30.6.62

Die Rote (Helmut Käutner, 1962)

»Wann geht der nächste Zug?« – »Wohin?« – »Irgendwohin.« In Mailand läßt die deutsche Dolmetscherin Franziska (Ruth Leuwerik) ihren schnöseligen Gatten im Café sitzen, später gibt sie telefonisch auch ihrem selbstgefälligen Lover den Laufpaß; sie flüchtet aus einem Leben, das sie plötzlich anekelt, das sie von einem Moment auf den anderen nicht mehr versteht, obwohl sie es doch immer so wollte (oder so zu wollen glaubte) und im Grunde auch genoß … Die Liebesmüde treibt es ins nachsaisonale Venedig, wo sie auf der Suche nach sich selbst erneut zwischen die Männer gerät: Sie begegnet einem elegischen Schriftsteller (Rossano Brazzi), der ihr das Ende der Welt zeigt, einem schwulen Globetrotter (Giorgio Albertazzi), der von alter Schuld verfolgt wird, einem dämonischen Dickwanst (Gert Fröbe), der seine bösen Taten wie eine stolze Trophäe trägt. Helmut Käutners Adaption eines Romans von Alfred Andersch setzt sich mit Aplomb zwischen alle Stühle: Antonioneske Gefühlsleere trifft auf urdeutsche Selbstbespiegelung, pittoresker Neoverismo kollidiert mit kühler Schnulze, gedankenblasse Hochliteratur stößt auf lebendige Kolportage, Vergangenheitsbewältigung steht gegen den Zauber der Morbidezza. »Die Rote« ist ein zugleich epigonales und ganz eigentümliches Werk: Der betont modernistische Stilwillen der Inszenierung wird aufgehoben in den differenzierten Tonlagen des inneren Monologs, der Otello Martellis diffuse Bilder der herbstgrauen, nebeldurchzogenen Lagunenstadt begleitet: Die bald damenhaft-samtige, bald zickig-spitze, mal verunsicherte, mal kategorische, zwischen Dur und Moll irisierende Stimme der Leuwerik macht den Film zum Erlebnis. Überzeugend auch das offene Ende, die Absage an schnelle (Drehbuch-)Lösungen angesichts komplexer Lebensprobleme: Wieder steht Franziska am Schalter eines Bahnhofs, wieder fragt sie: »Wann geht der nächste Zug?«

R Helmut Käutner B Helmut Käutner, Alfred Andersch V Alfred Andersch K Otello Martelli M Emilia Zanetti A Saverio D'Eugenio, Robert Stratil S Klaus Dudenhöfer P Walter Koppel, Carlo Ponti D Ruth Leuwerik, Rossano Brazzi, Giorgio Albertazzi, Gert Fröbe, Harry Meyen | BRD & I | 100 min | 1:1,85 | sw | 30. Juni 1962

22.6.62

Frauenarzt Dr. Sibelius (Rudolf Jugert, 1962)

Dr. Georg Sibelius (Lex Barker) ist ein Arzt, dem die Frauen vertrauen – mit einer Ausnahme: seiner jungen Gattin Elisabeth (Senta Berger). Er bringt Kinder zu Welt, sie kann keine bekommen; er hat einen Beruf, den er liebt, sie hat lediglich ihre Zweifel … »Das Verschweigen« wäre ein guter Titel für Rudolf Jugerts kompromißlos reißbrettartiges Weißkittel-Melodram. Zwar wird viel (sehr viel!) geredet, doch letztlich verdecken die Worte zumeist nur das, was keiner auszusprechen wagt: die Wahrheit über (andere sowie eigene) seelische und körperliche Zustände. Sämtliche Beteiligten spielen einerseits einen phrasenhaft hölzernen Groschenfilm über Eifersucht und Intrige, über Mißverständnis und tödliches Schicksal, andererseits ein grausames Lehrstück über die Angst, das Entscheidende zu verlieren (indem man es benennt), und (daraus folgend oder darauf basierend) über die Unfähigkeit zu (mehr noch: die Verweigerung von) Kommunikation. Zwischenmenschlicher Austausch bleibt stets indirekt, fast alle Zeichen werden falsch interpretiert, niemand sieht oder hört mehr als das, was er (bzw. sie) sehen oder hören will. Kurz vor Schluß dann: ein Kaiserschnitt. Die dramatische Operation scheint den in sich verkapselten Protagonisten endlich den Zugang zu (anderen sowie eigenen) Emotionen zu erschließen – die künstliche Geburt als Metapher potentieller (Selbst-)Befreiung … Ein tief beklemmendes, streckenweise hysterisch verzweifeltes Werk.

