25.12.61

The Innocents (Jack Clayton, 1961)

Schloß des Schreckens

»What shall I sing to my lord from my window?« Miss (!) Giddens (Deborah Kerr als daughter of a preacher man – empathisch und fanatisch) kommt als Erzieherin der Waisenkinder Miles und Flora auf den abgelegenen Landsitz Bly. Bald schon wähnt sie hinter der scheinbar (?) arglosen Altklugheit ihrer Schutzbefohlenen einen Abgrund des Grauens: Haben die Geister des triebhaften Hausdieners und der ihm verfallenen Gouvernante Besitz von den Seelen der Geschwister ergriffen? Vielleicht erzählt Jack Clayton mit »The Innocents« tatsächlich die Geschichte der Besessenheit der beiden Kinder – das wäre die komfortabelste Erklärung für die Dinge, die wir sehen (oder sehen sollen) –, vielleicht handelt es sich auch um eine Tauchfahrt in die Geheimnisse einer verkarsteten (in diesem Falle: weiblichen) Psyche: Verdrängtes, Projektionen, Begierden – Unbewußtes, das wie Sumpfgas blubbernd ans Licht steigt. Der Film legt sich nicht fest, Erklärungen hängen in der Luft wie wehende Vorhänge in der Nacht. Und dann: dieses wispernde Kaminfeuer, diese allzeit welkenden weißen Rosen, dieses penetrante Vogelgezwitscher, diese Küsse zwischen einer Frau und einem Jungen, diese unheimlich tiefenscharfen Bilder (Freddie Francis), diese spukig-spieldosenhafte Musik (Georges Auric), diese intensive Beschwörung der grauen-vollen Paradiese der Kindheit (Buch: Truman Capote nach Henry James). Ein alptraumhaftes Meisterwerk. »Waking a child can sometimes be worse than any bad dream.« Gilt nicht nur für Kinder …

R Jack Clayton B Truman Capote, William Archibald V Henry James K Freddie Francis M Georges Auric A Wilfried Shingleton S Jim Clark P Jack Clayton D Deborah Kerr, Martin Stephens, Pamela Franklin, Clytie Jessop, Michael Redgrave | USA & UK | 100 min | 1:2,35 | sw | 25. Dezember 1961

20.12.61

Divorzio all’italiana (Pietro Germi, 1961)

Scheidung auf italienisch

Agramonte, eine Kleinstadt im sizilianischen Hinterland: Baron Ferdinando ›Féfé‹ Cefalù (Marcello Mastroianni), Sproß einer verarmten Adelssippe, gelangweilt und abge­stoßen von seiner ergebenen Ehefrau Rosalia, verliebt sich unsterblich in seine Cousine, die bildhübsche Klosterschülerin Angela (!) (Stefania Sandrelli). Weil Scheidung nach italieni­sch-katholischem Familienrecht ausgeschlossen ist, träumt der ehrenwerte Taugenichts davon, die verabscheute Gattin zu verseifen, sie im Moor zu versenken oder mit einer Rakete ins All zu schießen. Voller Sarkasmus betrachtet Pietro Germi, wie der (schein-)heilige Sittenkodex die Ungeheuer der Mordlust gebiert: Mit gewissenloser Spitzfindigkeit denkt ›Féfé‹ den Geist des überkommenen Gesetzes zu Ende und arrangiert eine verfängliche Situation, die ihm das befreiende »Verbrechen aus Leidenschaft« erlaubt. Sogar die bewußte (Selbst-)Erniedrigung zu einem von aller Welt lauthals geschmähten »cornuto« zieht der machistische Baron ungerührt ins Kalkül, bleibt ihm doch, auf diese schändliche Weise befleckt, gar keine andere Wahl, als dem blutrünstigen Ehrbegriff seiner Landsleute Rechnung zu tragen … Germis makabre Satire liefert neben unterhaltsam-geräuschvollen Volks- und Familienszenen das kritische Bild einer Gesellschaft, deren rigoroses Reglement zur fatalen Formalie erstarrt ist.

