23.2.67

Nihon shunka-ko (Nagisa Oshima, 1967)

Über japanische Lieder der Unzucht

Vier Studienanwärter träumen und singen (ausführlich) von Sex. Nagisa Oshimas spröde-surreale Improvisation – eine Art musikalisches Lehrstück ohne Lehre – mischt Realität, Phantasien und die Nachinszenierung von Phantasien in der Realität. (Der nicht gezeigte) Sex erscheint gleichermaßen als Flucht aus und Widerstand gegen eine graue Wirklichkeit, die von politischer Naivität, latenter Gewalt, enttäuschten Hoffnungen und allgemeiner Gleichgültigkeit beherrscht wird. Leider hat letztere auch das filmische Regiment übernommen – so mäandert »Nihon shunka-ko« formal apart aber gedanklich ziemlich indifferent vor sich hin.

R Nagisa Oshima B Nagisa Oshima, Mamoru Sasaki, Toshio Tajima, Takeshi Tamura K Akira Takada M Hikaru Hayashi A Jusho Toda S Keiichi Uraoka P Masayuki Nakajima D Ichiro Araki, Juzo Itami, Koji Iwabuchi, Akiko Koyama, Kazuyoshi Kushida | JP | 103 min | 1:2,35 | f | 23. Februar 1967

22.2.67

Le voleur (Louis Malle, 1967)

Der Dieb von Paris 

Georges Randal (Jean-Paul Belmondo) ist ein Dieb. Er nimmt keine großen Rücksichten, wenn er auf Beutezug geht: »Je fais un sale métier, mais j’ai une excuse. Je le fait salement.« Nach dem Tod der Eltern von seinem habsüchtig-philiströsen Onkel ums Erbe und, schlimmer noch, um die Liebe zur entzückenden Cousine Charlotte (Geneviève Bujold) gebracht, entdeckt Georges seine kriminelle Berufung – und die Lust, die Autonomie, die nackte Wahrheit, die sie ihm bringt. Louis Malle erzählt den pikaresken Belle-Époque-Roman ganz aus der Perspektive der Hauptfigur, verzichtet dabei auf die emotionalisierende Beigabe von Musik, senkt die äußere Dramatik auf ein beinahe bressonsches Minimum, meidet jede Form von Robin-Hood-Romantik: Georges stiehlt nicht, um die sozialen Verhältnisse zu verändern, er stiehlt, weil er lebt, wenn er stiehlt. Seine Arbeit erledigt er diszipliniert, planvoll, zielstrebig, mit elementarer Begierde nach fremdem Geld und Gut, mit lässiger Verachtung für das Eigentum an sich. Der Dieb ein Anarchist? Eher ein radikaler Individualist – aber auch ein Schatten des Bourgeois. Tragische Ironie: Die Gesellschaft der Diebe erscheint als seitenverkehrtes Ebenbild der bürgerlichen Welt. Oder wie es Georges’ Lehrmeister, der weltkluge Abbé La Margelle (Julien Guiomar), poetisch ausdrückt: »Le voleur est le clair de lune de l’honnête homme.«

R Louis Malle B Jean-Claude Carrière, Louis Malle, Daniel Boulanger V Georges Darien K Henri Decaë A Jacques Saulnier S Henri Lanoë P Hubert Mérial D Jean-Paul Belmondo, Geneviève Bujold, Jean Guimoar, Marie Dubois, Paul Le Person | F & I | 120 min | 1:1,66 | f | 22. Februar 1967

A ciascuno il suo (Elio Petri, 1967)

Zwei Särge auf Bestellung

Perlende Klavierläufe, unterlegt von sehnsüchtigen Streichern. Langsam schwebt die Kamera über einen majestätischen Bergfelsen hinunter auf ein pittoreskes Städtchen am blauen Meer. Eine mächtige Kirche, enge Gassen, alte Häuser mit undurchdringlichen Fassaden. Die Musik verdunkelt sich. Der Postbote überbringt dem Apotheker Manno einen anonymen Brief – es ist schon die sechste Todesdrohung an den notorischen Schürzenjäger. Am nächsten Morgen wird der Weiberheld zusammen mit einem Begleiter, dem Arzt Dr. Roscio, auf der Geflügeljagd erschossen. Ein sizilianischer Ehrenmord? Professore Laurana (Gian Maria Volonté) will daran nicht glauben, beginnt auf eigene Faust zu ermitteln. Elio Petri nimmt die Nachforschungen des eigenbrötlerischen Linksintellektuellen zum Anlaß, das detailfreudig-gallige Bild einer versteinerten, mafiotisch-inzestuösen Gesellschaft zu entwerfen, in der noch »auf die alte Art« getötet wird: »A ciascuno il suo« – jedem das Seine. Im zwielichtigen Mittelpunkt der Affäre stehen ein geschäftstüchtig-öliger Rechtsanwalt (Gabriele Ferzetti) und dessen Cousine, die von Laurana still verehrte, herb-sinnliche Arztwitwe Luisa (Irene Papas). Politisches und Privates verschwimmen, und mit jedem Schritt zur Aufklärung nähert sich der blinde Ermittler seinem eigenen Grab. »Era un cretino«, wird es, nicht zu Unrecht, am Ende über den professore heißen, wenn sich, zur karnevalesken Travestie der Anfangsklänge, die Einwohner des Städtchens vor der Kirche versammeln, um ein großes Familienfest zu feiern.

