22.4.60

Les bonnes femmes (Claude Chabrol, 1960)

Die Unbefriedigten 

Jane, Ginette, Rita und Jacqueline arbeiten in einem Pariser Haushaltswaren­geschäft (in das sich nie ein Kunde zu verirren scheint). Mitleidlos-spöttisch beobachtet Claude Chabrol Szenen aus dem Leben der vier jungen Angestellten, folgt ihnen durch ihre Tage und ihre Nächte, zeigt ihren Überdruß und die triste Banalität ihrer Träume, ihre Enttäuschungen und ihre inkonsequenten Fluchtversuche aus dem lähmendem Alltag, ihre Blindheit und ihr zielloses Warten darauf, daß etwas geschieht, daß einer kommt, ein Retter, ein Prinz. Die Männer sind indes nicht besser: Wenn frau nur an geile Nachsteller, an exzentrische Lustgreise, an bornierte Kleinbürger gerät, kann sie von Glück sagen. »Les bonnes femmes«, gleichermaßen überscharfe Verhaltens­studie und satirisches Gesellschaftsbild, verschränkt eine Komödie der Irrungen mit einem Trauerspiel der Flausen, läßt ein tristes Kaleidoskop der Beziehungslosigkeit rotieren, übt beißende Kritik an der Akzeptanz erstarrter Geschlechterrollen: Ohne Bewußtwerdung gibt es keine Liebe, nur fade Erotik oder naive Fantasien oder sonderbare Fetische (wie das mit dem Blut eines Guillotinierten getränkte Taschentuch, das die ältliche Kassiererin Madame Louise hütet) oder Schlimmeres … Die Coda des Films bildet ein freudloses Tanzvergnügen. Über die Schulter eines anonymen Mannes geht der leere Blick einer Frau direkt ins Auge des Zuschauers. Da ist kein Licht am Ende des Tunnels, es blinken nur die flüchtigen Reflexe der sich ewig drehenden Spiegelkugel verlorener Illusionen.

R Claude Chabrol B Paul Gégauff, Claude Chabrol K Henri Decaë M Pierre Jansen, Paul Misraki A Jacques Mély S Jacques Gaillard P Raymond Hakim, Robert Hakim D Bernadette Lafont, Stéphane Audran, Clotilde Joano, Lucile Saint-Simon, Ave Ninchi, Mario David | F & I | 100 min | 1:1,66 | sw | 22. April 1960

14.4.60

Herrin der Welt (Teil I) (William Dieterle, 1960)

Ein Film, in dem die Frisur der Hauptdarstellerin (Martha Hyer) auch nach einer Nuklearexplosion noch perfekt auf dem hübschen Köpfchen sitzt. Kurz zum Inhalt: Ein Professor (Gino ›Peppone‹ Cervi) entdeckt eine Art Weltformel, hinter der alle her sind – neben internationalen Geheimdienstlern (darunter Carlos Thompson und Lino Ventura) auch die Organisation einer gewissen Madame Latour (gepflegt-böse: Micheline Presle), die für die Meistbietenden (die Chinesen!) arbeitet. Der Professor wird durch die halbe Welt und eine Vielzahl wackelnder Kulissen geschleppt, um hinter den »Bambusvorhang« verscherbelt zu werden ... Artur ›Atze‹ Brauer lockte nach Fritz Lang mit William Dieterle einen weiteren Remigranten in die Spandauer CCC-Falle, um ihm einen der berüchtigten exotischen Zweiteiler des Hauses abzupressen. Das Ergebnis schwankt auf der nach allen Seiten offenen Kino-Skala zwischen hölzern und farblos.