R Pietro Germi B Ennio De Concini, Pietro Germi, Alfredo Giannetti K Leonida Barboni, Carlo Di Palma M Carlo Rustichelli A Carlo Egidi S Roberto Cinquini P Franco Cristaldi D Marcello Mastroianni, Daniela Rocca, Stefania Sandrelli, Leopoldo Trieste, Odoardo Spadaro | I | 108 min | 1:1,85 | sw | 20. Dezember 1961

# 922 | 2. Dezember 2014

Murder She Said (George Pollock, 1961)

16 Uhr 50 ab Paddington

»Marple her name, marble her nature.« Miss Jane Marple (mit Haaren auf den Zähnen und wahrscheinlich auch anderswo: Margaret Rutherford) als Augenzeugin eines Mordes in der Eisenbahn. Zugpersonal und Polizei schenken ihrer Aussage keinen Glauben, und so macht sich die kriminalistisch hochbegabte reife Dame – mal in der Maske eines Gleisarbeiters, dann wieder getarnt als Dienstmädchen in einem zweitklassigen Herrenhaus – selbst auf den Weg, die Leiche aufzuspüren und den Täter zu stellen. George Pollock formt Agatha Christies teegebäckiges Whodunit-Material zur Apotheose der alten Jungfer: Wieso eine stressige Beziehung führen, weshalb einem Partner zu Willen sein, warum undankbaren Blagen sein Bestes geben – wenn man stattdessen in aller Ruhe stricken, Krimis lesen oder zur Abwechslung auch mal in anderer Leute Ställen und Kommoden herumschnüffeln kann? Neben Rutherford und ihrem Helferlein Mr. Stringer (Davis) wird »Murder She Said« von James Robertson Justice als brummigem landlord (»I live here because I want to, not because I can afford it.«), Arthur Kennedy als dienstfertigem Arzt, Charles Tingwell als begriffsstutzigem Inspektor sowie (last but not least) von Ron Goodwins zwischen Rokoko und Swinging London oszillierendem ›Miss Marple’s Theme‹ in Schwung gebracht – und gehalten.

R George Pollock B Jack Seddon, David Pursall, David Osborn V Agatha Christie K Geoffrey Faithfull M Ron Goodwin A Harry White S Ernest Walter P George H. Brown D Margaret Rutherford, Arthur Kennedy, Muriel Pavlov, James Robertson Justice, Charles Tingwell | UK | 87 min | 1:1,66 | sw | 20. Dezember 1961

Lover Come Back (Delbert Mann, 1961)

Ein Pyjama für zwei 

»In these steel and concrete beehives are born the ideas that decide what we will eat, drink, drive and smoke, and how we will dress, sleep, shave and smell.« Die New Yorker Madison Avenue, pulsierendes Zentrum der Werbewelt (und -wirtschaft), bietet das ideale Setting für die zweite ménage à trois von Day/Hudson/Ran­dall und eine hysterisch-konsumkritische Auseinandersetzung mit dem american way of life. Doris steht für die Sinnlosigkeit ehrlicher Arbeit in einer Welt, in der ein Scharlatan wie Rock ganz en passant das Marketing ohne Produkt erfindet – und damit nicht nur durch­kommt, son­dern durchschlagenden Erfolg feiert –, wohingegen Tony eindrucksvoll das Ge­fühl von Entfremdung in der Überflußgesellschaft verkörpert. Außer­dem zu genießen: Beton­frisuren (Doris), Dackelblicke (Rock), knallfarbene Gesichter (Tony), rollende Augen (alle) sowie unbe­schreib­liche (weil unsichtbare) Exzesse unter Einfluß von ›Vip‹. ›Vip‹? ›Vip‹! (»Everything I’ve got, I owe to ›Vip‹.«)

R Delbert Mann B Stanley Shapiro, Paul Henning K Arthur E. Arling M Frank De Vol A Alexander Golitzen, Robert Clatworthy S Marjorie Fowler P Martin Melcher, Stanley Shapiro D Doris Day, Rock Hudson, Tony Randall, Edie Adams, Jack Kruschen | USA | 107 min | 1:1,85 | f | 20. Dezember 1961

