21.12.62

Le procès (Orson Welles, 1962)

Der Prozeß

»What’s the charge?« Josef K. (getrieben: Anthony Perkins) wird nicht erfahren, wessen er angeklagt ist, nicht von den undurchschaubaren Bürokraten, die ihn eines Morgens verhaften (ohne ihn in Gewahrsam zu nehmen), nicht von der Zimmernachbarin (die ihn geradeso anlockt wie abweist), nicht von dem (einigermaßen nichtstuerischen) Anwalt, den er konsultiert, nicht von dessen (ziemlich ausgeschlafener) Zugeherin, nicht von dem Maler, der die (ansonsten unsichtbaren) Richter abkonterfeit, nicht vom Priester (der in düsteren Gleichnissen spricht), nicht von den Schergen, die das (nie gefällte) Urteil vollstrecken ... Protokollierte Franz Kafka die unaufhaltsame Deformation des Lebens durch eine unfaßliche höhere Gewalt in beamtenhaft nüchterner Sprache, greift Orson Welles, dem das Übermaß immer näher war als die Mäßigung, zu betont drastischen Mitteln der Fallbeschreibung: seine Adaption des Jahrhundertromans (»It’s been said that the logic of this story is the logic of a dream … a nightmare.«) ergeht sich in expressiven Cadragen, komplexen Plansequenzen, harten Schwarzweiß-Kontrasten, in schnellen Wechseln zwischen leeren Plätzen und überfüllten Räumen, gigantischen Sälen und engen Verschlägen, abgeblättertem Belle-Époque-Prunk und betonierter Neubautristesse. Welles’ modernistisch-barocke Paranoia-Farce (»Accused men are attractive.«) zeigt einen (≈ den) Menschen im Würgegriff einer fremden Zerstörungsmacht, die paradoxerweise zugleich ein menschengemachter Schrecken ist, so als kehrte sich das Innere nach außen und zielte tödlich auf sich selbst – schuldig, auf einer Unschuld zu beharren, die es nicht gibt, verliert sich K. (≈ jedermann) in einem selbsterrichteten Labyrinth.

R Orson Welles B Orson Welles V Franz Kafka K Edmond Richard M Jean Ledrut, Tommaso Albinoni A Jean Mandaroux S Yvonne Martin P Alexandre Salkind, Michel Salkind D Anthony Perkins, Romy Schneider, Jeanne Moreau, Akim Tamiroff, Orson Welles | F & I & BRD | 118 min | 1:1,66 | sw | 21. Dezember 1962

# 1104 | 5. März 2018

14.12.62

Schneewittchen und die sieben Gaukler (Kurt Hoffmann, 1962)

Abgesehen von einer adrett choreographierten Shopping-Nummer im Zürcher Warenhaus Jelmoli (»Dankeschön.« – »Gern gescheh’n.« – »Wiederseh’n.«) ganz zu Anfang des Stücks ist dieses sogenannte ›Frostical‹ (es geht um die wundersame Rettung eines abgewirtschafteten Schweizer Berghotels durch eine bessere Klempnerin und einen Trupp Zirkusartisten) kaum mehr als ein dürftiges Schlagerfilmchen und (leider) ein witzlos-kalter Tiefpunkt im Werk des ansonsten recht wackeren Kurt Hoffmann: Caterina Valentes Auftritte ohne Verve, Günter Neumanns Texte ohne Esprit, Sven Nykvists Alpen-Bilder ohne Vision.

R Kurt Hoffmann B Günter Neumann K Sven Nykvist M Heino Gaze A Otto Pischinger, Herta Hareither S Hermann Haller P Heinz Angermeyer, Lazar Wechsler D Caterina Valente, Walter Giller, Ernst Waldow, Georg Thomalla, Hanne Wieder | BRD & CH | 116 min | 1:1,66 | f | 14. Dezember 1962

13.12.62

Le doulos (Jean-Pierre Melville, 1962)

Der Teufel mit der weißen Weste

»Il faut choisir. Mourir … ou mentir?« Jean-Pierre Melvilles resignative Studie über Vertrauen und Zweifel gleicht einem Melodram unter Gangstern: Silien (Jean-Paul Belmondo), der Clever-Zwielichtige, und Faugel (Serge Reggiani), der Einfältig-Mißtrauische, diese beiden, die sich tief im Herzen wirklich mögen, können zusammen nicht kommen – immerhin ist die Dramaturgie so gnädig, sie am Schluß miteinander zu vereinen … Die schwarzweißen Bilder, in die Nicolas Hayer (der schon Clouzots »Le corbeau« und Cocteaus »Orphée« fotografierte) diese nächtliche Erzählung vom Lügen und Sterben faßt, sind bald klar und kontrastreich, ganz ohne Zwischentöne, gerade so als wären Hell und Dunkel, Gut und Böse tatsächlich zu unterscheiden, bald wieder verschwimmen sie grau in grau, als wollten sie die Ambivalenz der diffusen Charaktere bezeugen. Gewißheit, so stellt es sich dar, ist nur im Tod zu erlangen, und die Wahrheit wurde unter einer Gaslaterne in der Vorstadt vergraben. Melville erzeugt Spannung, indem er sich wie ein Verdächtiger bei der Polizei verhält und wichtige Informationen manipulativ verschweigt; formal scheint er (noch) ganz seinen Vorbildern verpflichtet zu sein: dem galligen Tonfall des amerikanischen film noir und dem romantischen Fatalismus des französischen Vorkriegsfilms – »Le doulos« bildet gleichsam die Rampe zu den eisigen Meisterwerken seiner kommenden blaugrauen Periode.

R Jean-Pierre Melville B Jean-Pierre Melville V Pierre Lesou K Nicolas Hayer M Paul Misraki A Daniel Guéret S Monique Bonnot P Georges de Beauregard, Carlo Ponti D Jean-Paul Belmondo, Serge Reggiani, Jean Desailly, Michel Piccoli, Fabienne Dali | F & I | 108 min | 1:1,66 | sw | 13. Dezember 1962

21.11.62

It’s Only Money (Frank Tashlin, 1962)

Geld spielt keine Rolle 

Kurz vor dem ersten Todestag des Elektronik-Tycoons Charles P. Albright (»referred to as the ›father of television‹«) ist dessen vor 25 Jahren verlorengegangener Sohn noch immer abhanden. Es bleibt nur mehr eine Woche, um dem Erben des riesigen Vermögens auf die Spur zu kommen, bevor das Geld an die Schwester des Verewigten (Mae »Boop-Oop-a-Doop« Questel) fällt, die eine Belohnung von 100.000 Dollar für die Auffindung ihres Neffen ausgesetzt hat ... Lester March (Jerry Lewis), ehemaliger Waisenhauszögling, Technikfreak, Betreiber eines Fernsehreperaturdienstes (Nachtigall, man hört dich trapsen) – und: begeisterter Leser von Kriminalromanen (»Kiss the Blood Off My Neck«, »The Case of the Homicidal Homing Pigeon«, »Death Takes a Coffee Break«) – macht sich als Assistent eines Privatdetektivs auf die Jagd nach dem Gesuchten. Frank Tashlin schickt dem unbedarft-entschlossenen Amateurermittler einen geldgierigen Anwalt (oberschurkisch: Zachary Scott), einen mordlustigen Butler (»president of the Peter Lorre fan club«: Jack Weston), eine Armada von automatischen Rasenmähern sowie eine liebende Krankenschwester (blond: Joan O’Brien) in die Quere, und würzt die, von W. Wallace Kelley in kristallklarem Schwarzweiß fotografierte, aberwitzige Noirpersiflage mit ingeniösen Bilderfindungen. Einen skurrilen Glanzpunkt tashlinesker Komik bildet (neben der Visualisierung eines stereophonischen Eisenbahngeräuschs) jene Szene, in der Lester das Gemälde des vollbärtigen Patriarchen Albright rasiert, um zu beweisen, daß er selbst kein anderer als der vermißte Abkömmling ist: »Try ›Junior‹. I like that.«

R Frank Tashlin B John Fenton Murray K W. Wallace Kelley M Walter Scharf A Hal Pereira, Tambi Larsen S Arthur P. Schmidt P Paul Jones D Jerry Lewis, Zachary Scott, Mae Questel, Joan O’Brien, Jack Weston | USA | 83 min | 1:1,85 | sw | 21. November 1962

# | 8. September 2017

26.10.62

What Ever Happended to Baby Jane? (Robert Aldrich, 1962)

Was geschah wirklich mit Baby Jane?

Unsere Leichen leben noch: Bette Davis und Joan Crawford, deren Pfirsichblüte gefühlte 100.000 Flaschen Champagner (bzw. Pepsi Cola) zurückliegt, in einer vulgär-expressionistischen Showbiz-Horror-Burleske. Robert Aldrich exemplifiziert an der Geschichte zweier alt gewordener Ex-Stars, der in verzehrendem Haß miteinander verschraubten Hudson-Schwestern – Baby Jane (das kindisch-blonde Gift) und Blanche (die brünette (nicht ganz so unschuldige) Unschuld) –, Oscar Levants Schmähruf auf die Traumfabrik: »Behind the phony tinsel of Hollywood lies the real tinsel.« Während Baby Jane, umfangen von Schall und Wahn (vor allem Wahn) des längst vergangenen Ruhms, in den Ruinen ihrer glänzenden Vergangenheit lebt, sitzt die einst schönere und begabtere Blanche, der psychotischen Schwester hilflos ausgeliefert, gelähmt im Rollstuhl (und muß sich auch schon mal eine gebratene Ratte servieren lassen). In einer grauenhaft komischen Sado-Maso-Geisterbahnfahrt durch Schuld, Lebenslügen und (Zicken-)Terror werden die offenen Rechnungen des blutsverwandten Alptraumpaares immer wieder neu beglichen.

R Robert Aldrich B Lukas Heller V Henry Farrell K Ernest Haller M Frank De Vol A William Glasgow S Michael Luciano P Robert Aldrich D Bette Davis, Joan Crawford, Victor Buono, Wesley Addy, Maidie Norman | USA | 134 min | 1:1,85 | sw | 26. Oktober 1962

25.10.62

Das zweite Gleis (Joachim Kunert, 1962)

Ein kleines Nest irgendwo in der DDR: Walter Brock (Albert Hetterle), Fahrdienstleiter auf einem Rangierbahnhof, stellt einen Dieb, läßt ihn jedoch laufen, weil es sich bei dem Mann (wie sich zeigen wird) um ein Gespenst aus seiner Vergangenheit handelt. Mit den Augen von Brocks Tochter Vera (Annekathrin Bürger) bewegt sich der Film gleichsam durch den dichten Dampf der Lokomotiven und über das Gewirr der Gleise, um Licht ins Dunkel einer trüben (Familien-)Geschichte zu bringen (Drehbuch: Günter Kunert – der Lyriker). In wohlkomponierten, extrem kontrastreichen Schwarzweißbildern (Kamera: Rolf Sohre), zu bald verträumt, bald schrill tönenden Harfenklängen erzählt »Das zweite Gleis« einprägsam-beklemmend von Schuld und Verdrängung, von Vertrauen und Täuschung, von Feigheit und (zu) später Reue.

