15.5.60

L’avventura (Michelangelo Antonioni, 1960)

Die mit der Liebe spielen

»Perché ... perché ... perché ... perché?!« Eine Studie über Verlorensein und Verschwinden, über das (sich und anderen) Abhandenkommen. Anna (Lea Massari), eine kapriziöse Angehörige der römischen Oberschicht, und Sandro (Gabriele Ferzetti), ein Architekt, der seine künstlerischen Ambitionen zugunsten lukrativer Beraterjobs aufgegeben hat, sind kein besonders glückliches Paar. Zusammen mit Annas Freundin Claudia (Monica Vitti) und einer Clique reicher Müßiggänger unternehmen sie eine Kreuzfahrt zu den Äolischen Inseln – dargeboten als visuell eindrucksvolle Sinfonie aus aufgewühltem Meer, weitgespanntem Himmel, schroffem Fels. Bei einem Landgang geraten Anna und Sandro in Streit. Kurz darauf ist sie fort, bleibt unauffindbar. Ist Anna durch Unfall oder Selbstmord zu Tode gekommen? Hat sie sich auf einem Fischerboot in Richtung Sizilien abgesetzt? Michelangelo Antonioni gibt auf diese Fragen keine Antwort. Sandro und Claudia gehen, bald zusammen, bald getrennt, bald wieder gemeinsam, auf die Suche nach der Verschwundenen, folgen zweifelhaften Spuren, vagen Hinweisen, doch das Abenteuer der Nachforschung weicht dem Abenteuer einer sich unversehens entwickelnden Liebesbeziehung. Anna gerät aus dem Fokus des neuen Paares, rückt aus dem Mittelpunkt der Erzählung, wird vom Film, dessen Protagonistin sie war, gleichsam vergessen. Ein existentialistischer Thriller ohne Suspense, ein ungerührtes Drama von Menschen, die so sind, wie sie sind, weil die Welt (zumal die technisch radikal veränderte) so ist, wie sie ist (oder umgekehrt). In dieser Welt bleibt ein Geheimnis ein Geheimnis, hier erweisen sich antiquierte moralische Vorstellungen als ebenso nutzlos wie Fluchtversuche (in hektische Betriebsamkeit, in luxuriöse Passivität, in mechanischen Erotismus), die immer wieder in die Isolation, in den Widerspruch, in die Unsicherheit führen.

R Michelangelo Antonioni B Michelangelo Antonioni, Tonino Guerra, Elio Bartolini K Aldo Scavarda M Giovanni Fusco A Piero Poletto S Eraldo Da Roma P Amato Pennasilico D Monica Vitti, Gabriele Ferzetti, Lea Massari, Esmeralda Ruspoli, James Addams | I & F | 144 min | 1:1,85 | sw | 15. Mai 1960

# 1154 | 10. April 2019

8.5.60

Leute mit Flügeln (Konrad Wolf, 1960)

Breit angelegte filmische Historienmalerei aus streng parteilicher Sicht: Rückblicke in die Geschichte eines Flugzeugwerkes und seiner Belegschaft von Ende der Weimarer Republik und Machtübergabe an die Nazis, über Spanien- und Weltkrieg, Konzentrationslager und Befreiung, bis hin zum dornigen aber planmäßigen Aufbau des Sozialismus im kleineren aber besseren Teil Deutschlands. Im Mittelpunkt des ideologischen Ringens: der Mensch, genauer gesagt: ein Mensch. Genosse Ludwig Bartuschek (Erwin Geschonneck), Flugmechaniker, Klassenkämpfer, Kommunist mit Leib und (vor allem natürlich) Seele, schreitet durch die Zeiten mit sicherem Schritt und einem festem Ziel vor den Augen: Allen die Welt und jedem der Himmel! Aber Vorsicht: »Wer fliegen will, bevor er gehen gelernt hat, macht ’ne Bruch­landung.« Mit Sinnsprüchen wie aus dem Brigadetagebuch weist der stets aufrechten Held sich und (fast) allen anderen – auch seinem leidenschaftlich-widerspenstigen Sohn Henne (Hilmar Thate), den er einst auf der Flucht vor den Faschisten zurücklassen mußte und später als Flakhelfer wiederfand – den Weg aus Unglück und Ruinen in eine glückliche Zukunft, um schließlich seinen großen Traum emporfliegen zu sehen: Ein real-existierendes Düsenverkehrsflugzeug aus deutsch-demokratischer Produktion erhebt sich majestätisch in die Lüfte. PS: Konrad Wolfs andächtig-hölzernes Epos über »Menschen, die uns Flügel geben« wird schon kurz nach seiner Premiere, wegen der auf höchster politischer Ebene beschlossenen Abwicklung der DDR-Luftfahrtindustrie, im Archiv verschwinden. Wer fliegen will, bevor er gehen gelernt hat …

