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18.12.74

In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod (Alexander Kluge & Edgar Reitz, 1974)

»Ich habe eine gewisse Übersicht. Die Lage ist hochkompliziert.« Eine mittlere Großstadt in der Bundesrepublik Deutschland. Der Ort heißt Frankfurt und hat gesellschaftlichen Modellcharakter. Die Verhältnisse sind mit einer kohärenten Erzählung nicht zu fassen. Die Zusammenhänge liegen in den Widersprüchen. Alexander Kluge und Edgar Reitz erzählen die Geschichte einer Beischlafdiebin, die um die Defizite männlicher Versprechungen weiß, sowie die Geschichte einer östlichen Geheimagentin, die – anstatt sogenannte Staatsgeheimnisse auszuspähen (welche man genauso gut im Wirtschaftsteil der FAZ nachlesen könne) – mit ihren Mikrofonen und Kameras die konkrete Wirklichkeit untersucht; sie ist der festen Überzeugung, daß dort die wahren Geheimnisse liegen. Auch Kluge und Reitz studieren die konkrete Wirklichkeit: Karnevalssitzungen und Häuserräumungen, Tagungen von Astronomen und jungen Unternehmern, Polizeieinsätze und Parteiversammlungen. Es ist »die Sprechweise öffentlicher Ereignisse«, die im Mittelpunkt ihres Interesses steht: das blasierte Geschwätz eines Bundestagsabgeordneten, die technokratischen Rechtfertigungen eines Polizeipräsidenten vor seinen Genossen, die Streikdiskussion von Opernangestellten, die papierdeutschen Erklärungen eines Abbruchunternehmers. »Gefühle zählen nicht, Fakten zählen«, sagt ein unzufriedener Führungsoffizier zu der Agentin, die sich in Lyrismen ergehe, anstatt Handfestes zu liefern. Kluge und Reitz versuchen, die Gefühlstiefe des Faktischen auszuloten. »Gibt es ein Leben vor dem Tod?« fragt ein Graffiti in einem besetzten Abrißhaus im Frankfurter Westend. Der Film kennt keine Antwort, bringt aber eine Überlegung von Karl Marx ins Spiel: »Man muß den versteinerten Dingen ihre eigene Melodie vorspielen, um sie zum Tanzen zu bringen.«

R Alexander Kluge, Edgar Reitz B Alexander Kluge, Edgar Reitz K Edgar Reitz, Alfred Hürmer, Günter Hörmann M diverse S Beate Mainka-Jellinghaus P Alexander Kluge, Edgar Reitz D Dagmar Bödderich, Jutta Winkelmann, Alfred Edel, Kurt Jürgens, André Mozart | BRD | 90 min | 1:1,37 | f | 18. Dezember 1974

# 899 | 25. Juli 2014

23.5.74

That’s Entertainment (Jack Haley Jr., 1974)

Das gibt’s nie wieder

»Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vornehmen unter dem Himmel hat seine Stunde.« Die Zeit des Filmmusicals waren die 30er, 40er und 50er Jahre des 20. Jahrhunderts; der Ort dieses Vornehmens war das Studio Metro-Goldwyn-Mayer (»More stars than there are in heaven.«) in Hollywood, California. Lange, lange nach dem heyday des Genres, zu ihrem 50. Geburtstag im Jahre 1974, schenkte sich die glorreichste aller Traumfabriken einen Zusammenschnitt der Gipfelpunkte ihrer Kunstproduktion, moderiert von älter gewordenen Berühmtheiten (Astaire, Crosby, Kelly, Reynolds, Rooney, Sinatra), die in den Trümmern des legendären MGM-backlots der Ära ihres Ruhms gedenken. Vordergründig ein fidel-melancholischer Singin’-and-dancin’-Porno, der nur aus den Cumshots eines (be)rauschenden Gestern besteht, macht »That’s Entertainment!« auf faszinierende Art und Weise anschaulich, wie das Musical in seinem formal entfesselten audiovisuellen Wahnsinn zum »absoluten« Film wird: Unterhaltung als reine Rhythmisierung von Farbe, Form und Ton – Ausstattungskino als Triumph der Transzendenz.