R Joachim Kunert B Günter Kunert, Joachim Kunert K Rolf Sohre M Pavel Simai A Gerhard Helwig S Christel Röhl P Bernhard Gelbe D Albert Hetterle, Annekathrin Bürger, Horst Jonischkan, Walter Richter-Reinick, Helga Göring | DDR | 80 min | 1:1,37 | sw | 25. Oktober 1962

24.10.62

The Manchurian Candidate (John Frankenheimer, 1962)

Botschafter der Angst

Herrlich kaltschnäuzige Mischung aus Paranoia-Thriller und Politsatire – in puncto spöttisch-surrealer Bösartigkeit wird nur Stanley Kubricks Nuklearfarce »Dr. Strangelove« Vergleichbares bieten. Selten wurde der US-Staats- und Medienzirkus gnadenloser vorgeführt, selten wurden das Thema »american angst« raffinierter verhandelt als in John Frankenheimers Story eines von den Kommunisten gehirngewaschenen All-american-Schläfers (Laurence Harvey), der den Präsidentschaftskandidaten abknallen soll. Dank Angela Lansburys lustvoll-monströser Matronen-Performance entwickelt sich »The Manchurian Candidate« zudem (neben Alfred Hitchcocks »Psycho«) zu einem der ganz großen Mutter-Horror-Filme: »You know that I want nothing for myself. You know that my whole life has been devoted to helping you ...« – »Mother, stop it!«

R John Frankenheimer B George Axelrod V Richard Condon K Lionel Lindon M David Amram A Richard Sylbert S Ferris Webster P John Frankenheimer, George Axelrod D Frank Sinatra, Laurence Harvey, Janet Leigh, Angela Lansbury, Henry Silva | USA | 126 min | 1:1,85 | sw | 24. Oktober 1962

5.10.62

Dr. No (Terence Young, 1962)

James Bond 007 jagt Dr. No

Mit schmalem Budget liefert »Dr. No« die Blaupause für das jahrzehntelang gültige, ebenso einfache wie effektive Konstruktionsprinzip ›Bond‹: Der Protagonist, attraktive Verkörperung des Guten, ausgestattet mit allen inneren und äußeren Freiheiten, insbesondere jener, töten zu dürfen, wann immer es ihm beliebt, tritt an gegen das fleischgewordene Böse, will sagen: gegen die Negation der Freiheit – und triumphiert: Der ›Eros des Westens‹ (des Individualismus, der Liberalität, des Versprechens auf Glück) siegt über den ›Geist, der stets verneint‹. Orte des Geschehens sind ein holzgetäfeltes Amtszimmer in London (als Ausgangspunkt der gefährlichen Exkursion und allzeit sicherer Hafen) sowie diverse fotogene Weltgegenden und alarmierend extravagante Interieurs; Frauen (= girls) zeigen sich (freizügig) von ihrer appetitlichen und willigen Seite; die Erzählung verarbeitet allerkleinste Fetzen von Realität zu einem überlebensgroßen Sex&Crime-Märchen für Erwachsene. In »Dr. No« (man beachte den schlicht-genialen Rollennamen des Widersachers (und Versuchers), der von Joseph Wiseman mit mabusehafter Dämonie interpretiert wird) spielt Terence Young alle Motive mit leichter Hand durch, läßt jedoch die Entwicklung von Spannung zugunsten einer gewissen, von Ursula Andress inkarnierten, karibischen Lässigkeit in den Hintergrund treten: »Underneath the mango tree / Me honey and me can watch for the moon. / Underneath the mango tree / Me honey and me make boolooloop soon.«

R Terence Young B Richard Maibaum, Johanna Herwood, Berkely Mather V Ian Fleming K Ted Moore M Monty Norman A Ken Adam S Peter Hunt P Albert R. Broccoli, Harry Saltzman D Sean Connery, Ursula Andress, Joseph Wiseman, Anthony Dawson, Bernard Lee | UK | 110 min | 1:1,85 | f | 5. Oktober 1962

28.9.62

Das Gasthaus an der Themse (Alfred Vohrer, 1962)

»Von abends bis morgens / geschieht so mancherlei.« Ein geheimnisvoller Taucher (genannt »der Hai«) treibt in London sein harpunierendes Unwesen. Der schwarze Gummimann dezimiert vor allem die eigenen Leute, bis seine biedere Identität von ›Blacky‹ Fuchsberger (diesmal als Beamter der Flußpolizei) mehr oder weniger überraschend enthüllt wird. Der eigentlich Fall (einerseits Juwelen, andererseits Erbschleicherei) bleibt so undurchdringlich wie der wabernde Bühnennebel; wie häufig bei Edgar Wallace lauert hinter den schaubudenhaften Gruseleffekten eine (von Alfred Vohrer wohlig-flackernd illuminierte) Familienintrige Dickensschen Ausmaßes. Neben Klaus Kinski (als vermeintlicher russischer Gewürzhändler) und Jan Hendriks (als pokergesichtiger Ausputzer) schillert die majestätische Elisabeth Flickenschildt. Daß sich die markante Gründgens-Partnerin einmal als singende Schmuggel-Wirtin einer Kaschemme an der Themse würde verdingen müssen, konnte der »Führer« seinerzeit nicht ahnen, als er den Namen der Mimin (völlig zu recht) auf die Gottbegnadeten-Liste setzte.

R Alfred Vohrer B Trygve Larsen (= Egon Eis), Harald G. Petersson V Edgar Wallace K Karl Löb M Martin Böttcher A Mathias Matthies, Ellen Schmidt S Carl Otto Bartning P Horst Wendlandt D Joachim Fuchsberger, Brigitte Grothum, Richard Münch, Jan Hendriks, Elisabeth Flickenschildt | BRD | 92 min | 1:1,66 | sw | 28. September 1962

27.9.62

… und deine Liebe auch (Frank Vogel, 1962)

»Der Wind auf der Warschauer Brücke, / das Licht und der weiße Rauch … / Weißt du, die brauch' ich zum Leben / … und deine Liebe auch.« Der Mauerbau als Riß durch die Geschichte, die Stadt, die Gefühle – aber auch als Schlußstrich, als Aufbruchsignal: »Irgendwo muß eine Grenze sein.« Ostberlin, 1961: Klaus (Ulrich Thein) fährt Taxi im Westen und lebt gut vom »Schwindelkurs«, sein Nenn-Bruder Ulli (Armin Mueller-Stahl) arbeitet als Elektriker bei Narva und schützt als Kampfgruppenmann die Sicherung der Staatsgrenze am 13. August. Zwischen den Männern steht außer der Politik auch die Postbotin Eva (Kati Székely), die sich erst vom viril-klassenfeindlichen Klaus schwängern läßt, um dann doch ihre Zuneigung zum sensibel-sozialistischen Ulli zu entdecken … Frank Vogels Film erscheint so gespalten wie das Land, in dem er spielt: Während der Gedankenstrom der hochtönenden Off-Kommentare (Drehbuch: Paul Wiens) die Errichtung des »antifaschistischen Schutzwalls« propagandistisch rechtfertigt, bleiben die dokumentarischen Bilder (Kamera: Günter Ost) ganz dicht am Puls der Zeit, tasten beweglich die urbane Topographie ab, blicken vorübereilenden Menschen neugierig in die Gesichter, fixieren beiläufig den historischen Moment, atmen die Luft, den Dunst, die Stimmung des Schauplatzes – Entschlossenheit und Tristesse, Lyrik und Agitation, cinéma vérité … et mensonge.

R Frank Vogel B Paul Wiens K Günter Ost M Hans-Dieter Hosalla A Werner Zieschang S Ella Ensink P Hans-Joachim Funk D Armin Mueller-Stahl, Ulrich Thein, Kati Székely, Marita Böhme, Alfonso Arau | DDR | 92 min | 1:1,37 | sw | 27. September 1962

21.9.62

Thérèse Desqueyroux (Georges Franju, 1962)

Die Tat der Therese D.

»Pure, je l’étais. Un ange, oui. Mais un ange plein de passion.« Thérèse (verzweifelt-schön: Emmanuelle Riva), aus gutem Hause stammend, durch eine arrangierte Ehe mit dem wohlhabenden Waldbesitzer Bernard Desqueyroux (mopsig-blasiert: Philippe Noiret) verbunden, sucht der seelischen und geistigen Bedrängnis ihres provinziellen Wohlstandskerkers unter den stumm ragenden Kiefern der Landes de Gascogne zu entkommen, indem sie ihren hypochondrischen Gatten schleichend mit Arsen vergiftet. Das Mordvorhaben scheitert, doch der gute Name und die Ehre der Familie verbieten es, die Schuldige (die sich in einer Folge von Rückblenden über die Beweggründe ihrer Tat befragt) juristisch zur Rechenschaft zu ziehen. Georges Franjus Verfilmung des Romans von François Mauriac, von Christian Matras in elegischem Schwarzweiß fotografiert, macht Enge und Erstarrung der besitzbürgerlichen Welt, die nur Regeln und Rollen, weder Neugier noch Ungewißheit kennt, einer Welt, in der »être soi-même« ein unbotmäßiger Anspruch ist, auf beklemmende Weise spürbar. Die Kirchentür, die vor der Hochzeit zugeschlagen wird, eine Taube, die hilflos im Fangnetz flattert, die fehlenden Bilder im Fotoalbum, sie sprechen von einem Leben, das (nicht nur manchmal) dem Tode gleicht. Warum sie es getan habe, will Bernard (der sich der Motive für sein Handeln stets gewiß ist) am Ende ihres gemeinsamen Weges von Thérèse erfahren. Um wenigstens für einen Augenblick, antwortet sie nach kurzem Zögern, den Ausdruck von Unruhe auf seinem Gesicht zu sehen.

R Georges Franju B François Mauriac, Claude Mauriac, Georges Franju V François Mauriac K Christian Matras M Maurice Jarre A Jacques Chalvet S Gilbert Natot P Eugène Lépicier D Emmanuelle Riva, Philippe Noiret, Edith Scob, Sami Frey, Renée Devillers | F | 109 min | 1:1,66 | sw | 21. September 1962

# 1118 | 29. Mai 2018

7.9.62

Das Testament des Dr. Mabuse (Werner Klingler, 1962)

Déjà vu: Der wahnsinnige Dr. Mabuse (Wolfgang Preiss) sitzt in einer Zelle der Nervenklinik von Professor Pohland (Walter Rilla) und notiert seine Pläne zur Herrschaft des Verbrechens. Die kriminellen Projekte werden minutiös ausgeführt – doch von wem? … Mit dem Remake des hellseherischen Fritz-Lang-Klassikers von 1933 läuft Produzent Artur Brauner nach zwei belanglosen Mabuse-Trivialisierungen endlich zu großer kleiner Form auf, indem er Werner Klingler eine ironisch-burleske Pulp-Parodie der meisterhaften Vorlage in Szene setzen läßt: Der Erzhalunke lauert wie eine Spinne in einem Netz aus Schatten; Mortimer (Charles Regnier), der Adlatus des phantomhaften Bösewichts, trägt ein keckes Gaunerhütchen und schmaucht noch im Abnippeln Zigarren erster Sorte; Ganoven heißen (ganz plakativ) Paragraphen-Joe oder Lachgas-Frankie, Kurzschluß-Henry oder Jeton-Eddie (»gespielt« von Rolf Eden); es werden Goldtransporter wie Nilpferde gejagt und Diamanten geräubert, es werden Eisenbahnwaggons entführt und Kommissare lustvoll gefoltert; Gert Fröbe (bauernschlau) und Harald Juhnke (begriffsstutzig) verkörpern die Repräsentanten von Recht und Ordnung, die (ohne sich mit kriminalistischem Ruhm bekleckert zu haben) das Böse schließlich im Sumpf versinken sehen … vorerst, wie man vermuten darf. Anders als das Original will die Neuverfilmung nicht metaphorisch über ihre Zeit sprechen, nicht sinnbildlich die reale Welt reflektieren. »Das Testament des Dr. Mabuse« kreiert bewußt eine parallele Zeit, eine imaginäre Welt – und setzt den zerstörerischen Irrwitz menschlichen Strebens als quatschiges Possenspiel in Szene.

