25.9.63

L’aîné des Ferchaux (Jean-Pierre Melville, 1963)

Die Millionen eines Gehetzten

Es gebe drei Sorten von Menschen, behauptet Dieudonné Ferchaux (Charles Vanel): Leoparden, Schafe und Schakale. Der reiche Pariser Geschäftsmann (der wegen Ermittlungen in einer uralten Mordsache überstürzt in Richtung Amerika – und seiner dortigen Bankguthaben – abreist) läßt keinen Zweifel daran, zu welcher Gruppe er sich zählt. Doch was für einer ist der ehemalige Fallschirmspringer Michel Maudet (Jean-Paul Belmondo), der (nach einer glücklos beendeten Boxkarriere) als Sekretär und Begleiter des knorrigen alten Herrn anheuert? Zwar geht es in Jean-Pierre Melvilles Adaption eines Romans von Georges Simenon auch um (viel) Geld und die damit verbundenen Begehrlichkeiten, doch mehr als die kriminalistischen Aspekte des Stoffes interessieren den Regisseur die spannungsvolle intergenerationelle Beziehung zwischen den beiden Protagonisten, deren Kräfteverhältnis sich im Laufe ihrer Bekanntschaft peu à peu verschiebt, sowie die Entdeckungen, Zwischenfälle, Begegnungen am Wegesrand der Reise, die von New York entlang der Appalachen ins schwüle New Orleans führt: das Geburtshaus von Frank Sinatra, eine beiläufige Kneipenschlägerei, der Auftritt (und Abgang) einer kessen Anhalterin. So verbindet Melville gleichsam en passant mood piece, road movie und love story zur Geschichte einer (doppelten) Desillusionierung.

R Jean-Pierre Melville B Jean-Pierre Melville V Georges Simenon K Henri Decaë M Georges Delerue A Daniel Guéret S Monique Bonnot P Charles Lumbroso D Jean-Paul Belmondo, Charles Vanel, Todd Martin, Michèle Mercier, Stefania Sandrelli | F & I | 105 min | 1:2,35 | f | 25. September 1963

# 1129 | 23. Juni 2018

À toi de faire … mignonne (Bernard Borderie, 1963)

Zum Nachtisch blaue Bohnen

Ein genialer New Yorker Professor, der an der Entwicklung eines festen Treibstoffs arbeitet, wird aus seinem Laboratorium entführt. Lemmy Constantine (Eddie Caution), seinerseits stimuliert von großen Mengen flüssigen Treibstoffs, nimmt die Fährte des Verschleppten auf und reist nach Paris, wo er von diversen zwielichtigen Gestalten (darunter drei außerordentlich kratzbürstigen jungen Damen) in eine seiner üblichen Beat-’em-up-Affären verwickelt wird: Männer fliegen gegen Wände, eine Villa in die Luft, die Miezen auf Lemmy. Der unzerstörbare Lakoniker mit der gußeisernen Leber zitiert zu (fast) jedem Faustschlag (mehr oder weniger passend) Konfuzius und entlarvt das Kidnapping des Experten schlußendlich als (un-)wissenschaftliches Abzockmanöver. Bernard Borderies schlanke Inszenierung verwirrt nicht durch künstlerische Inspiration; lediglich der in einer Camembert-Käserei ausgetragene Prügel-Showdown von »À toi de faire … mignonne« läuft – als Action-Paraphrase slapstickhafter Stummfilm-Tortenschlachten – zu anarchisch-absurder Hochform auf.

R Bernard Borderie B Bernard Borderie, Marc-Gilbert Sauvajon V Peter Cheyney K Henri Persin M Paul Misraki A René Moulaert S Christian Gaudin P Raymond Borderie D Eddie Constantine, Philippe Lemaire, Gaia Germani, Christiane Minazzoli, Guy Delorme | F & I | 93 min | 1:2,35 | sw | 25. September 1963

23.9.63

Tystnaden (Ingmar Bergman, 1963)