R Rudolf Jugert B Janne Furch, Sigmund Bendkower, Artur Brauner K Karl Schröder M Raimund Rosenberger A Paul Markwitz S Walter Wischniewsky P Artur Brauner D Lex Barker, Senta Berger, Barbara Rütting, Sabine Bethmann, Elisabeth Flickenschildt, Harry Meyen | BRD | 98 min | 1:1,66 | sw | 22. Juni 1962

# 777 | 10. Oktober 2013 

Antoine et Colette (L’amour à vingt ans) (François Truffaut, 1962)

Antoine und Colette (Liebe mit zwanzig)

Nachdem sich François Truffaut mit »Les 400 coups« nicht ohne Bitterkeit an der eigenen freudlosen Kindheit abgearbeitet hatte, läßt er (im Rahmen eines internationalen film à sketches) sein zweites Ich Antoine Doinel (Jean-Pierre Léaud) als Hauptfigur einer liebenswürdigen, keineswegs oberflächlichen Etüde zum Thema »L’amour à vingt ans« wiederauferstehen: Antoine, nun 16 Jahre alt, lebt alleine, preßt tagsüber bei Philips Schallplatten, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen; abends besucht er regelmäßig die Konzerte der Jeunesses Musicales, wo er Colette (Marie-France Pisier) begegnet, in die er sich verliebt. Bald schon ist er regelmäßiger (und – für ihn besonders wichtig – gerngesehener) Gast bei ihr zu Hause; sie scheint ihn auch zu mögen, sieht in ihm letztlich aber nicht mehr als einen guten Kumpel … »Antoine et Colette« (der Titel evoziert, sicherlich nicht ganz zufällig, die Erinnerung an Jacques Beckers ausgelassene Pariser Beziehungsfilme »Antoine et Antoinette« und »Edouard et Caroline«) verweigert seinem Protagonisten zwar (ironisch) die Erfüllung der ersten großen Liebe, schenkt ihm aber – auch nicht zu verachten – Selbstwertgefühl und persönliche Freiheit: Wenn Antoine morgens zu den Klängen von Bach und den Zügen der Frühstückszigarette die Fenster seines Hotelzimmers öffnet, liegt ihm die ganze Welt (in Gestalt der belebten place Clichy) zu Füßen. Das einzige Manko dieser frischen, gekonnt aus dem Handgelenk geschüttelten Improvisation ist ihre allzu kurze Laufzeit – Truffaut, der sich hier wohl auf dem Höhepunkt seiner künstlerischen Potenz befindet, hätte mit einem Langfilm über Antoines salade de l’amour möglicherweise sein Meisterwerk gedreht.

R François Truffaut B François Truffaut K Raoul Coutard M Georges Delerue S Claudine Bouché P Pierre Roustang D Jean-Pierre Léaud, Marie-France Pisier, Patrick Auffay, Rosy Varte, François Darbon | F (& I & JP & PL & BRD) | 29 (120) min | 1:2,35 | sw | 22. Juni 1962

19.6.62

Die Tür mit den 7 Schlössern (Alfred Vohrer, 1962)

Hinter den sieben Schlössern des Titels liegt ein alt-adeliges Vermögen, über das sich die raffgierigen Hüter der sieben Schlüssel tödlich zerstreiten. Einmal mehr treibt der Spleen der englischen Aristokratie (und ihrer Dienerschaft) hübsche Blüten, doch in diesem Fall arrangiert Alfred Vohrer die Enthüllung des üblichen Wallaceschen Familiengeheimnisses ohne allzuviel Dramatik. Zu unvermutet schräger Größe erhebt sich allerdings gegen Ende des Schauer- und Schurkenstücks die wissenschaftskritische Nebenhandlung um den Quacksalber Dr. Antonio Staletti (des Wahnsinns fette Beute: Pinkas Braun), der im düsteren Kellergewölbe seines abgelegenen Landsitzes davon träumt, zur Unsterblichkeit vorzustoßen, indem er Menschenköpfe auf zottige Affenkörper verpflanzt. (Ein besonders eindrucksvolles Ergebnis seiner medizinischen Experimente wird von Ady Berber verkörpert.) Die entscheidende Operation verhindert dann – man möchte fast sagen: leider – das Eingreifen der pflichtbewußten polizeilichen Gerechtigkeit.