R
Werner Klingler B Ladislas Fodor, Robert A. Stemmle V Norbert Jacques, Thea von Harbou K Albert Benitz M Raimund Rosenberger A Helmut Nentwig, Paul Markwitz S Walter Wischniewsky P Artur Brauner D Gert Fröbe, Wolfgang Preiss, Charles Regnier, Helmut Schmid, Walter Rilla, Senta Berger | BRD & F & I | 88 min | 1:1,66 | sw | 7. September 1962

6.9.62

Cronaca familiare (Valerio Zurlini, 1962)

Tagebuch eines Sünders

Die melodramatische Geschichte eines florentinischen Brüderpaars zwischen zwei Kriegsenden: am Ende des Ersten Weltkriegs ist Enrico acht Jahre alt, und Lorenzo wurde gerade geboren, am Ende des Zweiten Weltkriegs stirbt Lorenzo an einer rätselhaften Krankheit, und Enrico erinnert sich wehmütig an Stationen ihrer ambivalenten Beziehung. Während der Ältere nach dem frühen Tod der Mutter von der liebevollen Großmutter in ärmlichen Verhältnissen großgezogen wird und sein karges Brot späterhin als systemkritischer Journalist in Rom verdient, wächst der Jüngere unter der Obhut des dünkelhaften Butlers eines begüterten Engländers auf, ohne je seinen Platz im Leben zu finden. Valerio Zurlini blendet die konkreten historischen Umstände der Erzählung – faschistische Diktatur und katastrophales Kriegsgeschehen – weitgehend aus, stilisiert die Orte der episodischen Handlung zu bühnenhaften (von Giuseppe Rotunno im Geist der pittura metafisica fotografierten) Szenerien, konzentriert sich auf das gleichermaßen von Distanz, Entfremdung, Zerrissenheit wie von Intimität, Vertrauen, Zärtlichkeit geprägte Verhältnis der Brüder: Enrico (einfühlsam-resignativ: Marcello Mastroianni) und Lorenzo (verzweifelt-optimistisch: Jacques Perrin) scheinen einander in der Begegnung so fern, so nah wie im Getrenntsein.

R Valerio Zurlini B Valerio Zurlini, Mario Missiroli, Vasco Pratolini V Vasco Pratolini K Giuseppe Rotunno M Goffredo Petrassi A Flavio Mogherini S Mario Serandrei P Goffredo Lombardo D Marcello Mastroianni, Jacques Perrin, Sylvie, Salvo Randone | I & F | 113 min | 1:1,85 | f | 6. September 1962

# 1165 | 10. Juli 2019

28.8.62

Vivre sa vie (Jean-Luc Godard, 1962)

Die Geschichte der Nana S. 

Etwa so: Nana (Anna Karina) verläßt Ehemann und Kind. Nana geht anschaffen. Ein Lude nimmt Nana unter seine Fittiche. Nana verliebt sich in einen jungen Mann, der Bücher liest. Es geht böse aus. Oder so: Ein Bistro. Ein Schallplattengeschäft. Ein Hinterhof. Ein Kino. Die Polizei. Ein Bürgersteig. Ein Café. Die Champs-Elysées. Ein Hotelzimmer. Viele Hotelzimmer. Eine Straßenecke in der Banlieu. Oder ganz anders: Ein Kopf im Profil (von links gesehen). Ein Kopf en face. Ein Kopf im Profil (von rechts gesehen). Jean-Luc Godards Film umkreist in zwölf fragmentarischen Kapiteln (zu herzergreifender Musik von Michel Legrand und in monumental-einfachen Bildern von Raoul Coutard) eine Frau, die ihr Leben leben will. Ihr. Leben. Immer wieder gelingt es ihr (kurz), ganz bei sich zu sein, ganz im Moment aufzugehen: Wenn sie Dreyers »La passion de Jeanne d’Arc« auf der Leinwand sieht. Wenn sie in einem Café ein Chanson hört. Wenn sie um einen Billardtisch herumtanzt. Wenn sie mit einem Unbekannten philosophiert (ohne es zu wissen). Wenn sie mit einem jungen Mann Pläne macht. Immer wieder (bis sie tot auf dem Pflaster liegt) fragt sich Nana, ob sie glücklich ist. Die Frage, ob man in dieser Welt des Kaufens und Verkaufens überhaupt glücklich sein kann, läßt »Vivre sa vie« offen. Doch selbst wenn man es sein könnte: »Le bonheur n’est pas gai.«

R Jean-Luc Godard B Jean-Luc Godard K Raoul Coutard M Michel Legrand S Agnès Guillemot P Pierre Braunberger D Anna Karina, Sady Rebbot, Guylaine Schlumberger, Pierre Kassowitz, Brice Parain | F l 80 min | 1:1,37 | sw | 28. August 1962

26.7.62

The Notorious Landlady (Richard Quine, 1962)

Noch Zimmer frei 

Jack Lemmon als amerikanischer Diplomat in London, der bei Kim Novak einzieht, von der er nicht ahnt, daß sie allseits des Gattenmordes verdächtigt wird. Als er es schließlich spitzkriegt, ist es ihm herzlich egal… Fred Astaire spielt den US-Botschafter, der weiß, wie der Hase läuft: »The higher up you go, the more mistakes you’re allowed. Right at the top, if you make enough of them, it’s considered to be your style.« Regisseur Richard Quine und Autor Blake Edwards machen ebenfalls einen Fehler nach dem anderen und daraus so etwas wie ein höheres Prinzip: Der Film ist ein heilloses Durcheinander aus romantic comedy, murder mystery und slapstick, gerade so als hätten Billy Wilder und Miss Jane Marple (ganz à la Queen Mum) eine oder zwei Flaschen Gin in ihren Five O’Clock Tea geschüttet und gemeinsam eine nebulöse Krimiplotte zusammengeschustert, die zwar vorne und (vor allem) hinten nicht stimmt – aber von der Seite betrachtet ganz gut aussieht.

R Richard Quine B Blake Edwards, Larry Gelbart V Margery Sharp K Arthur E. Arling M George Duning A Cary Odell S Charles Nelson P Richard Quine, Fred Kohlmar D Kim Novak, Jack Lemmon, Fred Astaire, Lionel Jeffries, Estelle Winwood | USA | 123 min | 1:1,85 | sw | 26. Juli 1962

7.7.62

Revue um Mitternacht (Gottfried Kolditz, 1962)

Ein Defa-Film im Defa-Film: Produktionsleiter Kruse hat sich verpflichtet, das real-existierende Unterhaltungsbedürfnis der deutsch-demokratischen Arbeiter- und Bauernschaft durch Herstellung einer heiter-schwungvollen Kinorevue zu erfüllen. Weil die dazu nötigen kreativen Mitstreiter (Komponist, Dramaturg, Architekt, Autor) nicht so wollen, wie sie sollen, werden sie kurzerhand entführt und zur künstlerischen Teilnahme verdonnert ... Es scheint, als sei »Revue um Mitternacht« – schön breit und farbenfroh in Totalscope und Agfacolor – auf ebendiese Weise entstanden: So wurde unter der gleichgültigen Regie von Gottfried Kolditz ein wahlloses An-, Nach- und Durcheinander von beliebigen Tanz-, Sing- und Spielszenen zusammengeflickt, das so heiter und schwungvoll daherkommt wie ein bunter Abend bei der Zentralen Parteikontrollkommission. Weder die Melodien des sozialistischen Operettenkönigs Gerd Natschinski (»Messeschlager Gisela«) noch Manfred Krug in der Rolle eines von der leichten Muse geküßten Rohrlegers können helfen, das Plansoll an filmischer Kurzweil zu erfüllen.

R Gottfried Kolditz B Kurt Bortfeldt, Gerhard Bengsch K Erich Gusko M Gerd Natschinski A Alfred Tolle S Hilde Tegener P Erich Kühne D Manfred Krug, Christel Bodenstein, Werner Lierck, Hans Klering, Gerry Wolff | DDR | 104 min | 1:2,35 | f | 7. Juli 1962

# 1030 | 8. November 2016

1.7.62

Otoshiana (Hiroshi Teshigahara, 1962)

Die Fallgrube

Ein Tagelöhner, der auf der Suche nach Arbeit mit seinem kleinen Sohn durch triste, fast menschenleere Landschaften zieht, wird von einem mysteriösen Herrn, der einen weißen Anzug trägt, ohne ersichtlichen Grund erstochen. Der Tote steht auf und versucht als Geist, die Hintergründe seiner Ermordung aufzuklären. Zeugen sagen der Polizei die Unwahrheit über den Hergang des Verbrechens. Doppelgänger treten auf den Plan. Rivalisierende Gewerkschaften scheinen eine Rolle zu spielen... Erzählt Hiroshi Teshigahara eine neoveristische Geistergeschichte? Einen phantastischer Verschwörungsthriller? Oder eine allegorische Gesellschaftsstudie? »Otoshiana« ist eine rätselhafte Etüde über die Farbe Weiß. Eine multiperspektivische Beobachtung der condition humaine. Und eine ergebnislose Sinnsuche – die Antwort des Films auf die Kernfrage »Warum?« lautet, daß alles genau so geschehen ist, wie es geplant war.

R Hiroshi Teshigahara B Kobo Abe K Hiroshi Segawa M Toru Takemitsu A Kiyoshi Awazu S Fusako Shuzui P Tadashi Ono D Hisashi Igawa, Sumie Sasaki, Sen Yano, Hideo Kanze, Kunie Tanaka | JP | 97 min | 1:1,37 | sw | 1. Juli 1962

Kuro no tesuto kaa (Yasuzo Masumura, 1962)

Der schwarze Testwagen

Das titelgebende Fahrzeug ist ein Prototyp des revolutionären Sportwagens ›Pioneer‹, mit dem die ›Tiger Corporation‹ den japanischen Automobilmarkt aufrollen will. Aber die Konkurrenz schläft nicht – und Chefentwickler Onoda (obsessiv: Hideo Takamatsu) sieht sich gezwungen, sein Baby (»Ein Design wie von Michelangelo!«) gegen Kundschafter und Saboteure des rivalisierenden Konzerns ›Yamato‹ zu verteidigen. Dazu sind ihm genau jene Mittel recht, derer sich auch die andere Seite befleißigt: Diebstahl und Erpressung, Spionage und Prostitution – natürlich alles zum Wohle der großen Sache, des Unternehmens, des Erfolges. Yasuzo Masumura erzählt in seinem sardonischen Industriethriller die Geschichte einer déformation professionelle im Turbokapitalismus. Die schwarzweißen Daieiscope-Bilder (Kamera: Yoshihisa Nakagawa) sind so hart wie die herrschenden Verhältnisse. Ethische Bedenken kommen unter die Räder – und wer nicht mitmachen will, wer aussteigt, kann nur noch den entschwindenen Rücklichtern seiner verlorenen Zukunft hinterherschauen.

