30.10.69

Skřivánci na niti (Jiří Menzel, 1969/1990)

Lerchen am Faden

Zu Beginn der 1950er Jahre – der Stalinismus hat die östliche Hälfte der ideologisch geteilten Welt fest im Griff – schuften klassenfeindliche Elemente (männliche und weibliche Delinquenten streng getrennt) auf dem Schrottplatz eines tschechischen Hüttenwerks, um (aus Schreibmaschinen und Kruzifixen, Lokomotiven und Gitterbetten) Rohstoff für die volkseigene Stahlproduktion zu gewinnen: hier (u. a.) ein Philosophieprofessor und ein Saxophonist (dekadentes Instrument!), ein Staatsanwalt und ein junger Koch (der aus religiösen Gründen die samstägliche Arbeit verweigert), dort eine Gruppe von Frauen (die allesamt beim Versuch, das Arbeiterparadies unerlaubt zu verlassen, hopsgenommen wurden), dazwischen ein sanftmütiger Wachmann (der seine liebe Not mit der frisch angetrauten Gattin hat) sowie ein mopsiger Apparatschik (der privat einer Leidenschaft für das Abseifen heranwachsender Mädchen frönt). Jiří Menzel inszeniert (einmal mehr nach einer Geschichte von Bohumil Hrabal) kein hartes Drama der Unterdrückung, sondern ein kleines Welttheater der Anpassung und des Ungehorsams, der Kontrolle und des Eigensinns, ein menschenfreundlich-märchenhaftes Gesellschaftsstück voller tragikomischer Zwischentöne und ironischer Anspielungen (der kirmeshafte Werksbesuch eines senilen Ministers, ein nelkendekorierter Propagandadreh der staatlichen Wochenschau), ein sanftes Hohelied der Liebe, die noch im grauesten Grau der volksdemokratischen Gegebenheiten erglimmt.

R Jiří Menzel B Jiří Menzel, Bohumil Hrabal V Bohumil Hrabal K Jaromír Šofr M Jiří Šust A Oldřich Bosák Ko Dagmar Krausová S Jiřina Lukešová P Pavel Juráček, Jaroslav Kučera D Václav Neckář, Jitka Zelenohorská, Vlastimil Brodský, Rudolf Hrušínský, Jaroslav Satoranský | CS | 94 min | 1:1,66 | f | 30. Oktober 1969 (Fertigstellung) / 16. Februar 1990 (Uraufführung)

# 1179 | 3. Oktober 2019

14.10.69

La caduta degli dei (Luchino Visconti, 1969)

Die Verdammten

Deutschland – ein Nazimärchen, eine Götterdämmerung, eine Seifenoper (sehr, sehr teure Seife). Die von Essenbecks (≈ die Krupp von Bohlen und Halbachs) auf dem Weg in die Hölle; die Öfen des Ruhrgebiets als funkensprühende Vorboten der Öfen von Auschwitz – Stahl und Rauch: die Elemente des Bösen. Luchino Viscontis schrill-melodramatischer »Verfall einer Familie« handelt von Raffgier, Geltungsdrang und Machtmißbrauch unter (einfluß-)reichen Leuten, vom inzestuös-verbrecherischen Lustprinzip, das dem (groß-)bürgerlichen Arbeitsethos genealogisch auf dem Fuße folgt. Das beeindruckende internationale Ensemble – Berger, Bogarde, Griem, Kolldehoff, Orsini, Rampling, Thulin, Schönhals – zelebriert die Selbstauslöschung einer Sippe, einer Nation, einer Kultur im Zeichen des Faschismus als bavaesk illuminierten Spukhaus-Horror, als faustdick aufgetragene Verwesungstravestie. Maurice Jarres (selbst-)parodistisch plärrender, stampfender Epos-Soundtrack, die stochernden, rührenden Zooms der ruhelosen Kamera erscheinen als kinematographische Entsprechung der dargestellten gesellschaftlichen Dekadenzerscheinungen. Mag der historisch-analytische Mehrwert des fiebrig-exaltierten Films auch zweifelhaft bleiben, gerade wegen der bewußten gestalterischen Ver- und Überzeichnungen verdient »La caduta degli dei« Beachtung – und ist dabei so unterhaltsam wie eine gute (oder auch schlechte) Kolportage. 