R Alfred Vohrer B Johannes Kai, Harald G. Petersson V Edgar Wallace K Karl Löb M Peter Thomas A Siegfried Mews, Helmut Nentwig S Carl Otto Bartning P Horst Wendlandt, Jacques Leitienne D Heinz Drache, Sabina Sesselmann, Hans Nielsen, Werner Peters, Pinkas Braun | BRD & F | 95 min | 1:1,66 | sw | 19. Juni 1962

8.6.62

Königskinder (Frank Beyer, 1962)

Es beginnt in den frühen 1930er Jahren in Berlin und endet kurz vor Kriegsende auf einem Flugplatz bei Moskau: Ein aufrechter Kommunist (Armin Mueller-Stahl) und eine Kleinbürgertochter (Annekathrin Bürger), die ihr Leben und Streben später ebenfalls der großen Sache widmet, haben einander so lieb, werden aber von den Zeitläuften immer wieder auseinandergerissen; ein Dritter (Ulrich Thein) steht erst im Abseits, geht dann zur SA, um im entscheidenden Moment seine menschliche (= rote) Seite zu entdecken. Frank Beyers »Königskinder« diffundiert zwischen lyrisch-melodramatischer Ballade und hochmoralisch unterfüttertem Kriegsfilm. Die Bilder (Günter Marczinkowsky) vermeiden dabei jeden Naturalismus zugunsten einer attraktiven, symbolisch-präziösen Zuspitzung. Zwischendurch singen immer mal wieder die Thomaner, um daran zu erinnern, daß das Wasser viel zu tief ist. »Königskinder«: ein formal exquisiter, erzählerisch konsequent linksgestrickter Musterfall von pathetischer Romantik, kämpfender Kunst, einfacher Wahrheit.

R Frank Beyer B Walter Gorrish, Edith Gorrish K Günter Marczinkowsky M Joachim Werzlau A Alfred Hirschmeier S Anneliese Hinze-Sokolowa P Hans Mahlich D Annekathrin Bürger, Armin Mueller-Stahl, Ulrich Thein, Marga Legal, Betty Loewen | DDR | 89 min | 1:1,37 | sw | 8. Juni 1962

7.6.62

Lulu (Rolf Thiele, 1962)

Ehrgeizige Erotikposse (man könnte auch sagen: Sexklamotte ohne Sex) in elaboriertem Stummfilm-Look: Lulu, von Männern gemacht, bringt Männer zur Strecke – »Laß sie nicht entkommen! Du bist der nächste!« –, bis sie schließlich von Jack the Ripper geschlitzt wird. Nadja Tiller in der Titelrolle ist – wie immer bei Rolf Thiele – eher teilnahmslose Projektionsfläche von Begierden denn gestaltende Akteurin. An ihrer Seite: Rudolf Forster als greiser Strippenzieher Schigolch, O. E. Hasse als kultivierter Alphamann Schön, Leon Askin als altersgeiler Fettsack Goll, Mario Adorf als weltläufiger Strizzi Rodrigo, Hilde Knef als melancholische Lesbe Geschwitz, Charles Regnier als Conférencier und Vollstrecker von Lulus Schicksal – alle tanzen sie zur vulgär-dissonanten Jahrmarktsmusik von Carl de Groof. Vielleicht mehr Edgar Wallace als Frank Wedekind – aber vergnüglich allemal.

R Rolf Thiele B Rolf Thiele, Herbert Reinecker V Frank Wedekind K Michel Kelber M Carl de Groof A Fritz Mögle, Heinz Ockermüller S Eleonore Kunze P Otto Dürer D Nadja Tiller, O. E. Hasse, Hildegard Knef, Mario Adorf, Charles Regnier | A | 100 min | 1:1,66 | sw | 7. Juni 1962

6.6.62

Advise & Consent (Otto Preminger, 1962)