R Jack Haley Jr. B Jack Haley Jr. K Ernest Laszlo, Russell Metty M Henry Mancini S Bud Friedgen P Jack Haley Jr. D Fred Astaire, Bing Crosby, Gene Kelly, Peter Lawford, Liza Minnelli | USA | 135 min | 1:1,85 | f | 23. Mai 1974

5.4.71

Le chagrin et la pitié (Marcel Ophüls, 1969/1971)

Das Haus nebenan

Chronique d’une ville française sous l’occupation … Marcel Ophüls nimmt Clermont-Ferrand, Heimat des Michelin-Männchens und Hauptstadt der Auvergne, als Ausgangs- und Angelpunkt für ein filmisches Panorama der deutschen Besatzung Frankreichs. Seine gut vierstündige Dokumentation hinterfragt beharrlich, aber ohne Rechthaberei, die Nachkriegsmythologie einer Nation, die angeblich aus einem Heer von Résistance-Kämpfern und einer Handvoll verirrter Deutschenfreunde bestand. Der erzählerische Bogen spannt sich von der katastrophalen Niederlage gegen die Truppen der Wehrmacht und der Abwicklung der Dritten Republik, über die Etablierung des ›État français‹ durch den greisen Marschall Pétain, der statt der konstitutionellen Devise »Liberté, Égalité, Fraternité« das konservative Motto »Travail, Famille, Patrie« wählte und in der Zusammenarbeit mit den Deutschen die einzige Chance sah, einen Rest von Souveränität zu bewahren, bis hin zur Befreiung Frankreichs durch die Alliierten und dem glanzlosen Ende des Vichy-Regimes im Schloß von Sigmaringen. In den Aussagen einer großen Zahl von Zeitzeugen läßt Ophüls die Widersprüche dieser düsteren Epoche lebendig werden; er hört ihnen allen aufmerksam zu: den Gaullisten, Kommunisten und Faschisten, den Adligen, Bürgerlichen und Bauern, den Widerständlern, Mitläufern und Verrätern, dem vorgestrigen deutschen Offizier, dem schwulen britischen Spion dem distinguierten französischen SS-Mann. Das vielfältige Konzert der Stimmen führt freilich nicht zur filmischen Unverbindlichkeit. Ophüls legt klar, daß Frankreich der einzige im Zweiten Weltkrieg von den Deutschen besiegte Staat war, dessen Regierung, offen oder insgeheim unterstützt von der Mehrheit des Volkes, sich freiwillig zur (reibungslos funktionierenden) Kollaboration mit den nationalsozialistischen Besatzern entschloß, daß es neben der später glorifizierten Résistance viel Indifferenz, viel Pragmatismus, viel Perfidie gab: Mit »Le chagrin et la pitié« geht die Heldenerzählung vom kollektiven Abwehrkampf gegen die feindlichen Okkupanten ein für alle Mal zu Ende.

R Marcel Ophüls B Marcel Ophüls, André Harris K André Gazut, Jürgen Thieme S Claude Vajda P André Harris, Alain de Séduy | F & BRD & CH | 256 min | 1:1,37 | sw | 5. April 1971 (TV BRD: 18. Dezember 1969)

# 952 | 8. Juni 2015

14.10.67

Herbst der Gammler (Peter Fleischmann, 1967)

»Seit wann gammeln Sie?«
– »Seit 14 Monaten.«
– »Und wie lange wollen Sie’s noch machen?«
– »Das weiß ich nicht. Das ist unbestimmt.« München, 1966. Peter Fleischmann und sein Kameramann Klaus Müller-Laue nähern sich mit forschender Zuneigung einer Gruppe jugendlicher Aussteiger: gemütliche Milchbärte, melancholische Langhaarige, schluffige Parkatypen, die partout keine Lust auf Erwerbsarbeit haben, lieber nachts unter Bäumen im Englischen Garten schlafen und vom Winter im Süden träumen, von einem warmen Plätzchen in Spanien oder in Istanbul. Für den ›Brisk‹-frisierten Bürger und seine ondulierte Gattin hört der Spaß genau an dieser Stelle auf. Denn gingen alle einer geregelten Tätigkeit nach, bräuchte man ja die ganzen Ausländer nicht – und überhaupt: »Die Gammler sind keine Menschen. Die könnte man notfalls auch vergasen.« Früher, ja, da habe es das alles nicht gegeben – ein »kleiner Führer« müßte wieder her, der das ganze Kroppzeug ins Lager sperrt. »Herbst der Gammler« breitet sein dokumentarisches Material eher unsortiert vor dem Betrachter aus, doch gerade die formale Sprödigkeit erlaubt eindringliche Blicke auf den ewigen Abscheu des Normalverbrauchers vor dem Systemverweigerer und auf die stolze (dabei auch ein wenig traurige) Renitenz all jener, die am Rande stehen oder sich bockbeinig selbst dort hinstellen.

