30.1.58

Witness for the Prosecution (Billy Wilder, 1958)

Zeugin der Anklage 
 
Manchmal hilft nur die Wahrheit, wenn es gilt, die Wahrheit zu vertuschen … Es ist überaus spannend zu beobachten, wie Billy Wilder – unterstützt von einem bemerkenwerten Ensemble – Agatha Christies kühl durchkonstruierte kriminalistische Unterhaltungsmaschine in ein lebendiges Drama verwandelt. Tyrone Power verkörpert den des Mordes an einer älteren Gönnerin dringend verdächtigten Taugenichts Leonard Vole, über dessen charmantem Haupt die Schlinge des Galgens pendelt; Marlene Dietrich, als doppelspielerische (deutsche!) Ehe­frau des Angeklagten, darf schmissig dazu singen (»Come on! Join the party! Have a hearty glass of rum!«) und (in zwiefachem Sinne) als wahrhaft große Schauspielerin brillieren: »I never faint because I’m not sure that I will fall gracefully and I never use smelling salts because they puff up the eyes.« Eigentlicher Star der wendungsreichen Londoner Gerichts­show ist indes Charles Laughton in der dankbaren Rolle des ebenso brillanten wie herz­schwachen, krankenschwesterlicher Kuratel immer wieder trickreich entschlüpfenden Verteidigers Sir Wilfrid Robarts, der das Heil seines Klienten umstandslos über die eigene angeschlagene Gesundheit stellt und staunend erleben muß, daß die Herstellung irdischer Gerechtigkeit nicht immer den vorgesehenen institutionellen Wegen folgt.

R Billy Wilder B Billy Wilder, Harry Kurnitz V Agatha Christie K Russell Harlan M Matty Malneck A Alexandre Trauner S Daniel Mandell P Edward Small D Charles Laughton, Tyrone Power, Marlene Dietrich, Elsa Lancaster, John Williams | USA | 116 min | 1:1,66 | sw | 30. Januar 1958

29.1.58

Maigret tend un piège (Jean Delannoy, 1958)

Maigret stellt eine Falle

Sommer in Paris – eine Serie von Frauenmorden in den verwinkelten Straßen des Marais (einem eher kleineleutemäßigen und ziemlich zerschlissenen Quartier) hält die Stadt in Atem. Jean Delannoy läßt gewissenhaft und in aller filmischen Ruhe ermitteln: »Maigret tend un piège« bietet wenig an vordergründigen Schauwerten und noch weniger an äußerer Spannung (bald schon wird klar, wer die Bluttaten begangen hat, deren (nicht allzu) tiefliegende familiäre (Ab-)Gründe in einer Fleischerei zu suchen sind), dafür jede Menge Dreigroschenpsychologie sowie einige beachtliche Schauspielerleistungen: Lucienne Bogaert als besitzergreifende Terrormutter, Jean Desailly als ewiger Junge mit mörderischer Wut, Annie Girardot als Ehefrau, deren rätselhafte Liebe bis zum Letzten geht, und – gardons le meilleur pour la fin – Jean Gabin als unerschütterlicher Kommissar Maigret, aus dessen einfühlender, gutbürgerlicher Jovialiät ganz überraschend eine virile, proletarische Energie hervorbrechen kann.

R Jean Delannoy B Jean Delannoy, Michel Audiard, Rodolphe-Maurice Arlaud V Georges Simenon K Louis Page M Paul Misraki A René Renoux S Henri Taverna P Jean-Paul Guibert, Claude Hasser D Jean Gabin, Annie Girardot, Jean Desailly, Lucienne Bogaert, Gérard Séty | F & I | 119 min | 1:1,37 | sw | 29. Januar 1958

L’ascenseur pour l’échafaud (Louis Malle, 1958)