Das Schweigen

»Nitsel stantnjon palik.« Eine fremde Stadt, eine unverständliche Sprache, drückende Hitze, drohender Krieg. Die Schwestern Ester (Ingrid Thulin) und Anna (Gunnel Lindblom) sowie Annas Sohn Johan (Jörgen Lindström) verbringen auf der Durchreise (Woher kommen sie? Wohin gehen sie?) einen Tag und eine Nacht in einem labyrinthischen Hotel, das von Ferne an den luxuriösen Palast aus »L’année dernière à Marienbad« erinnert. Die beiden ungleichen Frauen – die eine blond, die andere brünett, die eine lebensgefährlich erkrankt, die andere krankhaft lebendig – fechten symbolisch den (so permanenten wie nutzlosen) Kampf widerstreitender Lebensprinzipien aus: Kontrolliertheit vs. Freiheitsdrang, Intellektualität vs. Sinnlichkeit, Liebe vs. Haß. (Daß ihr Vater (ein Mensch voller Euphorie, wie es heißt) verstorben ist, mag eine schlichte biographische Tatsache sein, vielleicht ist es auch von metaphysischer Bedeutung.) Während Kampfflugzeuge über die Dächer der fremden Stadt Timoka donnern und Panzer durch die Straßen rollen, während sich seine Mutter lustvoll-heulend einem anonymen Liebhaber hingibt (»Es ist so schön, daß wir einander nicht verstehen.«), während die kluge Tante säuft und masturbiert und lautlos-schreiend zu ersticken droht, streift der Junge durch die Korridore des Hotels, trifft auf einen greisen Etagenkellner, der Fotos toter Verwandter herzeigt, und auf eine Truppe spanischer Liliputaner, die rätselhafte Späße mit ihm treiben … Die Zeit vergeht vernehmlich tickend, Einsamkeit und Unbehaustheit, Verständnislosigkeit und tiefe menschliche Not sind die Parameter des Alptraums, dessen zuckende Irrlichter Ingmar Bergman auf die Leinwand wirft. In dieser Atmosphäre unentrinnbarer Angst konstatiert Ester: »Dies ist nun die Ewigkeit.« Doch sie notiert zugleich – als könnte dies ein erster Schritt auf dem Weg zur Erlösung sein – für ihren Neffen die wenigen Wörter in der fremden Sprache, deren Bedeutung sie während des Aufenthaltes entschlüsseln konnte. »Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.« (Hebräer 13,14) – Timoka, so scheint es, ist eine der vielen schrecklichen Transitstationen auf dem trostlosen Weg nach Hause. PS: ›Kasi‹ bedeutet übrigens ›Hand‹ in der fremden Sprache, und ›kaigo‹ heißt ›Gesicht‹.

R Ingmar Bergman B Ingmar Bergman K Sven Nykvist M Ivan Renliden A P. A. Lundgren S Ulla Ryghe P Allan Ekelund D Ingrid Thulin, Gunnel Lindblom, Birger Malmsten, Håkan Jahnberg, Jörgen Lindström | S | 96 min | 1:1,37 | sw | 23. September 1963

20.9.63

Scotland Yard jagt Dr. Mabuse (Paul May, 1963)

Nach der erfrischend respektlosen Remake-Travestie »Das Testament des Dr. Mabuse« (er)schlägt Produzent Artur Brauner zwei Fliegen mit einer Klappe, indem er den unsterblichen Super-Verbrecher in einen (ziemlich banalen) Reißer aus der Feder seines Hausautoren Bryan Edgar Wallace versetzt. Kinematographische Gesellschaftskritik war in den Mabuse-Filmen längst nicht mehr im Spiel, doch mit dem holprigen Crossover aus elektronischer Gedankenkontrolle, seniler Allmachtsphantasie und konventionellem Postraub erreicht die Reihe einen eklatanten Tiefpunkt. Das triste Einerlei aus einfallsarmem Buch (Ladislas Fodor) und lustloser Inszenierung (Paul ›08/15‹ May), aus gelangweiltem Spiel und fader Fotografie durchbricht gelegentlich Agnes Windeck (als kriminalistisch instinktsichere Mutter des ermittelnden Geheimdienstmannes Peter van Eyck) mit der outrierten Zelebrierung jenes Humors, den deutsche Filmschaffende, warum auch immer, für britisch halten.