R Elio Petri B Elio Petri, Ugo Pirro V Leonardo Sciascia K Luigi Kuveiller M Luis Bakalov A Sergio Canevari S Ruggero Mastroianni P Giuseppe Zaccariello D Gian Maria Volonté, Irene Papas, Gabriele Ferzetti, Mario Scaccia, Leopoldo Trieste | I | 90 min | 1:1,85 | f | 22. Februar 1967

7.2.67

Katz und Maus (Hansjürgen Pohland, 1967)

Zwei Jahrzehnte nach Kriegsende reist Pilenz (Wolfgang Neuss) in seine Heimatstadt Danzig, nunmehr Gdańsk, um sich auf die Spuren des Schulkameraden Joachim Mahlke zu begeben. Mahlke, ein distanzierter Sonderling mit sportlichem Ehrgeiz, leidet unter einem übergroßen Adamsapfel, den er durch allerlei Zierat zu kaschieren sucht: Schraubenzieher, Wollbommeln, Ritterkreuze. Pilenz denkt zurück an die Zeit Anfang der vierziger Jahre, an sommerliche Schwimmausflüge mit der Clique, hinaus zum Wrack eines polnischen Minensuchers, wo Mahlke nach Schrott und Krempel tauchte, denkt an die Ansprachen ordensgeschmückter Offiziere in der Schulaula, die Mahlkes Appetit auf das »Bonbon« anregten … Hansjürgen Pohlands Adaption der Novelle von Günter Grass überblendet satirisch soldatische Ideale und eine zwanghafte Persönlichkeitsstörung, ignoriert dabei die Konventionen des historischen Ausstattungskinos, arbeitet mit swingenden Jazz und skizzenhaften Bildern, holt die Vergangenheit in die Gegenwart der Rahmenhandlung: Pilenz befindet sich als Erwachsener mitten unter den Freunden von damals, die Stadt von heute wird zur Stadt von einst – ein überzeugender Distanzierungseffekt, der Erinnerung als Form von Fiktion ausweist (allerdings durch surrealistische Mätzchen mit lebensgroßen Puppen und ausgestopften Katzen etwas verunklart wird). Als Glücksgriff erweist sich die Besetzung der Willy-Brandt-Söhne Lars und Peter (als jüngerer und älterer Mahlke), deren eckiges Spiel der ratlos zwischen Ruhmsucht und Verweigerung driftenden Hauptfigur witzig-spröde Glaubwürdigkeit verleiht.

Katz und Maus | R Hansjürgen Pohland B Hansjürgen Pohland V Günter Grass K Wolf Wirth M Attila Zoller A Jerzy Szeski S Christa Pohland P Hansjürgen Pohland D Lars Brandt, Peter Brandt, Wolfgang Neuss, Claudia Bremer, Herbert Weißbach | BRD | 89 min | 1:1,37 | sw | 7. Februar 1967

# 925 | 12. Dezember 2014

6.2.67

Accident (Joseph Losey, 1967)

Accident – Zwischenfall in Oxford

Ein Sonntagnachmittag im Garten. Es ist Sommer. Die Sonne scheint. Rosalind macht ein Nickerchen, Stephen jätet Unkraut, Anna flicht einen Kranz aus Gänseblümchen, Charley erklärt William, wie einfach es ist, einen Roman zu schreiben: »Child’s play. All you need is a starting point. Here for instance.« – »Where?« – »Here, on this lawn. What are we all up to?« Rosalind (Vivien Merchant) ist hochschwanger, ihr introvertierter Ehemann Stephen (Dirk Bogarde), Dozent in Oxford, lechzt nach seiner attraktiven Studentin Anna (Jacqueline Sassard), die mit ihrem blaublütigen Kommilitonen William (Michael York) zusammen ist und mit Stephens großspurigem Kollegen Charley (Stanley Baker) ins Bett geht … Die Emotionen, die dieser spannungsreichen Konstellation innewohnen, werden fast vollständig kaschiert vom jederzeit angemesenen Verhalten der wohlerzogenen Beteiligten, sind zwischen den Zeilen der herausfordernd belanglosen Konversationen (Drehbuch: Harold Pinter) lediglich zu erahnen, entladen sich jedoch schließlich im titelgebenden Unfall, der per se nichts weiter ist als einer der vielen scheinbar zufälligen Umstände, der vermeintlich unbedeutenden Momente, die sich, von Joseph Losey demaskierend präzise inszeniert, in »Accident« zur elliptischen Erzählung reihen. »Philosophy«, erläutert Stephen in einer Tutorenstunde, »is a proces of inquiry only. It doesn’t attempt to find specific answers to specific questions.« Losey und Pinter tun im Grunde nichts anderes: Sie untersuchen an ihren Studienobjekten Phänomene wie Verlangen und Frustration, Ehrgeiz und Entwürdigung, Contenance und Grausamkeit – daß dabei das (nicht gänzlich unironische) Portrait einer Gesellschaft von (hochkultivierten) Zombies entsteht, ist wohl so wenig akzidentiell wie der Crash, mit dem der Film beginnt und endet.

R Joseph Losey B Harold Pinter V Nicholas Mosley K Gerry Fisher M John Dankworth A Carmen Dillon S Reginald Beck P Joseph Losey, Norman Priggen D Dirk Bogarde, Stanley Baker, Jacqueline Sassard, Michael York, Vivien Merchant, Delphine Seyrig | UK | 105 min | 1:1,85 | f | 6. Februar 1967