R Konrad Wolf B Karl Georg Egel, Paul Wiens K Werner Bergmann M Hans-Dieter Hosalla A Gerhard Helwig S Christa Wernicke P Siegfried Nürnberger D Erwin Geschonneck, Wilhelm Koch-Hooge, Hilmar Thate, Franz Kutschera, Rosita Fernandez | DDR | 121 min | 1:1,37 | sw & f | 8. Mai 1960

4.5.60

Neotprawlennoje pismo (Michail Kalatosow, 1960)

Ein Brief, der nicht abging 

Der Mensch und die Natur – eine elementare Untersuchung … Drei Geologen und ihr Führer suchen in Sibirien nach Diamanten. Sie werden fündig. Dann brennt der Wald. Dann bricht eine Sintflut herein. Dann kommt der Winter. Der Schnee. Das Eis … Noch stärker als im Vorgängerfilm »Letjat schurawli« gerät die Handlung aus dem Fokus von Michail Kalatosows Interesse. Das erste Bild, gesehen aus einem sich entfernenden Helikopter, rückt die Proportionen zurecht: Vier Menschen stehen im flachen Uferwasser eines Flusses, winken zum Abschied, werden immer kleiner, bis sie nur noch winzige Punkte in überwältigender Landschaft sind. Auch wenn die expressive Kamera (wiederum brillant: Sergei Urussewski) die Protagonisten immer wieder in Nah- und Nächstaufnahme betrachtet, auch wenn (Inter-)Aktionen Rückschlüsse auf charakterliche Eigenschaften zulassen, bleibt die Psychologie der Figuren ohne Relevanz. Die Natur kümmert sich schließlich auch nicht darum. Was zählt, ist die physische Fähigkeit, dem Ansturm der Elemente zu trotzen. Wasser, Erde, Feuer und Luft sind die wahren Akteure des Films. So wie die Natur den Menschen zum (überraschend widerstandsfähigen aber letztlich hilflosen) Spielball ihrer Gewalten macht, reduziert »Neotprawlennoje pismo« die Figuren auf Anschauungsobjekte im Rahmen einer (visuell überwältigenden) Forschungsreise durch das Wirken ungezähmter Kräfte. Das Schlußbild des Films wiederholt bilanzierend den Anfang: Der Letzte der vier, die aufgebrochen sind, liegt wie tot auf einer Eisscholle; über ihm kreist ein Rettungshubschrauber – und wieder entfernt sich die Kamera, bis das menschliche Treiben zum Nichts in immenser Weite schwindet.

R Michail Kalatosow B Waleri Ossipow, Grigori Koltunow, Wiktor Rosow V Waleri Ossipow K Sergei Urussewski M Nikolai Krjukow A David Winitski S N. Anikina P Mosfilm D Tatjana Samoilowa, Jewgeni Urbanski, Innokenti Smoktunowski, Wassili Liwanow, Galina Koschakina | SU | 97 min | 1:1,37 | sw | 4. Mai 1960