R Paul May B Ladislas Fodor V Bryan Edgar Wallace, Norbert Jacques K Nenad Jovicic M Rolf Wilhelm A Hanns H. Kuhnert S Walter Wischniewsky P Artur Brauner D Peter van Eyck, Dieter Borsche, Walter Rilla, Werner Peters, Klaus Kinski, Agnes Windeck | BRD | 90 min | 1:1,37 | sw | 20. September 1963

# 860 | 8. Mai 2014

Pasazerka (Andrzej Munk, 1963)

Die Passagierin

Fragmentarisches Holocaust-Drama und letztes Werk des während der Dreharbeiten tödlich verunglückten Wajda-Weggenossen Andrzej Munk: Die frühere Auschwitz-Aufseherin Lisa sieht Jahre nach dem Krieg (während einer Schiffsreise) einer Frau in die Augen, die große Ähnlichkeit mit der von ihr totgeglaubten polnischen Gefangenen Marta hat. Der Schock der Wiederbegegnung mit dem einstigen Opfer setzt bei der damaligen Täterin eine Gewissenserforschung in Gang, die ein komplexes Beziehungsgespinst aus Mitleid und Arroganz, Begehren und Verweigerung, Abhängigkeit und Stolz beleuchtet. Der halbfertige Film wurde nach dem Ableben des Regisseurs mittels Standfotos und Off-Kommentaren bewußt provisorisch vollendet – wobei die Notlösung zum plausiblen Kunstgriff wird: In einer assoziativ-sprunghaften Abfolge von düsteren Impressionen, die sich um handelsübliche Dramaturgie (= Sinnzusammenhänge) nicht schert, findet »Pasazerka« zum Alptraum des Holocaust eine (wenn auch ursprünglich nicht intendierte) nachdrücklich-irrationale Entsprechung.

R Andrzej Munk, Witold Lesiewicz B Andrzej Munk, Zofia Posmysz V Zofia Posmysz K Krzysztof Winiewicz M Tadeusz Baird A Tadeusz Wybult S Zofia Dwornik P Wilhelm Hollender D Aleksandra Slaska, Anna Ciepielewska, Janusz Bylczynski, Krzesislawa Dubielówna, Anna Golebiowska | PL | 62 min | 1:1,66 | sw | 20. September 1963

13.9.63

Das indische Tuch (Alfred Vohrer, 1963)

Edgar Wallace bittet zehn kleine Negerlein zur geschlossenen Gesellschaft: Nach dem gewaltsamen Tod des Familienoberhauptes reist die liebe Verwandtschaft zur Testamentseröffnung aufs Stammschloß, um dortselbst zu erfahren, daß erst dann geerbt wird, wenn es alle Hinterbliebenen eine Woche lang miteinander ausgehalten haben … Wie zu erwarten, stirbt einer nach dem anderen (per Würgetuch), wobei – mangels gelungener Typisierung der Opfer – schon bald das Interesse an Fortgang und Auflösung des bühnenhaft-mörderischen Geschehens erlischt. Einzig Elisabeth Flickenschildt und Hans Clarin (als gebieterische Übermutter und wahnsinnig begnadeter Sohn) entwickeln aus der ödipalen Konstellation ihrer Rollen so etwas wie Charakter, während der Rest der Truppe (unter anderem Arent, Berber, Drache, Kinski, Schürenberg) inklusive Regisseur Alfred Vohrer serienmäßiges business as usual betreibt.

R Alfred Vohrer B Georg Hurdalek, Harald G. Petersson V Edgar Wallace K Karl Löb M Peter Thomas A Wilhelm Vorweg, Walter Kurz S Hermann Haller P Horst Wendlandt D Heinz Drache, Elisabeth Flickenschildt, Eddi Arent, Hans Clarin, Klaus Kinski | BRD | 86 min | 1:2,35 | sw | 13. September 1963

3.9.63

The Servant (Joseph Losey, 1963)