R Peter Fleischmann K Klaus Müller-Laue S Peter Fleischmann P Hubert Schonger | BRD | 67 min | 1:1,37 | sw | 14. Oktober 1967

21.1.67

Romy – Portrait eines Gesichts (Hans-Jürgen Syberberg, 1967)

»Ich bin 27. Das ist ja nicht so alt.« Romy Schneider wirkt in diesem schau- und hörlustigen, privatim-insistierenden, gelegentlich überaus penetranten Filmportrait nur selten wie 27. Sie wirkt eher wie 16 oder wie 45, manchmal auch wie 80. Der vitale Schwung, die muntere Selbstüberschätzung einer erfolgreichen Zwanzigerin geht der geborenen Schauspielerin (fast) völlig ab. Romy unter den Augen von Hans Jürgen Syberberg – das ist ein verwirrter Backfisch, der ein überragendes Talent in sich spürt, aber keine Ahnung hat, wie es zu wecken wäre, das ist eine gestandene Diva, die in ihrem Leben vieles richtig gemacht hat, das sich in der Rückschau als zweifelhaft, wenn nicht gar als grundverkehrt, erweist, das ist eine alte junge Frau mit naiver Begeisterungsfähigkeit, mit tiefer Skepsis, mit überkandidelt-mürber Stimme, eine Frau, deren schlummernde Möglichkeiten sich schon als desillusionierende Erfahrungen manifestiert haben. Drei Tage in Kitzbühel: Schnappschüsse im glitzernden Schnee, Großaufnahmen am knisternden Kamin … ein Gesicht: traurig und schön, enorm dünnhäutig und unverhohlen professionell … ein televisionäres Lied von der Sehnsucht nach einem Platz, der einem gehört, wo man seine Ruhe hat, wo man hingehen kann …

R Hans Jürgen Syberberg K Kurt Lorenz, Klaus König S Barbara Mondry, Michaela Berchtold D Romy Schneider P Rob Houwer | BRD | 60 min | 1: 1,37 | sw | 21. Januar 1967

28.2.64

Konkurs (Miloš Forman, 1964)

Wettbewerb

Die Betreiber der Prager Kleinkunstbühne ›Semafor‹ veranstalten einen Wettbewerb, um eine neue Vokalistin für das Ensemble zu finden. Vor den Musikern Jiří Suchý und Jiří Šlitr (in der wirklichen Wirklichkeit Betreiber der Prager Kleinkunstbühne ›Semafor‹) demonstrieren Dutzende junger Kandidatinnen mehr oder weniger überzeugend ihr stimmliches Können – unter ihnen eine Fußpflegerin mit Drang zu Höherem und die schmollmündig-hochnäsige Sängerin einer Rock’n’Roll-Combo, die im entscheidenden Augenblick keinen Ton herausbringt. Miloš Forman betrachtet die (halb arrangierte, halb lebensechte) Talentschau mit dokumentarischer Distanz, ohne sich über Hingabe und Zuversicht der Aspirantinnen lustig zu machen.

R Miloš Forman B Miloš Forman, Ivan Passer K Miroslav Ondříček M Jiří Šlitr S Miroslav Hájek P Vladimír Bor, Jiří Šebor D Jiří Suchý, Jiří Šlitr, Věra Křesadlová, Markéta Krotká, Ladislav Jakim | CS | 47 min | 1:1,37 | sw | 28. Februar 1964

# 1170 | 18. August 2019

20.12.63

O něčem jiném (Věra Chytilová, 1963)

