24.11.74

Murder on the Orient Express (Sidney Lumet, 1974)

Mord im Orient-Expreß

Schon einmal, 17 Jahre zuvor, hatte Sidney Lumet Fragen von Verbrechen und Strafe auf begrenztem Raum verhandelt. In der Agatha-Christie-Adaption »Murder on the Orient Express« werden wiederum zwölf Personen zum Organ von Gerechtigkeit, nur handelt es sich diesmal nicht um eine Gruppe von zusammengewürfelten Geschworenen im tristen Hinterzimmer eines New Yorker Gerichtssaals sondern um eine (nicht ganz) zufällige Reisegesellschaft im exquisiten Ambiente eines europäischen Luxuszuges. Der Regisseur richtet sein Augenmerk diesmal allerdings erst ganz zum Schluß (dann aber mit horrender Drastik) auf die gruppendynamischen Prozesse, die sich aus dem Zusammentreffen von grundverschiedenen Menschen auf engster Spielfläche entwickeln; zuvor arrangiert er eine Revue mehr oder weniger amüsanter Soloauftritte prominenter Schauspieler, zusammengebunden durch die (mit Albert Finney wenig überzeugend besetzte) Figur des im zentralen Mordfall ermittelnden Meisterdetektivs Hercule Poirot. Der atemberaubende All-Star-Cast macht gleichzeitig Reiz und Langweile des Films aus: Aus den darstellerischen Kabinettstückchen entwickeln sich keine lebendigen Charaktere, kaum einmal plastische Typen. Immerhin bringt die betuliche Konventionalität von Lumets überlanger Inszenierung die lähmende Stimmung in einem eingeschneiten Zug beinahe körperhaft zum Ausdruck.

R Sidney Lumet B Paul Dehn V Agatha Christie K Geoffrey Unsworth M Richard Rodney Bennett A Tony Walton S Anne V. Coates P John Brabourne, Richard Goodwin D Albert Finney, Lauren Bacall, Martin Balsam, Ingrid Bergman, Jean-Pierre Cassel | UK | 128 min | 1:1,66 | f | 24. November 1974

20.11.74

Die Antwort kennt nur der Wind (Alfred Vohrer, 1974)

Die Welt der Schönen und Reichen und Gemeinen. Cannes: Palmen, Villen, Strand, Meer, eine explodierende Luxusyacht. Der in die Luft geflogene Eigner war ein Bankier in Geldnöten, sein Schiff war hoch versichert. Assekuranz-Detektiv Robert Lucas (Maurice Ronet), desillusioniert und herzkrank, reist an, um die Hintergründe der Tat aufzuklären: Mord oder Suizid? Unterstützung erfährt der Ermittler durch die attraktive Prominenten-Malerin Angela (!) (Marthe Keller), die ihm nicht nur ihre Bluse öffnet sondern auch den Zugang zu den pompösen Salons der durch und durch verlotterten Gesellschaft … Nach Gelde drängt, am Gelde hängt doch alles. Johannes Mario Simmel (der einen Cameo-Auftritt als Nabob im weißen Smoking absolviert) zeigt mit ausgestrecktem Finger auf die bösen Finanzkapitalisten, die die Welt ausleeren wie eine Flasche Champagner (1964er Krug); Alfred Vohrer inszeniert Simmels Anklage straff und geradlinig, mit Gefühl für melodramatische Effekte und Sympathie für den Weg des fragwürdigen Helden: Auch Robert will sein Stück vom Kuchen. Warum alles den gewissenlosen Spekulanten überlassen? Warum nicht auch Handel treiben? Warum nicht ein paar gewonnene Informationen nutzbringend verwenden? Warum nicht selbst ein Nummernkonto (Kennwort: »Angela«) in der Schweiz eröffnen? Doch ganz so einfach ist es nicht. Die Schweine bleiben lieber unter sich, tun alles, um ihren exklusiven Club zu schützen: Attentate, Bestechung, Autobomben. Kein Wunder, wenn ob dieser Schlechtigkeit irgendwann das gebrochene Herz stehen bleibt. Einfach so.

R Alfred Vohrer B Manfred Purzer V Johannes Mario Simmel K Petrus Schloemp M Erich Ferstl A Max Dietl S Ingeborg Taschner P Luggi Waldleitner D Maurice Ronet, Marthe Keller, Karin Dor, Raymond Pellegrin, Charlotte Kerr | BRD & F | 105 min | 1:1,66 | f | 20. November 1974

# 858 | 16. April 2014

Nuits rouges (Georges Franju, 1974)

Der Mann ohne Gesicht

Spielt »Nuits rouges« in einer unwahrscheinlichen Gegenwart oder in einer allgegenwärtigen Vergangenheit? Handelt es sich um einen entrückten Thriller oder um einen thrilleresken Alptraum? Nach einem Drehbuch des Feuillade-Enkels Jacques Champreux erzählt Georges Franju die wüste Geschichte eines skrupellosen Mannes ohne Gesicht, der, unterstützt von einer schönen Frau ohne Namen und einer Armee lobotomierter Sklaven, dem legendären Schatz der Templer nachjagt. Es ist die bedingungslose Lust an einem ebenso naiven wie überfeinerten Kino, an zugleich schlichten und rätselhaften Bilder, an kindischen Maskenspielen und kultivierten Mystifikationen, die die Macher umtreibt. »Nuits rouges«, die kondensiert-sprunghafte Spielfilmfassung eines Fernsehfeuilletons, ist anachronistischer Pulp, surreale Poesie, respektvolle Parodie auf »Fantômas« und seine Freunde: auf Dr. Mabuse, auf rote Teufel, auf reitende Leichen. Franju schließt das dunkle Mittelalter kurz mit der pittoresken Welt des Fotografen Atget und mit dem Zeitalter ferngelenkter Autos, stupider Videospiele, omnipräsenter Überwachung. Ein rechtschaffen verrückter Chirurg und ein gnadenlos schusseliger Detektiv, radioaktiv aufgeladenes Gold und vermummte Zombiekiller, Fehden rivalisierender Geheimbünde im Untergrund und tödliche Scharmützel auf nächtlichen Dachlandschaften – »Nuits rouges« nimmt dies alles wichtig und nichts davon ernst.

R Georges Franju B Jacques Champreux K Guido Bertoni M diverse A Robert Luchaire S Gilbert Natot P Raymond Froment D Jacques Champreux, Gayle Hunnicutt, Gert Fröbe, Josephine Chaplin, Ugo Pagliai | F & I | 105 min | 1:1,66 | f | 20. November 1974

# 1029 | 9. Oktober 2016