Fahrstuhl zum Schafott 

Ein Film wie eine 45er Schallplatte, die mit 33er Geschwindigkeit abgespielt wird: Alles scheint fast unerträglich zerdehnt – die Bezeugungen der Liebe ebenso wie das ironisch-verächtliche Wirken des Zufalls, und selbst die Ausbrüche von Aktion wirken seltsam eingefroren. Allein die Szene, in der eine flunschmündige Jeanne Moreau – auf der vergeblichen Suche nach ihrem im Fahrstuhl festhängenden Geliebten und Mordkomplizen (Maurice Ronet, der so clever, so perfekt sein wollte) – mit leerem Blick zu Miles Davis’ lamentierender Trompete durch das schwarzglänzende Paris eher schwebt als geht, scheint Stunden zu dauern. Was schief gehen kann, geht schief in diesem (von Henri Decaë mit eisiger Distanz fotografierten) Film, mit dem Louis Malle wohl stilvoll mitteilen möchte, daß das Leben nirgendwo anders enden kann als eben auf dem Schafott ... und daß man auf dem endlos langen Weg dorthin auch noch ständig auf die Fresse fliegt. Wenn einem nicht alles so zum Sterben egal wäre, könnte man herzlich darüber lachen.

R Louis Malle B Roger Nimier, Louis Malle V Noël Calef K Henri Decaë M Miles Davis A Rino Mondellini, Jean Mandaroux S Léonide Azar P Jean Thuillier D Jeanne Moreau, Maurice Ronet, Georges Poujoly, Yori Bertin, Lino Ventura | F | 92 min | 1:1,66 | sw | 29. Januar 1958

23.1.58

Endstation Liebe (Georg Tressler, 1958)

»Jetzt wollen Sie mich sicherlich küssen.« – »Sie merken aber auch alles.« – »Muß das denn sein?« Ein Nichts von einer Story: Ein paar Jungs, die bei Osram am Fließband stehen, wetten Sonnabend mittag darum, ob es Betriebscasanova Mecki (Horst Buchhholz) schafft, Christa, die Neue aus dem Büro (Barbara Frey), übers Wochenende rumzukriegen – mit fünf Mark sind Sie dabei! (»Zeit bis Montag früh« sollte der Film nach dem Willen des Drehbuchautors Will Tremper eigentlich lapidar heißen, aber Verleihchefin Ilse Kubaschewski, wie immer am Puls von Lieschen Müller, bestand auf dem, wie sie meinte, massenkompatibleren Titel »Endstation Liebe«.) Natürlich gelingt es dem zielbewußten, hübschen Burschen, das süße, spröde Mädchen von sich zu überzeugen – und ebenso natürlich kommen ihm wahre (= bisher unbekannte) Gefühle in die Quere … Die Qualität des Werks liegt im Verzicht auf eine raffinierte Handlungsführung, in den knappen, unsentimentalen Dialogen und in der mileuechten Berliner Atmosphäre, die Regisseur Georg Tressler und sein Kameramann Helmuth Ashley kreieren: der Stumpfsinn der Fabrikarbeit und ein sonntägliches Fußballspiel, ein Kaffeetrinken mit gestelzten Verwandten und ein turbulenter Abend im Catcherzelt, ein nächtlicher Spaziergang und eine imaginäre Fahrt um die Welt. »Endstation Liebe« hält souverän die Waage zwischen Spiel und Ernst, die Protagonisten vollführen subtile Gratwanderungen zwischen amourösem Zeitvertreib und echter Gemütsbewegung, zwischen emotionaler Enttäuschung und dem eigensinnigen Traum vom kleinen Glück … Dann beginnt die neue Woche. Wieder Alltag. Wieder Fließband. Christa läuft durch die Werkhalle. Mecki lächelt. Und der Stumpfsinn erscheint plötzlich ein bißchen weniger stumpf.