Von etwas anderem

Zwei Frauen im Gegenschnitt: Eva, eine Kunstturnerin (Olympia-Goldmedaillengewinnerin Eva Bosáková), die von unerbittlichen Trainern auf die Weltmeisterschaft (Prag 1962) vorbereitet wird, sowie Věra, Hausfrau und Mutter, die ihres gutbürgerlichen Ehelebens überdrüssig ist – dokumentarische Beobachtung auf der einen, tragikomische Alltagsfiktion auf der anderen Ebene. Während die eine fortdauernd einem rigiden Übungsprogramm unterworfen ist, sieht sich die andere mit einem gleichgültigen Gatten und einem verzogenen Sohn konfrontiert. Auch wenn die Protagonistinnen der Erzählung(en) einander nicht begegnen (lediglich zu Beginn sieht Věra Eva kurz im Fernsehen), schafft Regisseurin und Autorin Věra Chytilová in ihrem ersten Spielfilm pointierte thematische und emotionale Bezüge, erforscht – aus weiblicher Perspektive – das Walten von Fremdbestimmung und Unzufriedenheit, studiert die Möglichkeiten von Autonomie und Emanzipation, zeigt den Preis des Erfolges und die Versuchung des Scheiterns, stellt – ohne eine Antwort vorgeben zu wollen – die Frage, ob und wie es sich richtig leben läßt.

R Věra Chytilová B Věra Chytilová K Jan Čuřík M Jiří Šlitr A Vladimír Labský Ko Dagmar Cejnková S Miroslav Hájek P Ladislav Fikar, Bohumil Šmída D Eva Bosáková, Věra Uzelacová, Josef Langmiler, Jiří Kodet, Milivoj Uzelac jun. | CS | 90 min | 1:1,37 | sw | 20. Dezember 1963

# 1175 | 18. August 2019

1.6.62

Die Parallelstraße (Ferdinand Khittl, 1962)

Unter Anleitung und Überwachung eines erbarmungslos-freundlichen Protokollführers (Friedrich Joloff) versuchen fünf Herren, den Sinn und Zusammenhang einer langen Reihe ihnen zur Prüfung und Einordnung vorgelegter (Film-)Dokumente zu entschlüsseln. Ihnen bleibt nur mehr wenig Zeit, und sie sind durch unergiebige Diskussionen über das Gesehene und Gehörte bereits hoffnungslos in Rückstand geraten. Es ist nicht die erste Gruppe, die diese Aufgabe zu bewältigen versucht, und es wird nicht die letzte sein, die daran scheitert. Die Persönlichkeit dessen, der die rätselhaften Unterlagen zusammengetragen hat, liegt dabei ebenso im Dunkeln wie die inhaltliche Zielrichtung des disparaten Materials: Da gibt es die Beschreibung des rückwärts gerichteten Alterungsprozesses eines gewissen Heinrich Himmelreich, Impressionen aus fünf verlassenen Städten, die zu einer einzigen Nekropole des Weltgeistes verschmelzen, Bilder von der New Yorker Börse und vom Overseas Highway, Spekulationen über den Begriff ›Löwenkraft‹ und die Blaue Mauritius, Nacherzählungen historischer Episoden, Fragmente von Feldforschungen aus Südamerika, aus Indochina, aus Ozeanien. Regisseur Ferdinand Khittl – entfernter Vetter von Resnais und Marker, reiselustiger Großonkel von Herzog und Greenaway –, Autor Bodo Blüthner und Kameramann Ronald Martini bieten mit »Die Parallelstraße« zugleich ein lyrisches Labyrinth und einen farbenprächtigen Gedankenfriedhof, eine pseudowissenschaftliche Kartothek und eine kulturkinematographische Wundertüte, einen spöttischen Essay über die Uferlosigkeit von Interpretation, über die Unmöglichkeit, in dieser Welt zu gesicherten Erkenntnissen zu gelangen, und einen Spiel-Film im Wortsinne: ein Spiel mit surrealen Wirklichkeitsverschiebungen und absurden Ordnungsmustern, mit falschen Beweisen und sicherer Todesahnung. »Wir sind in einer lächerlichen Situation. Es kommt mir vor, als würde man jemandem nach dem Weg fragen, und der sagt: ›Gehen Sie immer geradeaus, dann kommen Sie an einen Punkt, da gibt es nur noch zwei Straßen – und davon nehmen Sie die Parallelstraße.‹«

R Ferdinand Khittl B Bodo Blüthner K Ronald Martini M Hans Posegga S Irmgard Henrici P Otto Martini D Friedrich Joloff, Ernst Marbeck, Wilfried Schröpfer, Henry van Lyck, Werner Uschkurat, Herbert Tiede | BRD | 86 min | 1:1,37 | sw & f | 1. Juni 1962