R Yasuzo Masumura B Kazuro Funabashi, Yoshihiro Ishimatsu V Sueyuki Kajiyama K Yoshihisa Nakagawa M Sei Ikeno S Tatsuji Nakashizu D Jiro Tamiya, Junko Kano, Eiji Funakoshi, Hideo Takamatsu, Ichiro Sugai | JP | 95 min | 1:2,35 | sw | 1. Juli 1962

30.6.62

Die Rote (Helmut Käutner, 1962)

»Wann geht der nächste Zug?« – »Wohin?« – »Irgendwohin.« In Mailand läßt die deutsche Dolmetscherin Franziska (Ruth Leuwerik) ihren schnöseligen Gatten im Café sitzen, später gibt sie telefonisch auch ihrem selbstgefälligen Lover den Laufpaß; sie flüchtet aus einem Leben, das sie plötzlich anekelt, das sie von einem Moment auf den anderen nicht mehr versteht, obwohl sie es doch immer so wollte (oder so zu wollen glaubte) und im Grunde auch genoß … Die Liebesmüde treibt es ins nachsaisonale Venedig, wo sie auf der Suche nach sich selbst erneut zwischen die Männer gerät: Sie begegnet einem elegischen Schriftsteller (Rossano Brazzi), der ihr das Ende der Welt zeigt, einem schwulen Globetrotter (Giorgio Albertazzi), der von alter Schuld verfolgt wird, einem dämonischen Dickwanst (Gert Fröbe), der seine bösen Taten wie eine stolze Trophäe trägt. Helmut Käutners Adaption eines Romans von Alfred Andersch setzt sich mit Aplomb zwischen alle Stühle: Antonioneske Gefühlsleere trifft auf urdeutsche Selbstbespiegelung, pittoresker Neoverismo kollidiert mit kühler Schnulze, gedankenblasse Hochliteratur stößt auf lebendige Kolportage, Vergangenheitsbewältigung steht gegen den Zauber der Morbidezza. »Die Rote« ist ein zugleich epigonales und ganz eigentümliches Werk: Der betont modernistische Stilwillen der Inszenierung wird aufgehoben in den differenzierten Tonlagen des inneren Monologs, der Otello Martellis diffuse Bilder der herbstgrauen, nebeldurchzogenen Lagunenstadt begleitet: Die bald damenhaft-samtige, bald zickig-spitze, mal verunsicherte, mal kategorische, zwischen Dur und Moll irisierende Stimme der Leuwerik macht den Film zum Erlebnis. Überzeugend auch das offene Ende, die Absage an schnelle (Drehbuch-)Lösungen angesichts komplexer Lebensprobleme: Wieder steht Franziska am Schalter eines Bahnhofs, wieder fragt sie: »Wann geht der nächste Zug?«

R Helmut Käutner B Helmut Käutner, Alfred Andersch V Alfred Andersch K Otello Martelli M Emilia Zanetti A Saverio D'Eugenio, Robert Stratil S Klaus Dudenhöfer P Walter Koppel, Carlo Ponti D Ruth Leuwerik, Rossano Brazzi, Giorgio Albertazzi, Gert Fröbe, Harry Meyen | BRD & I | 100 min | 1:1,85 | sw | 30. Juni 1962

22.6.62

Frauenarzt Dr. Sibelius (Rudolf Jugert, 1962)

Dr. Georg Sibelius (Lex Barker) ist ein Arzt, dem die Frauen vertrauen – mit einer Ausnahme: seiner jungen Gattin Elisabeth (Senta Berger). Er bringt Kinder zu Welt, sie kann keine bekommen; er hat einen Beruf, den er liebt, sie hat lediglich ihre Zweifel … »Das Verschweigen« wäre ein guter Titel für Rudolf Jugerts kompromißlos reißbrettartiges Weißkittel-Melodram. Zwar wird viel (sehr viel!) geredet, doch letztlich verdecken die Worte zumeist nur das, was keiner auszusprechen wagt: die Wahrheit über (andere sowie eigene) seelische und körperliche Zustände. Sämtliche Beteiligten spielen einerseits einen phrasenhaft hölzernen Groschenfilm über Eifersucht und Intrige, über Mißverständnis und tödliches Schicksal, andererseits ein grausames Lehrstück über die Angst, das Entscheidende zu verlieren (indem man es benennt), und (daraus folgend oder darauf basierend) über die Unfähigkeit zu (mehr noch: die Verweigerung von) Kommunikation. Zwischenmenschlicher Austausch bleibt stets indirekt, fast alle Zeichen werden falsch interpretiert, niemand sieht oder hört mehr als das, was er (bzw. sie) sehen oder hören will. Kurz vor Schluß dann: ein Kaiserschnitt. Die dramatische Operation scheint den in sich verkapselten Protagonisten endlich den Zugang zu (anderen sowie eigenen) Emotionen zu erschließen – die künstliche Geburt als Metapher potentieller (Selbst-)Befreiung … Ein tief beklemmendes, streckenweise hysterisch verzweifeltes Werk.

R Rudolf Jugert B Janne Furch, Sigmund Bendkower, Artur Brauner K Karl Schröder M Raimund Rosenberger A Paul Markwitz S Walter Wischniewsky P Artur Brauner D Lex Barker, Senta Berger, Barbara Rütting, Sabine Bethmann, Elisabeth Flickenschildt, Harry Meyen | BRD | 98 min | 1:1,66 | sw | 22. Juni 1962

# 777 | 10. Oktober 2013 

Antoine et Colette (L’amour à vingt ans) (François Truffaut, 1962)

Antoine und Colette (Liebe mit zwanzig)

Nachdem sich François Truffaut mit »Les 400 coups« nicht ohne Bitterkeit an der eigenen freudlosen Kindheit abgearbeitet hatte, läßt er (im Rahmen eines internationalen film à sketches) sein zweites Ich Antoine Doinel (Jean-Pierre Léaud) als Hauptfigur einer liebenswürdigen, keineswegs oberflächlichen Etüde zum Thema »L’amour à vingt ans« wiederauferstehen: Antoine, nun 16 Jahre alt, lebt alleine, preßt tagsüber bei Philips Schallplatten, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen; abends besucht er regelmäßig die Konzerte der Jeunesses Musicales, wo er Colette (Marie-France Pisier) begegnet, in die er sich verliebt. Bald schon ist er regelmäßiger (und – für ihn besonders wichtig – gerngesehener) Gast bei ihr zu Hause; sie scheint ihn auch zu mögen, sieht in ihm letztlich aber nicht mehr als einen guten Kumpel … »Antoine et Colette« (der Titel evoziert, sicherlich nicht ganz zufällig, die Erinnerung an Jacques Beckers ausgelassene Pariser Beziehungsfilme »Antoine et Antoinette« und »Edouard et Caroline«) verweigert seinem Protagonisten zwar (ironisch) die Erfüllung der ersten großen Liebe, schenkt ihm aber – auch nicht zu verachten – Selbstwertgefühl und persönliche Freiheit: Wenn Antoine morgens zu den Klängen von Bach und den Zügen der Frühstückszigarette die Fenster seines Hotelzimmers öffnet, liegt ihm die ganze Welt (in Gestalt der belebten place Clichy) zu Füßen. Das einzige Manko dieser frischen, gekonnt aus dem Handgelenk geschüttelten Improvisation ist ihre allzu kurze Laufzeit – Truffaut, der sich hier wohl auf dem Höhepunkt seiner künstlerischen Potenz befindet, hätte mit einem Langfilm über Antoines salade de l’amour möglicherweise sein Meisterwerk gedreht.

R François Truffaut B François Truffaut K Raoul Coutard M Georges Delerue S Claudine Bouché P Pierre Roustang D Jean-Pierre Léaud, Marie-France Pisier, Patrick Auffay, Rosy Varte, François Darbon | F (& I & JP & PL & BRD) | 29 (120) min | 1:2,35 | sw | 22. Juni 1962

19.6.62

Die Tür mit den 7 Schlössern (Alfred Vohrer, 1962)

Hinter den sieben Schlössern des Titels liegt ein alt-adeliges Vermögen, über das sich die raffgierigen Hüter der sieben Schlüssel tödlich zerstreiten. Einmal mehr treibt der Spleen der englischen Aristokratie (und ihrer Dienerschaft) hübsche Blüten, doch in diesem Fall arrangiert Alfred Vohrer die Enthüllung des üblichen Wallaceschen Familiengeheimnisses ohne allzuviel Dramatik. Zu unvermutet schräger Größe erhebt sich allerdings gegen Ende des Schauer- und Schurkenstücks die wissenschaftskritische Nebenhandlung um den Quacksalber Dr. Antonio Staletti (des Wahnsinns fette Beute: Pinkas Braun), der im düsteren Kellergewölbe seines abgelegenen Landsitzes davon träumt, zur Unsterblichkeit vorzustoßen, indem er Menschenköpfe auf zottige Affenkörper verpflanzt. (Ein besonders eindrucksvolles Ergebnis seiner medizinischen Experimente wird von Ady Berber verkörpert.) Die entscheidende Operation verhindert dann – man möchte fast sagen: leider – das Eingreifen der pflichtbewußten polizeilichen Gerechtigkeit.

R Alfred Vohrer B Johannes Kai, Harald G. Petersson V Edgar Wallace K Karl Löb M Peter Thomas A Siegfried Mews, Helmut Nentwig S Carl Otto Bartning P Horst Wendlandt, Jacques Leitienne D Heinz Drache, Sabina Sesselmann, Hans Nielsen, Werner Peters, Pinkas Braun | BRD & F | 95 min | 1:1,66 | sw | 19. Juni 1962

8.6.62

Königskinder (Frank Beyer, 1962)

Es beginnt in den frühen 1930er Jahren in Berlin und endet kurz vor Kriegsende auf einem Flugplatz bei Moskau: Ein aufrechter Kommunist (Armin Mueller-Stahl) und eine Kleinbürgertochter (Annekathrin Bürger), die ihr Leben und Streben später ebenfalls der großen Sache widmet, haben einander so lieb, werden aber von den Zeitläuften immer wieder auseinandergerissen; ein Dritter (Ulrich Thein) steht erst im Abseits, geht dann zur SA, um im entscheidenden Moment seine menschliche (= rote) Seite zu entdecken. Frank Beyers »Königskinder« diffundiert zwischen lyrisch-melodramatischer Ballade und hochmoralisch unterfüttertem Kriegsfilm. Die Bilder (Günter Marczinkowsky) vermeiden dabei jeden Naturalismus zugunsten einer attraktiven, symbolisch-präziösen Zuspitzung. Zwischendurch singen immer mal wieder die Thomaner, um daran zu erinnern, daß das Wasser viel zu tief ist. »Königskinder«: ein formal exquisiter, erzählerisch konsequent linksgestrickter Musterfall von pathetischer Romantik, kämpfender Kunst, einfacher Wahrheit.

R Frank Beyer B Walter Gorrish, Edith Gorrish K Günter Marczinkowsky M Joachim Werzlau A Alfred Hirschmeier S Anneliese Hinze-Sokolowa P Hans Mahlich D Annekathrin Bürger, Armin Mueller-Stahl, Ulrich Thein, Marga Legal, Betty Loewen | DDR | 89 min | 1:1,37 | sw | 8. Juni 1962

7.6.62

Lulu (Rolf Thiele, 1962)

Ehrgeizige Erotikposse (man könnte auch sagen: Sexklamotte ohne Sex) in elaboriertem Stummfilm-Look: Lulu, von Männern gemacht, bringt Männer zur Strecke – »Laß sie nicht entkommen! Du bist der nächste!« –, bis sie schließlich von Jack the Ripper geschlitzt wird. Nadja Tiller in der Titelrolle ist – wie immer bei Rolf Thiele – eher teilnahmslose Projektionsfläche von Begierden denn gestaltende Akteurin. An ihrer Seite: Rudolf Forster als greiser Strippenzieher Schigolch, O. E. Hasse als kultivierter Alphamann Schön, Leon Askin als altersgeiler Fettsack Goll, Mario Adorf als weltläufiger Strizzi Rodrigo, Hilde Knef als melancholische Lesbe Geschwitz, Charles Regnier als Conférencier und Vollstrecker von Lulus Schicksal – alle tanzen sie zur vulgär-dissonanten Jahrmarktsmusik von Carl de Groof. Vielleicht mehr Edgar Wallace als Frank Wedekind – aber vergnüglich allemal.