Sturm über Washington

»Son, this is a Washington, D.C. kind of lie. It's when the other person knows you're lying, and also knows you know he knows. You follow?« Der Präsident der Vereinigten Staaten (Franchot Tone) nominiert einen neuen Außenminister. Die eigenen Parteifreunde sind wenig begeistert: Robert Leffingwell (Henry Fonda), ein liberaler Intellektueller, gilt als Mann des Ausgleichs, der Entspannung, der Koexistenz. Der Senatsauschuß, der über die Eignung des Kandidaten zu befinden hat, wird zur Kampfzone diametraler Ansichten und Interessen. Otto Preminger ist es in seiner detaillierten Fallstudie weniger um die Inhalte des demokratischen Meinungsstreits zu tun, er untersucht vielmehr die, von menschlichen Befindlichkeiten bestimmte, Funktionsweise staatlicher Organe. Breiten Raum widmet er dabei der Typologie des politischen Personals: da sind der ausgleichende Elder Statesman (Walter Pidgeon), der fickrige Arrivist (George Grizzard), der flamboyante Veteran (Charles Laughton), der ritterliche Dandy (Peter Lawford), die alerte Nachwuchshoffnung (Don Murray) – allesamt verstrickt in ein Netz aus Geheimnissen und Winkelzügen, Absprachen und Erpressungen, Eitelkeit und Ehrgeiz. Premingers Panavision-Blick hinter die Kulissen der Macht zeigt die angespannte Förmlichkeit der Tagungsräume, die drückende Gewitterstimmung der Hinterzimmer (und die danteske Vision einer New Yorker Schwulenbar), untersucht (unter dem Eindruck der kaum abgeklungenen McCarthy-Paranoia) die Wechselbeziehung von Intrige und Integrität, den Zusammenhang von schmutziger Wäsche und schmutzigen Tricks, das Verhältnis von Eigennutz und Vaterlandsliebe: »What I did was for the good of the country.« – »Fortunately, our country always manages to survive patriots like you.«

R Otto Preminger B Wendell Mayes V Allen Drury K Sam Leavitt M Jerry Fielding A Lyle Wheeler S Louis R. Loeffler P Otto Preminger D Walter Pidgeon, Charles Laughton, Don Murray, Henry Fonda, Franchot Tone, Peter Lawford, Gene Tierney | USA | 138 min | 1:2,35 | sw | 6. Juni 1962

# 1081 | 13. Oktober 2017

1.6.62

Die Parallelstraße (Ferdinand Khittl, 1962)

Unter Anleitung und Überwachung eines erbarmungslos-freundlichen Protokollführers (Friedrich Joloff) versuchen fünf Herren, den Sinn und Zusammenhang einer langen Reihe ihnen zur Prüfung und Einordnung vorgelegter (Film-)Dokumente zu entschlüsseln. Ihnen bleibt nur mehr wenig Zeit, und sie sind durch unergiebige Diskussionen über das Gesehene und Gehörte bereits hoffnungslos in Rückstand geraten. Es ist nicht die erste Gruppe, die diese Aufgabe zu bewältigen versucht, und es wird nicht die letzte sein, die daran scheitert. Die Persönlichkeit dessen, der die rätselhaften Unterlagen zusammengetragen hat, liegt dabei ebenso im Dunkeln wie die inhaltliche Zielrichtung des disparaten Materials: Da gibt es die Beschreibung des rückwärts gerichteten Alterungsprozesses eines gewissen Heinrich Himmelreich, Impressionen aus fünf verlassenen Städten, die zu einer einzigen Nekropole des Weltgeistes verschmelzen, Bilder von der New Yorker Börse und vom Overseas Highway, Spekulationen über den Begriff ›Löwenkraft‹ und die Blaue Mauritius, Nacherzählungen historischer Episoden, Fragmente von Feldforschungen aus Südamerika, aus Indochina, aus Ozeanien. Regisseur Ferdinand Khittl – entfernter Vetter von Resnais und Marker, reiselustiger Großonkel von Herzog und Greenaway –, Autor Bodo Blüthner und Kameramann Ronald Martini bieten mit »Die Parallelstraße« zugleich ein lyrisches Labyrinth und einen farbenprächtigen Gedankenfriedhof, eine pseudowissenschaftliche Kartothek und eine kulturkinematographische Wundertüte, einen spöttischen Essay über die Uferlosigkeit von Interpretation, über die Unmöglichkeit, in dieser Welt zu gesicherten Erkenntnissen zu gelangen, und einen Spiel-Film im Wortsinne: ein Spiel mit surrealen Wirklichkeitsverschiebungen und absurden Ordnungsmustern, mit falschen Beweisen und sicherer Todesahnung. »Wir sind in einer lächerlichen Situation. Es kommt mir vor, als würde man jemandem nach dem Weg fragen, und der sagt: ›Gehen Sie immer geradeaus, dann kommen Sie an einen Punkt, da gibt es nur noch zwei Straßen – und davon nehmen Sie die Parallelstraße.‹«

R Ferdinand Khittl B Bodo Blüthner K Ronald Martini M Hans Posegga S Irmgard Henrici P Otto Martini D Friedrich Joloff, Ernst Marbeck, Wilfried Schröpfer, Henry van Lyck, Werner Uschkurat, Herbert Tiede | BRD | 86 min | 1:1,37 | sw & f | 1. Juni 1962