21.7.58

Le chant du styrène (Alain Resnais, 1958)

»On lave et on distille et puis on redistille / et ce ne sont pas là exercices de style.« Der Weg des Kunststoffs vom farbenfrohen Endprodukt zurück zur naturtrüben Materie, von der objekt­haften Konkretisation – Schöpfkelle, Tennisschläger, Badewanne – hinab (oder hinauf?) ins erdgeschichtliche Mysterium: »Ô matière plastique! / D'où viens-tu? Qui es-tu?« In ridikül-hochtönenden Alexandrinern textet sich Raymond Queneau von der knallroten Plastikschüssel auf dem Frühstückstisch der Moderne zurück zum geheimnisvollen Ursprung der fossilen Rohstoffe Kohle und Öl. Alain Resnais folgt der gespreizten sprachlichen Erkundungsreise mit eleganten Dyaliscope-Travellings durch den Maschinenpark und das Röhrengewirr des science-fiktional wirkenden Chemiewerks Pechiney bis in den obskuren Nebel der Schöpfung. Das Hohelied des Plastiks – eine ironische Stilübung zwischen popartiger Technikbegeisterung und manirierter Fortschrittsveralberung.

R Alain Resnais B Raymond Queneau K Sacha Vierny M Pierre Barbaud S Alain Resnais, Claudine Merlin P Pierre Braunberger D Pierre Dux | F | 19 min | 1:2,35 | f | 21. Juli 1958

# 804 | 22. November 2013

5.5.57

Toute la mémoire du monde (Alain Resnais, 1957)

Das Gedächtnis der Welt

»Parce que leur mémoire est courte, les hommes accumulent d’innombrables pense-bêtes.« Ein Traktat über die imposante Technik und den leisen Schrecken der Erinnerung – Erinnerung an das, was Menschen gedacht, formuliert, aufgezeichnet haben. Die Pariser Bibliotèque Nationale als gebautes Gedächtnis, als strukturiertes Sammelsurium, als einerseits vielstimmiges, ande­rer­seits lautloses Silo des Weltwissens. Die Kamera gleitet durch Gänge, durch Säle, durch Lager. Vorbei an Regalen, Regalen, Regalen. 100 Kilometer voll mit Büchern und Akten, mit Zeitungen und Folianten, mit Manuskripten und Comics, mit Tonnen und Abertonnen von bedrucktem und beschriebenem Papier, aber auch mit Münzen und Globen, mit Graphiken und Photographien. Die Bibliothek – ein Depot, ein Zettelkasten, ein Festung der Ideen und der Fiktionen, der Dokumentation und der Phantasie.

R Alain Resnais B Rémo Forlani K Ghislain Cloquet M Maurice Jarre S Alain Resnais P Pierre Braunberger D Jacques Dumesnil | F | 21 min | 1:1,37 | sw | 5. Mai 1957

# 803 | 21. November 2013

8.5.56

Nuit et brouillard (Alain Resnais, 1956)

Nacht und Nebel

»Premier regard sur le camp: 
C’est une autre planète.« Kein Film über die nationalsozialistische Weltanschauung. Kein Film über Antisemitismus. Ein Film über die industrielle Vernichtung von Menschen. Ein Film über die Mechanik und das Mysterium des Bösen. Dabei kein abstrakter Film ohne historische Verortung. Dabei ein konkreter Film voller erschütternder Details. Keine Dokumentation. Literatur. Keine Reportage. Kunst. 1933. 1942. 1945. Belsen. Dachau. Auschwitz. Die Tat: historische Bilder des Geschehens, schwarz-weiß, Anschauungsmaterial aus einer ewigen Gegenwart, Wachtürme, Züge, Schergen, Todgeweihte, Zyklon B, Berge von Haaren, Köpfen, Leibern. Die Erinnerung an die Tat: Bilder des historischen Ortes, Farbe, langsame gleitende Fahrten entlang der unbegreiflichen Vergangenheit, das Gras zwischen den Schienen, elektrische Zäune ohne Strom, Kratzspuren im Beton, Betten aus Backstein, Latrinen, Öfen, Schornsteine. Und die schreckliche Gewißheit: Jede Straße kann in ein Konzentrationslager führen. Noch. Immer.