R Rolf Thiele B Rolf Thiele, Herbert Reinecker V Frank Wedekind K Michel Kelber M Carl de Groof A Fritz Mögle, Heinz Ockermüller S Eleonore Kunze P Otto Dürer D Nadja Tiller, O. E. Hasse, Hildegard Knef, Mario Adorf, Charles Regnier | A | 100 min | 1:1,66 | sw | 7. Juni 1962

6.6.62

Advise & Consent (Otto Preminger, 1962)

Sturm über Washington

»Son, this is a Washington, D.C. kind of lie. It's when the other person knows you're lying, and also knows you know he knows. You follow?« Der Präsident der Vereinigten Staaten (Franchot Tone) nominiert einen neuen Außenminister. Die eigenen Parteifreunde sind wenig begeistert: Robert Leffingwell (Henry Fonda), ein liberaler Intellektueller, gilt als Mann des Ausgleichs, der Entspannung, der Koexistenz. Der Senatsauschuß, der über die Eignung des Kandidaten zu befinden hat, wird zur Kampfzone diametraler Ansichten und Interessen. Otto Preminger ist es in seiner detaillierten Fallstudie weniger um die Inhalte des demokratischen Meinungsstreits zu tun, er untersucht vielmehr die, von menschlichen Befindlichkeiten bestimmte, Funktionsweise staatlicher Organe. Breiten Raum widmet er dabei der Typologie des politischen Personals: da sind der ausgleichende Elder Statesman (Walter Pidgeon), der fickrige Arrivist (George Grizzard), der flamboyante Veteran (Charles Laughton), der ritterliche Dandy (Peter Lawford), die alerte Nachwuchshoffnung (Don Murray) – allesamt verstrickt in ein Netz aus Geheimnissen und Winkelzügen, Absprachen und Erpressungen, Eitelkeit und Ehrgeiz. Premingers Panavision-Blick hinter die Kulissen der Macht zeigt die angespannte Förmlichkeit der Tagungsräume, die drückende Gewitterstimmung der Hinterzimmer (und die danteske Vision einer New Yorker Schwulenbar), untersucht (unter dem Eindruck der kaum abgeklungenen McCarthy-Paranoia) die Wechselbeziehung von Intrige und Integrität, den Zusammenhang von schmutziger Wäsche und schmutzigen Tricks, das Verhältnis von Eigennutz und Vaterlandsliebe: »What I did was for the good of the country.« – »Fortunately, our country always manages to survive patriots like you.«

R Otto Preminger B Wendell Mayes V Allen Drury K Sam Leavitt M Jerry Fielding A Lyle Wheeler S Louis R. Loeffler P Otto Preminger D Walter Pidgeon, Charles Laughton, Don Murray, Henry Fonda, Franchot Tone, Peter Lawford, Gene Tierney | USA | 138 min | 1:2,35 | sw | 6. Juni 1962

# 1081 | 13. Oktober 2017

1.6.62

Die Parallelstraße (Ferdinand Khittl, 1962)

Unter Anleitung und Überwachung eines erbarmungslos-freundlichen Protokollführers (Friedrich Joloff) versuchen fünf Herren, den Sinn und Zusammenhang einer langen Reihe ihnen zur Prüfung und Einordnung vorgelegter (Film-)Dokumente zu entschlüsseln. Ihnen bleibt nur mehr wenig Zeit, und sie sind durch unergiebige Diskussionen über das Gesehene und Gehörte bereits hoffnungslos in Rückstand geraten. Es ist nicht die erste Gruppe, die diese Aufgabe zu bewältigen versucht, und es wird nicht die letzte sein, die daran scheitert. Die Persönlichkeit dessen, der die rätselhaften Unterlagen zusammengetragen hat, liegt dabei ebenso im Dunkeln wie die inhaltliche Zielrichtung des disparaten Materials: Da gibt es die Beschreibung des rückwärts gerichteten Alterungsprozesses eines gewissen Heinrich Himmelreich, Impressionen aus fünf verlassenen Städten, die zu einer einzigen Nekropole des Weltgeistes verschmelzen, Bilder von der New Yorker Börse und vom Overseas Highway, Spekulationen über den Begriff ›Löwenkraft‹ und die Blaue Mauritius, Nacherzählungen historischer Episoden, Fragmente von Feldforschungen aus Südamerika, aus Indochina, aus Ozeanien. Regisseur Ferdinand Khittl – entfernter Vetter von Resnais und Marker, reiselustiger Großonkel von Herzog und Greenaway –, Autor Bodo Blüthner und Kameramann Ronald Martini bieten mit »Die Parallelstraße« zugleich ein lyrisches Labyrinth und einen farbenprächtigen Gedankenfriedhof, eine pseudowissenschaftliche Kartothek und eine kulturkinematographische Wundertüte, einen spöttischen Essay über die Uferlosigkeit von Interpretation, über die Unmöglichkeit, in dieser Welt zu gesicherten Erkenntnissen zu gelangen, und einen Spiel-Film im Wortsinne: ein Spiel mit surrealen Wirklichkeitsverschiebungen und absurden Ordnungsmustern, mit falschen Beweisen und sicherer Todesahnung. »Wir sind in einer lächerlichen Situation. Es kommt mir vor, als würde man jemandem nach dem Weg fragen, und der sagt: ›Gehen Sie immer geradeaus, dann kommen Sie an einen Punkt, da gibt es nur noch zwei Straßen – und davon nehmen Sie die Parallelstraße.‹«

R Ferdinand Khittl B Bodo Blüthner K Ronald Martini M Hans Posegga S Irmgard Henrici P Otto Martini D Friedrich Joloff, Ernst Marbeck, Wilfried Schröpfer, Henry van Lyck, Werner Uschkurat, Herbert Tiede | BRD | 86 min | 1:1,37 | sw & f | 1. Juni 1962

24.5.62

Der rote Rausch (Wolfgang Schleif, 1962)

»Ich bin doch ein Mensch wie sie alle. Ich habe gelebt wie sie alle. Ich habe geredet wie alle. Ich habe gearbeitet wie alle.« Spätherbst. Tiefer Himmel. Flaches Land. Ein See an der Grenze. Aus dem Schilf stolpert ein Mann mit dem angstvollen Blick eines verirrten Kindes (Klaus Kinski). Die Bauern glauben, er komme von drüben. Ein Flüchtling. Ein Verfolgter. Auf dem nahegelegenen Hof gewährt man ihm Obdach. Die Gutstochter (Brigitte Grothum) hat vor Jahren ihren Ehemann an ebenjener Stelle verloren, wo der Fremde auftauchte. Die Hoffnung auf seine Rückkunft hat sie sich nie nehmen lassen. Der Ankömmling ist jedoch kein Heimkehrer sondern ein Entsprungener aus der ›Bewahranstalt für kriminelle Geisteskranke‹, ein liebebedürftiger Frauenwürger, dessen Tötungstrieb von roten Korallenketten ausgelöst wird, ein sanfter Killer, der sich an seine Taten nicht erinnern kann … »Der rote Rausch« verbindet wirksam das dezente Beziehungsdrama zwischen zwei unbehüteten Seelen mit einem expressiver Heimatthriller, der zum Ende – bei einer feurigen Mörderhatz – die Scheidelinie zwischen Mensch und Monster verwischt. Wolfgang Schleif inszeniert Landschaften und Leute mit grauer Poesie; Kinski nutzt seine hochexplosive Kunst mit überraschender Zurückhaltung: Wenn er das Fahndungsplakat mit seinem Konterfei erblickt, wenn er für ein Kind Oscar Wildes Märchen vom selbstsüchtigen Riesen rezitiert, wenn er eine schreiende Frau um Hilfe anfleht – stets ist er das schattenhafte Individuum ohne Ich, ein fassungsloses Wesen, das seine Schuld nicht greifen kann: »Mit diesen Händen habe ich gemordet, sagen sie. Bitte, guck dir diese Hände an. Sag mir, ob das die Hände eines Mörders sind!«

R Wolfgang Schleif B Hellmut Andics V Hans Ulrich Horster (= Eduard Rhein) K Walter Partsch M Hans-Martin Majewski A Theodor Harisch S Paula Dvorak P Ernest Müller D Klaus Kinski, Brigitte Grothum, Sieghardt Rupp, Jochen Brockmann, Dieter Borsche | BRD | 87 min | 1:1,66 | sw | 24. Mai 1962

22.5.62

Das Brot der frühen Jahre (Herbert Vesely, 1962)

Eigentlich ist alles klar: Walter Fendrich, Waschmaschinenmechaniker im Außendienst, immer nett, immer adrett, wird Ulla Wickweber, die attraktive Tochter seines Chefs, heiraten und am einträglichen Familiengeschäft beteiligt werden – Walters weiteres Leben ist praktisch schon gelebt: »Ich sehe mich in diesem Leben herumstehen, ich lächle, rede wie ein Zwillingsbruder, der lächeln und reden würde. Ich kaufe in diesem Leben, verkaufe, halte Kinder im Arm, die meine hätten sein sollen, ich halte Reden auf Betriebsfesten, drücke Hände.« Dann ein kurzer Moment, der alles in Frage stellt, ein alltägliches Ereignis, das alles verändert: Walter soll Hedwig Muller, ein hübsches Fräulein aus seiner Heimatstadt, vom Bahnhof abholen, ein junges Mädchen, das er kannte, als es noch viel jünger war – und Walter wechselt das Gleis, steigt um, vom falschen Leben in eines, das sich richtiger anfühlt. Herbert Veselys Adaption eines Textes von Heinrich Böll erzählt diese Geschichte einer Ein- und Umkehr nicht linear sondern zerfasert, zergliedert, zersprungen; das Thema – der fluchtartige Ausbruch eines Menschen, der immer Hunger litt, aus erbärmlichem Sattsein (≈ Geld) in unabdingbare Freiheit (≈ Brot) – wird in Variationen umkreist, in Reprisen vergegenwärtigt, in (gelegentlich etwas zu aparten) Bild-, Ton- und Gedankensplittern bespiegelt. Das konkrete Umfeld – die Stadt Berlin, ihre Staßen und Häuser, ihre Bahnen und Stationen, ihre Wohnungen und Cafés zwischen zertrümmertem Gestern und kühler Moderne – liefert den abstrakten Background für ein kaleidoskopisch-sprödes Beziehungsdrama, für ein jazzig-grafisches Gesellschaftsstück.