R Georg Tressler B Will Tremper K Helmuth Ashley M Martin Böttcher A Herbert Kirchhoff S Kurt Zeunert P Wenzel Lüdecke D Horst Buchholz, Barbara Frey, Karin Hardt, Franz Nicklisch, Harry Raymon | BRD | 85 min | 1:1,66 | sw | 23. Januar 1958

16.1.58

Eva küßt nur Direktoren (Rudolf Jugert, 1958)

Karl Müller (Joachim Fuchsberger), einfacher Buchhalter bei der Wiener C. Rotter A.G., verliert sein Herz an die hübsche Sekretärin Eva Brunner (Chariklia Baxevanos), die sich lieber von den Direktoren des Unternehmens anflirten läßt … Mit vielen Umschweifen (Begriffsstutzigkeiten und Fehlschlüssen, Eifersucht und Erbschaft), aber beklagenswert wenig Witz schildert Rudolf Jugert das komplizierte Zueinanderfinden des füreinander bestimmten Paares. Akzeptabel ist die lieblos abgespulte Liebesklamotte immer dann, wenn die Mechanik des Gerüchts ins Spiel kommt: Vom böswilligen Büroklatsch bis zum heimtückischen Tratsch im Treppenhaus, von der einfachen Indiskretion bis zur handfesten Lüge, vom haltlosen Verdacht unter Nachbarn bis zum fiesen Anschwärzen bei den Polizeibehörden ist in diesem auffallend unlustigen Lustspiel alles dabei. Besonders Margarete Haagen, in der Rolle einer betagten Hausmeisterin, die mit moderner Spiegeltechnik alles Geschehen in ihrem Revier rigoros überwacht, wirkt wie eine Illustration des von Heimito von Doderer in seinem »Repertorium« beschriebenen »conciergischen Charakters«: »In einzelnen Wiener Zinshäusern konnten bei ein und derselben Hausmeisterin acht bis zehn Paar Augen beziehungsweise Ohren festgestellt werden.«

R Rudolf Jugert B Alfred Solm, Fritz Eckhardt V Hanna Seyringer K Elio Carniel M Carl de Groof A Theodor Harisch S Paula Dvorak P Karl F. Sommer D Joachim Fuchsberger, Chariklia Baxevanos, Margarete Haagen, Ulrich Bettac, Oskar Sima, Karl Lieffen | A | 97 min | 1:1,37 | sw | 16. Januar 1958

# 878 | 10. Juni 2014

15.1.58

Bonjour Tristesse (Otto Preminger, 1958)

Bonjour Tristesse

»I live with melancholy, / My friend is vague distress.« Das Schwarzweiß der Gegenwart. Die Farbe der Erinnerung. Der Sommer. Die Sonne. Das Meer. Der leichtlebige Vater (Raymond: David Niven). Die frühreife Tochter (Cécile: Jean Seberg). Die flotte Geliebte (Elsa: Mylène Demongeot). Das Blau des Himmels. Das Grün der Pinien. Das Rot der Felsen. Das Spiel. Die Sorglosigkeit. Die Distanz. Der Überschwang. Die Frau von Welt (Anne: Deborah Kerr). Die Ernsthaftigkeit. Die Rivalität. Die Nähe. Die Eifersucht. Die Verlobung. Die Angst. Die Intrige. Der Schock. Der »Unfall«. Der Tod. Die Schuld. Das Dröhnen der Erinnerung. Die Grabesstille der Gegenwart ... »I wake up every morning, / And say, ›Bonjour tristesse‹.« ... Die Salons und die Partykeller von Paris, die Villen und die Vergnügungsstätten der Côte d’Azur, elegante Kleider und schnittige Autos, die Jagd nach dem Vergnügen und die Straßen der Traurigkeit ... »My smile is void of laughter, / My kiss has no caress.« ... 94 attraktiv überflüssige, exklusiv vergeudete Minuten, oder um es mit Cécile zu sagen: »What a hopeless waste of time.« Die Verschwendung von Zeit aber ist der endgültige Luxus, da sie um keinen Preis der Welt ersetzt werden kann. Insofern präsentiert Otto Preminger mit seiner sonnenhell-schattenreichen CinemaScope-Adaption des wehmütig-flirrenden Debütromans der frühreifen Françoise Sagan einen der kostbarsten (und schmerzhaft schönsten) Filme überhaupt. »I’m faithful to my lover, / My bitter-sweet tristesse.«