19.12.61

Der Traum von Lieschen Müller (Helmut Käutner, 1961)

Helmut Käutners kabarettistische Revue vom Tanz ums goldene Kalb: Lieschen Müller (Sonja Ziemann), die kleine Bankangestellte aus Dingskirchen, träumt den Traum vom großen Glück: Roben aus goldener Seide, darauf Saphirsterne, darüber Platinnerze, dazu offene Luxuswagen, feudale Hotels und ein attraktiver Bräutigam auf Bestellung – das Leben als einzige Wunscherfüllung. Möglich macht es Impressario Dr. Schmidt (Martin Held), der für die Durchschnittsfrau einen toten Onkel aus Amerika und eine Erbschaft in Höhe von drei Milliarden Dollar erfindet. Das brave Lieschen Müller verwandelt sich in die allseits umschwärmte Liz Miller, der man auf Grund ihres fiktiven Vermögens unbegrenzten Kredit gewährt … In eastmancolorbunten Showkulissen und allegorischen Szenen, mit satirischen Songs und allerlei skurrilen Filmtricks erklärt Käutner das Geheimnis des wirtschaftlichen Wachstums: Wo Geld ist, kommt Geld hin – denn: »Das Geld ist gern beim Geld zu Gast.« Und auch das virtuelle Kapital trägt (jedenfalls für manche) greifbare Früchte, ganz einfach »weil man jeden Käse glaubt«. Was die einen miesepetrig als Betrug bezeichnen, ist für die anderen eine reife Leistung der ökonomischen Phantasie. Das oberste Gebot des Finanzkapitalismus lautet: So tun, als ob. Letztlich schreckt Käutner leider vor der Konsequenz seiner eigenen Analyse zurück und verkündet – vermutlich wider besseres Wissen: »Das Glück, das kann keiner sich kaufen, / Und gäb’ er Milliarden dafür.« Lieschen Müller wird aus ihrem bunten Traum in die schwarzweiße Rahmenhandlung zurückversetzt, wo sie Tröstung durch einen adretten jungen Mann (Helmut Griem) und die Aussicht auf ein Einfamilienhaus im Wiesengrund erfährt.

R Helmut Käutner B Helmut Käutner, Willibald Eser K Günther Senftleben M Bernhard Eichhorn, Michel Legrand A Otto Pischinger, Herta Pischinger S Klaus Dudenhöfer P Ilse Kubaschewski D Sonja Ziemann, Martin Held, Helmut Griem, Cornelia Froboess, Peter Weck, Wolfgang Neuss | BRD | 92 min | 1:1,66 | sw/f | 19. Dezember 1961

# 904 | 31. August 2014

15.12.61

One, Two, Three (Billy Wilder, 1961)

Eins, zwei, drei

»Is everybody in this world corrupt?« – »I don't know everybody.« Berlin, der Nabel des Kalten Krieges, kurz vor der (fürs erste) endgültigen Abdichtung des Eisernen Vorhangs (»The situation is hopeless, but not serious.«): Während Coca-Cola nach Osten expandieren will, verführen die Roten (ohne Unterwäsche!) die schönsten Frauen der freien Welt. Dazu noch Umlautunterricht, Säbeltanz und verschiedenfarbige Brüste in gepunkteten Kleidern. Bei einem mopsfidelen Abend im Grand Hotel Wilder (»It used to be the Grand Hotel Göring, and before that, it was the Grand Hotel Bismarck.«) vermittelt »One, Two, Three« nicht nur alles, was man über Kapitalismus (»… is like a dead herring in the moonlight. It shines, but it stinks.«) und Kommunismus (»No comment!«) wissen muß – der Film ist auch ein lohnendes Studienobjekt für perfektes Komödientiming: Cagney! Pulver!! »Schlemmer!!!« PS: Nicht zu vergessen: Hotte Ludwig Piffl (der ideale Schwiegersohn) und Graf Hubsi von Droste-Schattenburg (aus einem uralten Geschlecht von Blutern).