Das Brot der frühen Jahre | R Herbert Vesely B Herbert Vesely, Leo Ti (= Leo Tichat), Heinrich Böll V Heinrich Böll K Wolf Wirth M Attila Zoller S Christa Pohland P Hansjürgen Pohland D Christian Doermer, Vera Tschechowa, Karin Blanguernon, Tilo von Berlepsch | BRD | 88 min | 1: 1,37 | sw | 22. Mai 1962

8.5.62

El ángel exterminador (Luis Buñuel, 1962)

Der Würgeengel

Zwanzig Personen versammeln sich nach einer gemeinsam besuchten Aufführung von »Lucia di Lammermoor« im Haus des honorigen Señor Nobile. Wie auf eine geheime Verabredung hin haben zuvor die Dienstboten das Anwesen in Mexico Citys vornehmer Calle de la Providencia (Straße der (göttlichen) Vorsehung) verlassen; nur der Majordomus ist zurückgeblieben und teilt das Schicksal der Herrschaften, denen es aus unerklärlichen Gründen nicht möglich ist, nach der Soirée den Salon zu verlassen ... Ungeachtet einige Bizarrerien – Hühnerfüße, die aus einer Handtasche gezogen werden, ein junger Bär und eine Schafherde, die sich im Anrichtezimmer tummeln, eine fahle Hand, die aus einem Wandschrank kriecht –, die er in die mysteriöse Fabel einstreut, schildert Luis Buñuel das Geschehen mit fast lakonischem Realismus: Die rätselhafte, sich über Tage hinziehende Gefangenschaft der zunehmend derangierten, an der klaustrophobischen Situation und an sich selbst langsam irre werdenden gut(bürgerlich)en Gesellschaft legt peu à peu die menschlichen Schwächen der Eingeschlossenen bloß: Feigheit und Selbstmitleid, Zanksucht und Heimtücke, Indolenz und Aberglaube. Erst als alle Masken gefallen sind, finden die (überlebenden) Insassen des Salons einen Ausweg. Bis auf weiteres ...

R Luis Buñuel B Luis Buñuel, Luis Alcoriza K Gabriel Figueroa A Jesús Bracho S Carlos Savage P Gustavo Alatriste D Silvia Pinal, Enrique Rambal, Claudio Brook, Lucy Gallardo, Augusto Benedico | MEX | 95 min | 1:1,37 | sw | 8. Mai 1962

# 1027 | 1. Oktober 2016

2.5.62

L’œil du malin (Claude Chabrol, 1962)

Das Auge des Bösen

»Le bonheur est fragile.« Das Glück ist empfindlich, zerbrechlich, vergänglich. Und es ist eine Provokation. Albin Mercier jedenfalls, der mittelmäßige Autor, der (unter dem nom de plume André (!) Mercier) für eine mittelmäßige Pariser Zeitung den Alltag im Nachkriegsdeutschland (»notre ennemi d’hier, notre allié de demain«) feuilletonistisch unter die Lupe nehmen soll, fühlt sich herausgefordert vom Glück, das Andreas (!) und Hélène Hartmann, der deutsche Star-Schriftsteller und seine französische Ehefrau, in ihrer mondänen Villa am Starnberger See leben. Was er eigentlich will, dieser von den Objekten seiner verachtungsvollen Faszination freundlich, ja familiär aufgenommene Eindringling, bleibt ihm (und dem Zuschauer) (trotz gründlicher Selbsterforschung des Protagonisten) letztlich rätselhaft. Will Albin/André die Anerkennung des berühmten Kollegen, die Liebe der attraktiven Frau oder einfach nur die Zerstörung dessen, was er nicht hat, nicht haben kann, weil er zu ungefestigt ist, zu feige, zu indifferent? Claude Chabrol seziert mit eisiger Distanz die Zerstörungskraft der Mißgunst, die Perfidie der Schwäche – und macht gleichzeitig deutlich, daß auch der vermeintlich freieste Geist, der gelassen in seinem Weltwissen ruht, am Ende nichts anderes ist als ein Sklave seiner Affekte. Indem sich »L’œil du malin« formal und erzählerisch konsequent auf die klinisch-unbeteiligte Beobachtung der drei Ver­suchspersonen beschränkt, gelingt eine intensive Studie über Vorstellung und Verstellung, über Enthüllen und Entsetzen.

R Claude Chabrol B Claude Chabrol, Martial Matthieu K Jean Rabier M Pierre Jansen S Jacques Gaillard P Georges de Beauregard, Carlo Ponti D Jacques Charrier, Stéphane Audran, Walter Reyer | F & I | 80 min | 1:1,66 | sw | 2. Mai 1962

12.4.62

L'eclisse (Michelangelo Antonioni, 1962)

Liebe 1962

Ein Film so modern, so endgültig, so unerbittlich schön wie die ›Concorde‹, wie die ›Helvetica‹, wie die Architektur von Brasília ... Eine elegante Wohnung, die Vorhänge geschlossen, vom Luftzug eines Ventilators durchweht. Zwischen Büchern, Antiquitäten, modernen Gemälden: ein Mann und eine Frau, sitzend, starrend, stehend, stöhnend, schweigend, schweigend, schweigend. Das stumme Ende einer Beziehung, die vielleicht einmal eine Liebe war. Als die Gardinen endlich geöffnet werden, sehen die Frau und der Mann hinaus in einen hellgrauen Morgen, auf einen Betonwasserturm, der an einen Atompilz erinnert. Nachdem sich Vittoria (suchend: Monica Vitti) von Riccardo (resigniert: Francisco Rabal) getrennt hat, trifft sie an der römischen Börse, wo ihre Mutter mit kleinen Summen spekuliert, den Broker Piero (quecksilbrig: Alain Delon). Mit bemerkenswerter Eindringlichkeit präsentiert Michelangelo Antonioni die Leidenschaften, von denen das Parkett beherrscht wird, die fieberhafte Extase der Hausse, die blanke Verzweiflung der Baisse, entfesselte Emotionen, die im zwischenmenschlichen Bereich längst nicht mehr möglich scheinen. Für eine gewisse Zeit sind Vittoria und Piero ein Paar. Eines Tages ist es vorbei, ohne Erklärung, einfach so. Die Ecke, an der sie sich immer trafen, bleibt verwaist – aber sie bleibt. Denn der Film macht einfach weiter, auch ohne Vitti und Delon. Steine, Zäune, der Wind im Laub der Bäume, Baustellen, Schatten, eine Regentonne, ein Zebrastreifen, ein Rinnsal, das in einen Gulli fließt, Passanten, Blicke, die quietschenden Reifen eines Busses, glatte Fassaden, spielende Kinder, ein Flugzeug am Himmel, Schritte, Risse im Asphalt, Dunkelheit, Laternen, blendendes Licht – eine siebenminüte Montage als einsamer Höhe- und Schlußpunkt des Erzählkinos.

R Michelangelo Antonioni B Michelangelo Antonioni, Tonino Guerra K Gianni Di Venanzo M Giovanni Fusco A Piero Poletto S Eraldo Da Roma P Raymond Hakim, Robert Hakim D Monica Vitti, Alain Delon, Francisco Rabal, Louis Seigner, Lilla Brignone | I & F | 126 min | 1:1,85 | sw | 12. April 1962

3.4.62

Ihr schönster Tag (Paul Verhoeven, 1962)

Kohlmiefende Berliner Alltagskomödie um ein dominantes Muttertier, das glaubt, Ehemann und Nachwuchs fest im Griff zu haben. Was sich eigentlich in ihrer Familie abspielt, weiß die Glucke nicht, weil sie weder hinschaut noch zuhört. Dabei hält Annie Wiesner (nervraubend: Inge Meysel) große Stücke auf ihre Menschenkenntnis: An den Beinen und am Gang verrate sich die ganze Persönlichkeit – der Ausblick aus ihrer Souterrainwohnung hat Annies Weltsicht geformt. Schließlich wird die Perspektive der selbstgerechten Portiersfrau zurechtgerückt, und sie muß erfahren, daß ihre millionenschwer nach Amerika verheiratete Tochter (Sonja Ziemann) nie getraut wurde, daß ihr süßer Enkel ein Kind der Liebe ist, daß ihr verhalbgötterter Sohn längst nicht mehr Medizin studiert, daß ihr teurer Gatte (Rudolf Platte) kurz vor einer schweren Operation steht, daß das schwarze Schaf (Brigitte Grothum) als Einzige alles richtig macht … Nach einem lebendigen Auftakt mit wirklichkeitsnahen Stadtimpressionen und einem Hauch von Spülbecken-Realismus inszeniert Paul Verhoeven den instabilen Kleine-Leute-Kosmos, ganz im Sinne der Bühnenvorlage, als robustes Boulevardstück ohne ernsthafte Komplikationen. Die Spitzen des Konflikts stechen in die Watte der Versöhnlichkeit, und die Kraft, die stets das Gute will, erfährt Bestätigung in einem gemütlich-stickigen Alles-Getrennte-findet-sich-(wieder)-Ende.

R Paul Verhoeven B Eberhard Keindorff, Johanna Sibelius V Curth Flatow, Horst Pillau K Heinz Hölscher M Friedrich Schröder A Emil Hasler, Walter Kutz S Martha Dübber P Otto Meissner D Inge Meysel, Rudolf Platte, Brigitte Grothum, Sonja Ziemann, Götz George | BRD | 94 min | 1:1,66 | sw | 3. April 1962

30.3.62

Die unsichtbaren Krallen des Dr. Mabuse (Harald Reinl, 1962)

Totgesagte leben länger … Die freche Filmkunst-Verwurstung à la ›Atze‹ Brauner bekommt in »Die unsichtbaren Krallen des Dr. Mabuse« einen ridikülen Stich ins Wissenschaftlich-Utopische: In seinem dritten CCC-Abenteuer preßt der unverwüstliche Dr. Mabuse dem durch einen Unfall gräßlich entstellten Professor Erasmus das Geheimnis der Unsichtbarkeit ab. Die krause Story – in der ein suspekter Clown sein Wesen treibt und eine schöne Tänzerin mit den Tod unter der Bühnenguillotine bedroht wird – bewegt sich mit alptraumhafter Inkonsequenz zwischen Revuetheater, Leichenschauhaus, Laboratorium, Gruselhotel und Flughafen (wo eine »hochgestellte Persönlichkeit« von einer Tarnkappen-Armee abgemurkst werden soll). Dem scheinbar omnipotenten Erzscheusal nützt das kriminelle Genie wieder einmal nichts: Letzten Endes triumphiert wie gehabt das rechtschaffene Mittelmaß in Gestalt der staatlichen Ordnungsmacht.

R
Harald Reinl B Ladislas Fodor K Ernst W. Kalinke M Peter Sandloff A Oskar Pietsch S Hermann Haller P Artur Brauner D Lex Barker, Karin Dor, Siegfried Lowitz, Rudolf Fernau, Werner Peters | BRD & F & I | 89 min | 1:1,66 | sw | 30. März 1962

21.3.62

Lemmy pour les dames (Bernard Borderie, 1962)

Das ist nichts für kleine Mädchen

Lemmy C. (= Eddie C. = Lemmy C.) macht Ferien an der mondänen Côte d’Azur – und findet doch nicht die wohlverdiente Ruhe: Zuerst verfolgt von einer Horde wildgewordener Autogrammjägerinnen (jeden Alters), sieht sich der forsche Pop-Agent sodann mit dem Tod einer reizenden jungen Dame der besseren Gesellschaft konfrontiert, die ein (einstweilen namenloses) dunkles Geheimnis mit ins Jenseits nimmt. Lemmys (süffig-genüßliche) Ermittlungen führen auf die Terrasse einer repräsentablen High-Society-Villa, wo der Whisky- und Weiberheld unter den drei (stets leichtbekleideten) »besten« Freundinnen der Verstorbenen schließlich eine abgefeimte Intrige um Mord, Erpressung und Spionage aufdeckt sowie (selbstredend) die Identität der (sexy) Ränkeschmiedin enthüllt … Von Clouzot-Kameramann Armand Thirard an attraktiven Originalschauplätzen in großzügigem Franscope fotografiert, ergeht sich »Lemmy pour les dames«, nach einer charmant-selbstironischen Ouvertüre, fast durchweg in dösiger Urlaubsstimmung, aus sich der smarte Protagonist leider nur sehr gelegentlich erhebt, um die Fäuste sprechen zu lassen oder kesse Katzen zu kraulen – ein eindimensionales Abenteuer nach Schema L.