R William Dieterle B Jo Eiseinger, Harald G. Petersson K Richard Angst M Roman Vlad A Willi Schatz, Helmut Nentwig S Jutta Hering P Artur Brauner D Martha Hyer, Micheline Presle, Carlos Thompson, Lino Ventura, Gino Cervi | BRD & F & I | 97 min | 1:1,37 | f | 14. April 1960

7.4.60

Peeping Tom (Michael Powell, 1960)

Augen der Angst

»Don't be a silly boy. There's nothing to be afraid of!« Film. Angst. Sehen. Rot. Vater. Sohn. Augen. Tod. Ein maßlos-präzises Werk, geschrieben von einem genialen Kryptologen (Leo Marks), inszeniert von einem fanatischen Bildzauberer (Michael Powell): Nichts in »Peeping Tom« ist Produkt des Zufalls, jede Einstellung, jeder Satz, jeder Blick, jede Anspielung folgt sorgfältiger Kalkulation, ist Bestandteil eines komplexen Systems visueller und erzählerischer Bezüge. Der focus puller und Gelegenheitsaktfotograf Mark Lewis (Karlheinz Böhm), im zarten Kindesalter vom Vater zum hilflosen Objekt umfassender wissenschaftlicher Experimente (»The Psychology of Fear«) gemacht, betreibt als Erwachsener seine eigenen (tödlichen) Studien zum (Familien- und Menschheits-)Thema Furcht. Dokumentieren, Arrangieren, Projizieren sind die Leidenschaften dieses sanften Maniacs (der sich (fast) nie von seiner geliebten Kamera trennt, der als symbolische Verkörperung des Mediums Kino, seiner Macher und Rezipienten, erscheint ): das Speichern der flüchtigen Welt, das vorsätzliche Erzeugen von Emotion, das Nach- und Neuerleben des Aufgezeichneten im, wiederum flüchtigen, Moment der Abbildung auf der Leinwand. Das seelenkundlich grundierte, beinahe parodistisch zugespitzte Thrillermotiv bietet Powell (der auch, wohl nicht nur um die Gage für einen professionellen Darsteller zu sparen, Marks bedrohlichen Vater spielt) Anlaß für eine schaurig-grandiose, anschaulich-verschlüsselte Selbstbespiegelung seiner Kunst. PS: »Good night, Daddy. Hold my hand.«

R Michael Powell B Leo Marks K Otto Heller M Brian Easdale A Arthur Lawson S Noreen Ackland P Michael Powell D Carl Boehm (= Karlheinz Böhm), Anna Massey, Moira Shearer, Maxine Audley, Esmond Knight | UK | 101 min | 1:1,66 | f | 7. April 1960

5.4.60

The League of Gentlemen (Basil Dearden, 1960)

Die Herren Einbrecher geben sich die Ehre

»I had a bloody good war.« – »Yes. Perhaps you ought to go off somewhere and find yourself another one.« Acht ehrenwerte Herren, allesamt pensionierte Armeeangehörige, die besseren Zeiten nachtrauern, finden sich zusammen, um – unter Ausnutzung ihrer spezifischen soldatischen Befähigungen – eine Bank zu auszurauben: »What chance has a bunch of ordinary civilians got against a trained, armed and disciplined military unit?« Vermutlich kann nur eine (mit trockenem Humor gesegnete) Nation, die zwar einen Krieg gewonnen aber auch ein Empire verloren hat, einen Film wie »The League of Gentlemen« hervorbringen: Regisseur Basil Dearden, Autor Bryan Forbes (der auch mitspielt) und einer Reihe von prädestinierten Offiziersdarstellern (Hawkins, Patrick, Livesey, Attenborough – sie alle überzeugten zuvor schon in diversen Kriegsfilmen) gelingt es, traditionellen militärischen Tugenden – Gehorsam, Ordnungssinn, Zielgerichtetheit – ironisch zu huldigen und ihnen gleichzeitig mit heiterer Melancholie den Abschied zu geben.

R Basil Dearden B Bryan Forbes V John Boland K Arthur Ibbetson M Philip Green A Peter Proud S John D. Guthridge P Michael Relph D Jack Hawkins, Nigel Patrick, Roger Livesey, Richard Attenborough, Bryan Forbes | UK | 116 min | 1:1,66 | sw | 5. April 1960