Der Diener 

Der reiche Schnösel Tony (James Fox) bezieht ein Haus in schicker Londoner Gegend und engagiert den Diener Barrett (Dirk Bogarde) zur persönlichen Rundumversorgung: »I need everything«, gibt der junge Herr dem dienstbaren Geist im Einstellungsgespräch offenherzig zu verstehen – wobei schon in dieser ersten Szene des Films die Frage im Raum steht, wer sich hier eigentlich wen aussucht. Mit formvollendeter Servilität und ausgekochter Resolutheit – sowie unter wohlbedachtem Einsatz des triebhaft-erbötigen Flittchens Vera (Sarah Miles) – übernimmt der Untergebene peu à peu das Regiment im Heim und im Leben des Hausherrn. Tonys mißtrauische (= eifersüchtige) Verlobte Susan (Wendy Craig), von Barrett souverän ins Aus manövriert, stellt ihm die entscheidende Frage: »What do you want from this house?« Die heimtückisch-devote Antwort: »I'm the servant, Miss.« … Zuvörderst läßt sich »The Servant« als Allegorie des Klassenkampfes lesen: Tony als Symbol der dekadenten upper crust, Barrett als Personifikation der dynamischen Unterschicht. Jenseits gesellschaftswissenschaftlicher Veranschaulichung setzen Regisseur Joseph Losey und Drehbuchautor Harold Pinter zudem ein ironisch-ausgeklügeltes Machtspiel in Szene, ein explosiv-doppelbödiges Beziehungsballett um Dominanz und Unterwerfung. Dann ist da die boshaft-klaustrophobische Travestie einer Ehegeschichte: Tony und Barrett als Paar, das sich gesucht und gefunden hat, das sich bis zur letzten Konsequenz pervers-perfekt ergänzt. Und schließlich läuft ein tiefenscharf-neoexpressionistischer (Kamera: Douglas Slocombe) Psycho-Horror-Streifen ab: Barrett als Vampir, der sich von Tonys Lebensenergie nährt, der ihn aussaugt, bis lediglich die leere Hülle bleibt, die der feine Pinkel von vorneherein nur war.

R Joseph Losey B Harold Pinter V Robin Maugham K Douglas Slocombe M John Dankworth A Richard Macdonald S Reginald Mills P Joseph Losey, Norman Priggen D Dirk Bogarde, James Fox, Sarah Miles, Wendy Craig | UK | 112 min | 1:1,66 | sw | 3. September 1963

2.9.63

I basilischi (Lina Wertmüller, 1963)

Die Basilisken 

Mittagessen. Eine Familie schlürft wortlos die Suppe in sich hinein. Dann legt man sich hin. Schläft. Schnarcht. So wie es alle tun in der kleinen süditalienischen Stadt. Morpheus sollte zum Schutzheiligen des Ortes ernannt werden, meint eine weibliche Stimme gleich zu Beginn des Films aus dem Off. Zu sagen, es passiere nicht viel in dem abgelegenen Kaff, wäre eine Übertreibung. Es passiert nichts. Gar nichts. Antonio, Francesco und Sergio, junge Männer ohne Eigenschaften, ohne Interessen, ohne Ziele geraten in den Fokus der Wahrnehmung; ihre Spaziergänge, ihre Langeweile, ihr endloses Geschwätz bilden so etwas wie den Drehpunkt von Lina Wertmüllers beiläufigen Szenen aus dem Leben der Provinz. Die drei streifen umher, setzen Mädchen nach, lassen es aber auch gleich wieder sein, wenn es zu kompliziert wird, haben vage Ideen, wie ihr Leben zu verändern, zu verbessern wäre, doch beim kleinsten Widerstand geben sie auf, fallen zurück in dösige Passivität. Ein Ausbruch, selbst wenn er gewagt wird, endet unvermeidbar am Ausgangspunkt … Mit sicherem Zugriff auf die monotone Wirklichkeit des Hinterlandes verbeugt sich Wertmüller vor ihrem Lehrmeister Fellini (ohne ihn zu imitieren), Gianni Di Venanzos unbestechliches Kameraauge beobachtet Erschöpfung und Ödnis mit dokumentarischer Poesie (eher im Sinne von Rosi als von Antonioni), Ennio Morricone legt einen bittersüß-mokanten Soundtrack darunter (oder darauf). »I basilischi« zeigt das tranige Treiben ohne Dünkel, ohne Mißbilligung, ohne Urteil, erforscht die Sackgasse(n) des Lebens mit ironischer Präzision, mit kritischer Zuneigung, mit heiterem Pessimismus: Alles dreht sich im Kreis. Vermutlich für immer.

R Lina Wertmüller B Lina Wertmüller K Gianni Di Venanzo M Ennio Morricone A Antonio Visone S Ruggero Mastroianni P Luigi Giacosi D Toni Petruzzi, Stefano Satta Flores, Sergio Ferranino, Flora Carabella, Luigi Barbieri | I | 85 min | 1:1,66 | sw | 2. September 1963