R Bernard Borderie B Bernard Borderie, Marc-Gilbert Sauvajon V Peter Cheyney K Armand Thirard M Paul Misraki A Rino Mondellini S Christian Gaudin P Raymond Borderie D Eddie Constantine, Françoise Brion, Claudine Coster, Eliane D’Almeida, Yvonne Monlaur | F | 97 min | 1:2,35 | sw | 21. März 1962

9.3.62

Nóz w wodzie (Roman Polanski, 1962)

Das Messer im Wasser

»L'enfer c'est les autres.« Thrilleresk-psychologisches Kammerspiel unter freiem Himmel und auf offener See. Zwei Männer und eine Frau, 24 Stunden lang zusammen auf einem Segelboot: der Ältere, ein arrivierter Sack = Inbegriff der Selbstgefälligkeit; der Jüngere, ein reizbarer Herumtreiber = Personifikation des Aufbegehrens; die Frau (des Älteren) = Verkörperung der Abgeklärtheit; das (ins Wasser fallende) Messer = Katalysator des (erst spielerischen, dann immer existenzieller werdenden) Kampfes zwischen den Akteuren. Roman Polanskis sorgfältig durchkomponiertes huis clos erzählt – in lyrisch-expressiven, ultratiefen scharfen Bildern (Jerzy Lipman) zu einem bald sonntäglich-harmlos tuenden, bald dissonant querschießenden Jazz-Score (Krzysztof Komeda) – eine intensive ménage à trois, deren zeitliche und örtliche Verdichtung das abgrundtiefe Einanderfremdsein der Beteiligten bloßlegt.

R Roman Polanski B Jerzy Skolimowski, Roman Polanski, Jakub Goldberg K Jerzy Lipman M Krzysztof Komeda A Bolesław Kamykowski S Halina Prugar P Stanisław Zylewicz D Leon Niemczyk, Jolanta Umecka, Zygmunt Malanowicz | PL | 94 min | 1:1,37 | sw | 9. März 1962

7.3.62

Cartouche (Philippe de Broca, 1962)

Cartouche, der Bandit

»Vivre vite et heureux!« Die Aktivitäten des ausgebufften Langfingers Dominique (Hansdampf in allen Gassen: Jean-Paul Belmondo), der sich zu Beginn des 18. Jahrhunderts unter dem Namen Cartouche zum Anführer der Pariser Unterwelt aufschwingt, lassen eine Vorahnung der großen Revolution aufscheinen. Cartouche, der mit seiner bunten Truppe – darunter die treuen Hauptleute La Douceur (bärig: Jess Hahn) und La Taupe (pfiffig: Jean Rochefort) sowie die schöne Diebin Vénus (Claudia Cardinale) – von den Reichen nimmt, während er die Armen verschont, geht es freilich weniger um gesellschaftliche denn um finanzielle Partizipation, vor allem aber um die Unterminierung von Herrschaftssystemen, egal ob es sich um die raffgierige Despotie des Bandenchefs Malichot oder um das sadistische Regime des Polizeipräfekten de Ferrussac handelt. Nachdem er in der ersten Hälfte des Films die galanten Unverschämtheiten des anarchistischen Rebellen mit viel Lust an akrobatischer Körperkomik und ironischen Sottisen gegen jede Form von Obrigkeit ausgemalt hat, wechselt Philippe de Broca fast unmerklich die Tonlage der Erzählung: In zunehmender Verdüsterung wandelt sich das flotte Mantel-und-Degen-Stück zur melancholischen Romanze in Moll (in die auch die ätherische Madame de Ferrussac verwickelt ist). Nach einer bitteren Schlußwendung geht der Held nicht nur seiner großen Liebe verlustig, er muß auch die Unmöglichkeit einer spielerischen Systemveränderung erkennen. Vor ihm und seinen Getreuen liegen kalte Nächte und ein vorhersehbares Ende: »Dans les mains du bourreau.« – »Oui, et que ça aille vite.«

R Philippe de Broca B Daniel Boulanger, Philippe de Broca, Charles Spaak K Christian Matras M Georges Delerue A François de Lamothe S Laurence Méry-Clark P Alexandre Mnouchkine, Georges Dancigers D Jean-Paul Belmondo, Claudia Cardinale, Jean Rochefort, Jess Hahn, Odile Versois, Marcel Dalio, Noël Roquevert | F & I | 114 min | 1:2,35 | f | 7. März 1962

# 1005 | 16. Mai 2016

1.3.62

Das Rätsel der roten Orchidee (Helmuth Ashley, 1962)

Zwei rivalisierende Gangstersyndikate aus Chicago verlegen ihre Geschäftstätigkeit nach London. Beide Banden verkaufen Lebensversicherungen an betuchte Persönlichkeiten, denen im Falle von Nichtbezahlung der exorbitanten Prämien der Tod droht … Zwar gibt es auch in dieser Edgar-Wallace-Adaption eine (sehr) hübsche Frau in Nöten (Marisa Mell), die in eine Erbschaftsangelegenheit verwickelt wird – aber im Zentrum des Geschehens stehen knallharte Revierkämpfe und erpresserischen Aktivitäten der beiden Gaunertruppen, die Helmuth Ashley mit der kühlen Ironie eines angelsächsischen B-Movies inszeniert. Klaus Kinski, Eric Portmann und Pinkas Braun geben illustre Schurken, während Christopher Lee (als FBI-Mann) und vor allem Adrian Hoven (als Scotland-Yard-Inspektor) in ihrer Ermittlungsarbeit eher blaß bleiben. Eine ganz andere, angesichts der rauhen Atmosphäre des Films ziemlich unpassende Tonart schlägt Eddi Arent mit seiner klamottigen Faxenmacherei als »Todesbutler« an.

R Helmuth Ashley B Trygve Larsen (= Egon Eis) V Edgar Wallace K Franz X. Lederle M Peter Thomas A Mathias Matthies, Ellen Schmidt S Hebert Taschner P Horst Wendlandt D Adrian Hoven, Christopher Lee, Marisa Mell, Pinkas Braun, Klaus Kinski, Eddi Arent | BRD | 84 min | 1:1,66 | sw | 1. März 1962

# 805 | 22. November 2013

23.2.62

Das Geheimnis der schwarzen Koffer (Werner Klingler, 1962)

Bevor sie von einem schwirrenden Dolch durchbohrt werden, finden die Opfer des Londoner »Messermörders«, quasi als Vorankündigung der großen Reise, die sie antreten werden, ihre gepackten Koffer. Scotland-Yard-Inspektor Finch (Joachim Hansen) kommt dahinter, daß sämtliche Erstochenen in irgendeiner Form mit der Todesdroge ›Meskadrin‹ (»Die Menschen, die es nehmen, sind rettungslos verloren!«) zu tun hatten … Werner Klingler hat Mühe, dieser lahm um Sucht und Rache kreisenden Bryan-Edgar-Wallace-Adaption Momente von Interesse oder Spannung abzugewinnen: Die Schwarzweißbilder (Richard Angst) entwickeln kaum beunruhigende Atmosphäre, der Humor (Chris Howland als kindischer »Tonjäger«) bleibt so steif wie eine Melone. Allein die jahrmarktsorgelhaft quäkende Musik (Gert Wilden) und Leonard Steckel in einer Doppelrolle als verlotterter Kassenarzt und kultivierter Schloßherr (mit moderner Rauschgiftküche im Kellergewölbe) kitzeln gelegentlich die Nerven. PS: Mit Gusto fürs Absurde wird Jess Franco denselben Stoff acht Jahre später unter dem Titel »Der Todesrächer von Soho« in ein kinematographisches Delirium verwandeln.

R Werner Klingler B Percy Allan (= Gustav Kampendonk) V Bryan Edgar Wallace K Richard Angst M Gerd Wilden A Paul Markwitz S Walter Wischniewsky P Artur Brauner D Joachim Hansen, Senta Berger, Hans Reiser, Leonard Steckel, Chris Howland | BRD | 85 min | 1:1,66 | sw | 23. Februar 1962

22.2.62

Boccaccio ’70 (Mario Monicelli & Federico Fellini & Luchino Visconti & Vittorio De Sica, 1962)

Boccaccio ’70

Ein Omnibusfilm: vier Akte – tragikomisch, satirisch, ironisch, launig – über den Waren- und den wahren Charakter der Gefühle … Mario Monicelli erzählt von »Renzo e Luciana«, die ihre Ehe im Betrieb geheimhalten müssen, da es den weiblichen Mitarbeitern untersagt ist zu heiraten. Eine Geschichte aus dem italienischen Wirtschaftwunder, angesiedelt im boomenden Mailand, elegant fotografiert, voller Einblicke in die Welt der kleinen Angestellten, die sich von blaffenden Vorgesetzten schurigeln lassen müssen, die ihr kleines Heil in Massenvergnügungen und kreditiertem Konsum suchen: Leben und Lieben auf Raten. Federico Fellinis »Le tentazioni del dottor Antonio« zeigt einen bigotten römischen Moralisten, der den üppigen Reizen einer Werbeträgerin für Milch (»Bevete più latte!«) erliegt: ein aufgeblähtes Pasticchio bekannter, zum quietschbunten L’art pour l’art geronnener Fellini-Motive, eine (Selbst-)Parodie, so überdimensional wie die Brüste von Anita Ekberg. Luchino Visconti schaut hinter die dicken Mauern eines mondänen Mailänder Palazzos: »Il lavoro« gibt einen Vorgeschmack auf die hermetischen Vivisektionen geschlossener Gesellschaften, mit denen »La caduta degli dei« und »Gruppo di famiglia in un interno« aufwarten werden. Romy Schneider und Tomas Milian sind die Protagonisten des zwischen hölzernen Wandverkleidungen und schweren Draperien ablaufenden, dramödiantischen Kammerspiels, das die Verwandlung einer gescheiterten Ehe in eine gewerbliche Unternehmung beschreibt. Vittorio De Sicas »La riffa«, die zugleich harmloseste und sinnenfreudigste Episode, präsentiert Sophia Loren als geschäftstüchtige Schießbudenbesitzerin, die sich den Männern eines norditalienischen Marktfleckens als Hauptgewinn einer konspirativ abgehaltenen Lotterie anbietet, um ihr Glück bei einem zupackenden Stierhüter zu finden … Allen Regisseuren gemeinsam ist ein Hang zu barocker Weitschweifigkeit, wodurch sich die Produzenten nach der Premiere genötigt sahen, den Film um den Monicelli-Beitrag zu kürzen.