 
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Luchino Visconti B Luchino Visconti, Nicola Badalucco, Enrico Medioli K Pasqualino De Santis, Armando Nannuzzi M Maurice Jarre A Vincenzo Del Prato S Ruggero Mastroianni P Ever Haggiag, Alfred Levy D Ingrid Thulin, Dirk Bogarde, Helmut Berger, Charlotte Rampling, Helmut Griem | I & BRD | 156 min | 1:1,66 | f | 14. Oktober 1969

8.10.69

Katzelmacher (Rainer Werner Fassbinder, 1969)

»Was man macht, ist immer eine Schwierigkeit.« Ein radikales Meisterwerk, so radikal, wie es wohl nur einer unter 30 hinbekommt. Rainer Werner Fassbinders »Comédie humaine« in anderthalb Stunden: zwölf Personen, sieben Frauen und fünf Männer, in wechselnden Konstellationen, in denen der/die Einzelne nie alleine, aber immer einsam bleibt. 107 statische Einstellungen, das Objektiv stets frontal auf die Szenen gerichtet: Totalen oder Halbnahe von Menschen in kargen Wohnungen, in kargen Wirtschaften, in einem kargen Hinterhof, dem archetypischen öffentlichen Raum; dazwischen eingestreut: sieben Rückfahrten der Kamera, alle am selben Ort im selben Tempo gedreht, alle Spaziergänge von sprechenden Paaren zeigend. »Du bist komisch, ich bin normal.« – »Dann leck mich am Arsch.« Die (bundesdeutsche) Gesellschaft in der Nußschale: Einsamkeit und Ressentiment, Erwartung und Mißgunst, Bedürfnis und Demütigung, Gefühl und Besitzdenken. Verhandelt wird dies in einer Sprache, die so künstlich ist, daß sie vollkommen natürlich klingt: »Eine Liebe und so, das hat immer mit Geld was zum tun.« Einer, der von außen kommt, ein »Griech von Griechenland« (Fassbinder als »Katzelmacher« Jorgos), bringt vorübergehend Bewegung in die erstarrten Verhältnisse: »Auf einmal alle machen bumm-bumm.« Die Entladung der aufgestauten sozialen Energie in Form einer kurzen rassistischen Prügelorgie führt unweigerlich zurück in die alte Ordnung und ihre bohrende Unzufriedenheit – doch auch so etwas wie eine Ahnung keimt auf: Es wird plötzlich denkbar, daß es anderswo anders sein könnte. »Ein Mensch braucht halt eine Zeit, bis er was versteht.«

R Rainer Werner Fassbinder B Rainer Werner Fassbinder V Rainer Werner Fassbinder K Dietrich Lohmann M Peer Raben A Rainer Werner Fassbinder S Franz Walsch (= Rainer Werner Fassbinder) P Peer Raben D Hanna Schygulla, Hans Hirschmüller, Irm Hermann, Lilith Ungerer, Rainer Werner Fassbinder | BRD | 88 min | 1:1,37 | sw | 8. Oktober 1969

# 891 | 30. Juni 2014

2.10.69

Herzblatt oder Wie sag ich’s meiner Tochter? (Alfred Vohrer, 1969)

»Bitte sprechen Sie mir nach: Geschlechtsverkehr.« Im Spannungsfeld von Käte Strobels offiziösem Informationsknaller »Helga«, Oswald Kolles Liebeswundern und der nahenden Welle pseudodokumentarischer Report-Streifen versucht Alfred Vohrer eine parodistische Betrachtung der sexuellen Aufklärung und ihrer filmischen Ausgeburten. Die hinlänglich amüsante (dabei latent inzestuöse) Münchner Geschichte des unschuldig-offenherzigen (bzw. -blusigen) Schulmädchens ›Herzblatt‹ (Mascha Gonska) und ihres alleinerziehend-überforderten Vaters ›Männchen‹ (Georg Thomalla) thematisiert bestenfalls oberflächenphänomenologisch, dabei allemal pubertär-herrenwitzelnd Verklemmungen und Sprachlosigkeiten, Betretenheiten und Übersprungshandlungen auf dem Weg zum heißersehnten, allerfüllenden, erdbebenartigen Liebeserlebnis: »Wo immer du hinsiehst, alles strömt zueinander, alles fließt ineinander. Das Geschlechtliche ist eine Notwendigkeit.«

R Alfred Vohrer B Ernst Flügel (= Manfred Purzer) K Ernst W. Kalinke M Hans-Martin Majewski A Wolf Englert, Margret Finger S Susanne Paschen P Luggi Waldleitner D Georg Thomalla, Mascha Gonska, Siegfried Schürenberg, Paul Esser, Günther Lüders, Olga von Togni | BRD | 84 min | 1:1,66 | f | 2. Oktober 1969

# 1135 | 27. Oktober 2018