R Otto Preminger B Arthur Laurents V Françoise Sagan K Georges Périnal M Georges Auric A Roger Furse S Helga Cranston P Otto Preminger D David Niven, Jean Seberg, Deborah Kerr, Mylène Demongeot, Geoffrey Horne | USA | 94 min | 1:2,35 | f | 15. Januar 1958

Das Wirtshaus im Spessart (Kurt Hoffmann, 1958)

»Ach, das könnte schön sein / als friedlicher Bürger / ein ehrbares Leben / zu Haus zu beschließen.« Kurt Hoffmann reflektiert in Form eines biedermeierlichen Singspiels die Wechselwirkung von Ehrbarkeit und Verbrechen. In gewisser Weise hält sein Film der Nation, die kurz zuvor noch mordend und brandschatzend über einen ganzen Kontinent herfiel, um sich eine Weltsekunde später gemütlich bei Eierlikör und Buttercremetorte im Gelsenkirchener Barock einzurichten, einen hübsch verschnörkelten Spiegel vor. Lilo Pulver (als kecke Komteß), Carlos Thompson (als schneidiger Räuberhauptmann), Hubsi von Meyerinck (als blasierter Kommißkopp) sowie, nicht zu vergessen, Wolfgang Neuss und Wolfgang Müller als Banditen mit Drang zu Ruhe und Frieden – sie alle glänzen doppelbödig in dieser heiter-ruchlosen Apotheose der Harmlosigkeit.

R Kurt Hoffmann B Heinz Pauck, Luiselotte Enderle V Wilhelm Hauff K Richard Angst M Franz Grothe A Robert Herlth S Claus von Boro P Georg Witt D Liselotte Pulver, Carlos Thompson, Günther Lüders, Rudolf Vogel, Hubert von Meyerinck | BRD | 99 min | 1:1,66 | f | 15. Januar 1958

10.1.58

Tatort Berlin (Joachim Kunert, 1958)

Ein junger Fernfahrer (schmollippig: Hartmut Reck) kommt aus dem Knast zurück nach Ostberlin, erhält die Gelegenheit sich zu bewähren, wird wieder in den Strudel des Verbrechens gezogen – wer einmal aus dem Blechnapf frißt ... Einerseits ein typischer Defa-Propagandakrimi (der böse Wind weht von West), auf der anderen Seite ein (von Joachim Kunert beinahe zu) unaufgeregt inszeniertes, annähernd neorealistisches Stimmungsbild der zerrissenen deutschen Hauptstadt. Durch die Tristesse des »Tatort Berlin« mit seinen unkrautüberwucherten Trümmerarealen schlagen sich Hans-Peter Minetti und Jochen Brockmann als Ermittler in zweifacher Mordsache, Sonja Sutter als kleinkapitalistische Schlampe, Harry Hindemith (ganz gegen den Typ besetzt) als lumpiger Schieber. Wie es sich für den Sozialismus gehört, zeigt am Ende der (nicht nur in diesem Fall: brüderliche!) Schurke sein wahres Gesicht, und für die im Herzen Guten wendet sich alles zum Guten.

R Joachim Kunert B Jens Gerlach, Joachim Kunert K Otto Merz M Günter Klück A Hans Poppe S Evelyn Carow P Erich Albrecht D Hartmut Reck, Hans-Peter Minetti, Harry Hindemith, Martin Flörchinger, Annegret Golding | DDR | 86 min | 1:1,37 | sw | 10. Januar 1958