommenden Fassbinder-Films – die Geschichte einer 60jährigen Putzfrau und ihrer tragischen Liebe zu einem jüngeren Türken erzählt: »Das Glück ist nicht immer lustig.« Und das Unglück, so scheint es, ist nicht immer traurig.

R Rainer Werner Fassbinder B Rainer Werner Fassbinder K Dietrich Lohmann M Peer Raben A Kurt Raab S Thea Eymèsz P Rainer Werner Fassbinder D Karl Scheydt, Jan George, Elga Sorbas, Margarethe von Trotta, Eva Ingeborg Scholz | BRD | 80 min | 1:1,37 | sw | 9. Oktober 1970

# 894 | 9. Juli 2014