R Mario Monicelli (1), Federico Fellini (2), Luchino Visconti (3), Vittorio De Sica (4) B Giovanni Arpino (1), Italo Calvino (1), Suso Cecchi D’Amico (1 & 3), Mario Monicelli (1), Ennio Flaiano (2), Tullio Pinelli (2), Goffredo Parise (2), Fedrico Fellini (2), Luchino Visconti (3), Cesare Zavattini (4) K Armando Nannuzzi (1), Otello Martelli (2 & 4) Giuseppe Rotunno (3) M Piero Uminiani (1), Nino Rota (2 & 3), Armando Trovajoli (4) A Piero Gherardi (1), Piero Zuffi (2), Mario Garbuglia (3), Elio Costanzi (4) S Adriana Novelli (1 & 4), Leo Cattozzo (2), Mario Serandrei (3) P Carlo Ponti, Tonino Cervi D Marisa Solinas (1), Germano Gilioli (1), Anita Ekberg (2), Peppino Di Filippo (2), Romy Schneider (3), Tomas Milian (3), Romolo Valli (3), Sophia Loren (4), Luigi Giuliani (4) | I & F | 208 / 158 min | 1:1,66 | f | 22. Februar 1962

# 921 | 28. November 2014

6.2.62

All Night Long (Basil Dearden, 1962)

Die heiße Nacht

»Othello« meets Jazz. »All Night Long« verdichtet Shakespeares Eifersuchtstragödie auf eine einzige (Party-)Nacht und einen einzigen Set. Als Bühne dient ein zur Luxusresidenz umgebautes Lagerhaus im Londoner East End – zu Gast bei Musikproduzent Rod Hamilton (Richard Attenborough) sind unter anderem Dave Brubeck, Charles Mingus und John Dankworth (der die Titelmelodie der »Avengers« komponierte). Im Zentrum des spannungsgeladenen Geschehens steht der frustriert-hochbegabte Drummer Johnny Cousin (≈ Jago), der die Ehe des (schwarzen) Bandleaders Rex und der (weißen) Sängerin Delia zu ruinieren versucht, indem er gegenüber dem Gatten eine Affäre der Ehefrau mit dem labilen Saxophonisten Cass insinuiert … Regisseur Basil Dearden und Produzent Michael Relph interessieren sich (anders als in ihrem drei Jahre zuvor entstandenen Kriminaldrama »Sapphire«) in keiner Weise für verblümte oder unverblümte Rassenkonflikte – sie richten ihr Augenmerk ganz auf den bohrenden Ehrgeiz und die destruktive Energie des Intriganten Johnny (Patrick McGoohan spielt ihn mit der Gekränktheit, der Arroganz und der falschlächelnden Infamie des ewig Zukurzgekommenen), der Delias begnadete Stimme braucht, um seine eigene Combo zu etablieren. Doch Erfolg, scheint das Ende dieses recht theatralischen, dabei aber exakt rhythmisierten Films (der nicht so tödlich ausgeht wie das Stück) zu sagen, hat nicht allein mit Talent oder Willenskraft zu tun sondern vor allem mit Liebesfähigkeit – zu anderen und zu sich selbst.

R Basil Dearden B Peter Achilles (= Paul Jarrico), Nel King V William Shakespeare K Ted Scaife M diverse A Michael Relph S John D. Guthridge P Michael Relph, Bob Roberts D Patrick McGoohan, Richard Attenborough, Keith Michell, Paul Harris, Marti Stevens | UK | 92 min | 1:1,66 | sw | 6. Februar 1962

23.1.62

Jules et Jim (François Truffaut, 1962)

Jules und Jim 

Der erste Akt von »Jules et Jim« ist die vielleicht berückendste (und beglückendste) halbe Stunde, die je fürs Kino erzählt wurde: In der wahlverwandtschaftlichen ménage à trois zwischen den beiden Freunden Jules (Oskar Werner) und Jim (Henri Serre) und ihrer Königin Catherine (Jeanne Moreau), in der fröhlichen Atemlosigkeit, der offenherzigen Reinheit, der verspielten Ernsthaftigkeit des Trios liegt die ganze Hochstimmung der Welt von Gestern, die Seligkeit des alten Europa vor der Katastrophe. Das zwiespältige Vorspruch des Films – »Tu m’as dit je t’aime. Je t’ai dit attends. J’allais dire prends-moi. Tu m’as dit va-t-en.« – hätte zu denken geben können, ebenso die merkwürdig tonlose, kühl registrierende Berichterstatterstimme (Michel Subor) aus dem Off; der große Knall schließlich, der in Gestalt des Großen Krieges mit seinen Grabenkämpfen, Gasangriffen, Völkermorden über die Menschheit im allgemeinen und die Liebenden im besonderen kommt, läßt alles in Scherben fallen: Die Idee (oder Illusion?) von der (Neu-)Erfindung der Liebe als umfassender Harmonie aus dem Geist einer alles verstehenden, alles erlaubenden Freundschaft realisiert sich nicht. Es bleibt ein Tropfen Hoffnung auf den heißen Stein der Frustration, es bleibt das zermürbende Hin und Her der Beziehungen, es bleibt eine Autofahrt in die Erlösung … François Truffaut vermeidet in seiner kongenialen Adaption des autobiographischen Romans von Henri-Pierre Roché jede banale Herleitung oder einfache Erklärung des Tuns und Lassens der drei Seelenfreunde aus der Psychologie ihrer Charaktere; durch die exquisite Einfachheit der Inszenierung, in den schwebenden Franscope-Bildern von Raoul Coutard, zu den bald schwungvollen, bald schwermütigen Kompositionen von Georges Delerue bleiben Jules et Jim et Catherine dennoch keine literarischen Konstrukte – bis zum konsequenten Schluß des Geschehens faszinieren sie als beinahe körperlich präsente Wesen im filmischen tourbillon de la vie.

R François Truffaut B François Truffaut, Jean Gruault V Henri-Pierre Roché K Raoul Coutard M Georges Delerue A Fred Capel S Claudine Bouché P François Truffaut, Marcel Berbert D Jeanne Moreau, Oskar Werner, Henri Serre, Marie Dubois, Boris Bassiak | F | 105 min | 1:2,35 | sw | 23. Januar 1962

18.1.62

Tanz am Sonnabend – Mord? (Heinz Thiel, 1962)

Mühlbach ist ein ganz normales Dorf in der DDR. Es gibt einen Gasthof und einen Feuersee, eine aufstrebende LPG und den Club der Ewiggestrigen, es wird gesächselt, daß sich die Scheunenbalken biegen. Apropos: Eines Sonnabends im Februar 1960 (nach einer Tanzveranstaltung) hängt in Paul Gäblers (lichterloh brennender) Scheune ein Toter am Balken: Paul Gäbler selbst. Alles spricht dafür, daß die gesellschaftspolitischen Umstände den eigensinnigen Bauern in den Freitod getrieben haben – alles, nur nicht das Seil: Es ist zu kurz für einen Selbstmord … Ein winterkalter Milieukrimi aus der Schlußphase der (Zwangs-)Kollektivierung der ostdeutschen Landwirtschaft; neben Mord bringt Regisseur Heinz Thiel – teilweise in Rückblenden, die aus subjektiver (Zeugen-)Sicht präsentiert werden – noch Brandstiftung und unerlaubten Waffenbesitz, Betrug und Ehebruch ins Spiel. Auch wenn hinter der beschaulichen Kulisse also einiges im Argen liegt, hat der ermittelnde Oberleutnant der Volkspolizei (latent verschnupft: Gerry Wolff) nicht allzu viel Mühe, den Fall zu lösen und die Ordnung der sozialistischen Gesellschaft wiederherzustellen – zumal Raffgier und Egoismus ja lediglich betrübliche Nachwirkungen von historisch längst überwundenen Denkmustern und Verhaltensweisen darstellen.

R Heinz Thiel B Lothar Creutz, Carl Andrießen K Horst E. Brandt M Helmut Nier A Herbert Nitzschke S Wally Gurschke P Paul Ramacher D Gerry Wolff, Rudolf Ulrich, Albert Garbe, Johannes Arpe, Ruth Kommerell | DDR | 87 min | 1:1,37 | sw | 18. Januar 1962

# 979 | 23. November 2015

12.1.62

Bachelor Flat (Frank Tashlin, 1962)

Dinosaurier bevorzugt

Frank Tashlins Sechziger-Jahre-Update von Howard Hawks’ Screwball-Klassiker »Bringing Up Baby«: Die aus zahlreichen mehr oder weniger grotesken Episoden lose zusammengezimmerte bedroom farce erzählt im allgemeinen von der unbändigen Leidenschaft amerikanischer Frauen für die feine Gesittung englischer Männer, im speziellen von den vorehelichen Turbulenzen, in die der britische Paläontologe Bruce Patterson im Malibu-Strandhaus seiner abwesenden Verlobten durch deren unvermutet auftauchende halbwüchsige Tochter (Tuesday Weld) gerät. Terry-Thomas, zahnlückiger Inbegriff des liebenswert-kauzigen Gentlemans, verkörpert den immer vorschriftsmäßig gekleideten (allerdings gelegentlich ohne Hose dastehenden) Universitätsprofessor, der auch bei strahlendstem kalifornischen Sonnenschein nie ohne Regenschirm unterwegs ist, mit ebenso viel chevaleresker Würde wie Lust an körperlicher und mimischer Verrenkung. Tashlin spart weder mit derbem Tür-auf-Tür-zu-Humor noch mit der grellen Ausmalung kultureller und sozialer Stereotypen; gelegentlich auftretende Leerstellen der Handlung füllen (passend zum CinemaScope-Format des Films) die knochensuchenden Aktivitäten einer gewissen Jessica Dachshund.

R Frank Tashlin B Frank Tashlin, Budd Grossman V Budd Grossman K Daniel L. Fapp M Johnny Williams A Jack Martin Smith, Leland Fuller S Hugh S. Fowler P Jack Cummings D Terry-Thomas, Tuesday Weld, Richard Beymer, Celeste Holm, Francesca Bellini | USA | 91 min | 1:2,35 | f | 12. Januar 1962

# 1076 | 16. September 2017

4.1.62

Auf der Sonnenseite (Ralf Kirsten, 1962)

Sozialistisch-musikalisches Lustspiel um den jungen Stahlschmelzer Martin (Manfred Krug), der trotz (und wegen) einiger Fisimatenten auf die Schauspielschule delegiert wird. Dort nicht so ganz bei der Sache und von Fächern wie Stimmbildung (»Ba-la-lo – da kann man doch alles hineinlegen.«) ziemlich gelangweilt, folgt er der netten, aber (zunächst) widerstrebenden Ottilie (Marita Böhme als – Achtung: Emanzipation! – Bauleiterin) auf eine Großbaustelle, wo er wiederum jede Menge Theater macht und die Angebete schließlich von sich überzeugen kann … Eine Reihe charmanter Songs (Musik: André Asriel), der hansdampfmäßige Enthusiasmus das Hauptdarstellers (aus dessen Biographie der Film reichlich schöpft) und prägnante Auftritte sympathischer Chargen wie Carola Braunbock, Rolf Herricht und Heinz Schubert lassen »Auf der Sonnenseite« – unter fast vollständigem Verzicht auf platte Indoktrinierungsversuche des Publikums – zu einem ebenso harmlosen wie gelungenen Exemplar deutsch-demokratischer Unterhaltungskunst werden: »Ottilie / du bist süß wie Petersilie / komm, wir gründen ’ne Familie. / Ich habe dich so lieb.«

R Ralf Kirsten B Heinz Kahlau, Gisela Steineckert, Ralf Kirsten K Hans Heinrich M André Asriel A Alfred Tolle S Christel Röhl P Alexander Lösche D Manfred Krug, Marita Böhme, Heinz Schubert, Fred Mahr, Carola Braunbock | DDR | 101 min | 1:1,37 | sw | 4. Januar 1962