R Billy Wilder B Billy Wilder, I. A. L. Diamond V Ferenc Molnár K Daniel L. Fapp M André Previn A Alexandre Trauner S Daniel Mandell P Billy Wilder D James Cagney, Horst Buchholz, Pamela Tiffin, Arlene Francis, Liselotte Pulver | USA | 115 min | 1:2,35 | sw | 15. Dezember 1961

13.12.61

Paris nous appartient (Jacques Rivette, 1961)

Paris gehört uns

»Paris n'appartient à personne.« – Anne, eine junge Frau aus der Provinz (Betty Schneider), zum Studium nach Paris gekommen, gerät in den Strudel einer mysteriösen (möglicherweise imaginären) Intrige: Juan, ein Exilspanier ist tot, vielleicht hat er sich umgebracht, vielleicht ist er ermordet worden; Anne, von den peu à peu ins Spiel gebrachten Verdachtsmomenten eines weltumspannenden Komplotts gleichermaßen beunruhigt und fasziniert, macht sich daran, die Hintergründe des rätselhaften Todes aufzuklären – auch um das Leben des (mutmaßlich) ebenfalls im Visier der nebulösen Verschwörer stehenden Theaterregisseurs Gérard (Giani Esposito) zu schützen … Jacques Rivette läßt ein paar vage Andeutungen fallen – McCarthy, Franco und die Falange, Schatten von Hiroshima – und schickt seine unbedarfte Protagonistin auf eine konfuse Recherche durch die Dachkammern, Hotelzimmer und Rive-gauche-Appartements der intellektuellen Bohème. Das Paris des Films – feindlich, eng, entseelt – wird zur Bühne eines kalten, (bewußt) inkohärenten Theaters der Paranoia, das seine sonderbare Stimmung in erster Linie aus dem Kontrast zwischen den statisch-distanzierten, oft beinahe manierierten Darbietungen der Akteure und der improvisatorischen Flüchtigkeit der Bilder gewinnt. Das Leben, von dem es einmal heißt, es sei nicht absurd aber chaotisch, scheint fundamental bedroht von zerstörerischen Kräften – Geld, Polizei, Ideologien –, die, verderblich hinter der Szene wirkend, allezeit zu ahnen, doch niemals zu greifen sind: »Le mal n’a pas qu’un visage. Ça serait trop facile.«

R Jacques Rivette B Jacques Rivette, Jean Gruault K Charles L. Bitsch M Philippe Arthuys S Denise de Casabianca P Roland Nonin, Claude Chabrol D Betty Schneider, Giani Esposito, Françoise Prévost, Daniel Crohem, François Maistre | F | 140 min | 1:1,37 | sw | 13. Dezember 1961

6.12.61

Le comte de Monte Christo (Claude Autant-Lara, 1961)

Der Graf von Monte Christo

Claude Autant-Lara verarbeitet Alexandre Dumas’ unvergängliche Vergeltungskolportage zu respektabler (und durchgehend kurzweiliger) filmischer Dutzendware. Die abenteuerlich-romantische Mär von der Wiederkunft des von »guten Freunden« verratenen und in den Abgrund des (vorläufigen) Vergessens gestürzten Seemannes Edmond Dantès in der Gestalt des steinreichen Rachegrafen von Monte Christo prunkt mit einer Reihe visueller Schauwerte, wobei der Regisseur seine eigentliche Stärke, die formale Stilisierung, dem herkömmlicher Naturalismus gediegener Unterhaltungsepik opfert – nur selten sorgen schrille Beleuchtungseffekte oder farbsymbolische Dekors für gestalterischen Mehrwert. Die Akteure (allen voran Louis Jourdan in der Titelrolle und Yvonne Furneaux als seine große Liebe Mercédès) tragen ihre pathosklirrenden Texte mit jener tiefen Inbrunst vor, zu der nur die allerbesten zweitklassigen Schauspieler fähig sind.

R Claude Autant-Lara B Jean Halain V Alexandre Dumas père K Jacques Natteau M René Cloërec A Max Douy S Madeleine Gug P Georges Charlot D Louis Jourdan, Yvonne Furneaux, Pierre Mondy, Jean-Claude Michel, Bernard Dhéran | F & I | 180 min | 1:2,35 | f | 6. Dezember 1961