R Alain Resnais B Jean Cayrol K Ghislain Cloquet, Sacha Vierny M Hanns Eisler S Alain Resnais P Anatole Dauman, Samy Halfon, Philippe Lifchitz Spr Michel Bouquet | F | 32 min | 1:1,37 | sw & f | 8. Mai 1956

5.5.56

Le mystère Picasso (Henri-Georges Clouzot, 1956)

Picasso

Was geschieht im Kopf eines Künstlers, während er künstlerisch tätig ist? Henri-Georges Clouzot will nichts anderes aufdecken als jenen »mécanisme secret qui guide le créateur dans son aventure périlleuse«. Einem Dichter beim Dichten zuzusehen oder einen Komponisten beim Komponieren, verriete nichts vom Mysterium der Kreativität, ließe nichts ahnen von den gefahrvollen Abenteuern der Imagination – aber einem Maler käme man, vielleicht, auf die Schliche, indem man seiner Hand folgte. »Le mystère Picasso« dokumentiert, wie Bilder von Pablo Picasso entstehen. Die Leinwand des Kinos wird zur Leinwand des Malers. Es sind nicht nur Meisterwerke, die geschaffen werden, der Künstler geht auch in die Irre, verwirft, setzt neu an, tastet sich wie ein Blinder durch das Labyrinth der Möglichkeiten. Clouzot, ausgewiesener Fachmann für Spannungsmechanik, hält sich auffallend zurück. Einmal fordert er den Maler heraus, indem er ihn (sichtbar inszeniert) gegen den Zählwerk der Kamera antreten läßt: »Attention, il te reste deux minutes pour la couleur!« Ansonsten beschränkt er sich auf sachliche Zeugenschaft und dezent ironisches Spiel mit den Möglichkeiten des Mediums. Wenn Picasso ausruft: »Donne-moi une grande toile!«, verbreitert Clouzot die Projektionsfläche auf CinemaScope-Format … Eine anregende Studie des schöpferischen Geistes, ohne Theoretisieren, ohne überflüssiges Beiwerk. Nachdem er gut 20 Bilder gemalt hat, steht der Künstler auf und sagt: »Eh bien, c’est fini.« Der Film ist zu Ende, »Le mystère Picasso« bewahrt sein Geheimnis.

R Henri-Georges Clouzot K Claude Renoir M Georges Auric S Henri Colpi P Henri-Georges Clouzot D Pablo Picasso | F | 78 min | 1:1,37/1:2,35 | sw/f | 5. Mai 1956

# 902 | 17. August 2014

1.5.53

Les statues meurent aussi (Alain Resnais & Chris Marker, 1953)

Auch Statuen sterben 

»Quand les hommes sont morts, ils entrent dans l’histoire. Quand les statues sont mortes, elles entrent dans l’art.« Ein gedankenwindungsreicher, bilderströmender Essay über die Spuren, die Zivilisationen im Sand der Zeit hinterlassen, über das Sehen und wie es den betrachteten Dingen seinen Stempel von Bedeutung aufdrückt, über die verlorene Einheit von Mensch und Kosmos, über Schwarz und Weiß, über die Rätsel der Geschichte und die Demütigungen des Kolonialismus. Und, vor allem, über afrikanische Kunst – betrachtet von den Augen der Weißen: ein heimatloses Volk pittoresker Figuren, menschengemachte Objekte, die aus ihrem spirituellen oder gebrauchsgegenständlichen Sinnzusammenhang gefallen sind (oder gerissen wurden), ihres Stolzes beraubte Zeugen einer versunkenen Kultur, exotische Gefangene in den Museumsvitrinen der westlichen Welt. Die Kamera läßt die toten Seelen der Statuen noch einmal lebendig werden, dem Zuschauer naherücken, läßt sie erzählen, auch wenn sie eine unbekannte Sprache sprechen. Bei aller Melancholie bleibt eine Hoffnung auf das Überwinden von Bevormundung und Fremdheit, auf eine Schule des Blicks, die lehrt, uns im anderen zu erkennen.

R Alain Resnais, Chris Marker B Chris Marker K Ghislain Cloquet M Guy Bernard S Alain Resnais P Présence Africaine D Jean Négroni | F | 30 min | 1:1,37 | sw | 1. Mai 1953

# 804 | 21. November 2013