20.9.73

L’emmerdeur (Edouard Molinaro, 1973)

Die Filzlaus

»On a toujours besoin d'un ami dans la vie.« Zwei Herren, Zimmernachbarn im fünften Stock eines südfranzösischen Mittelklassehotels: M. Pignon (Jacques Brel) wurde (wegen eines Psychiaters!) von seiner Frau verlassen und will sich darob das Leben nehmen, M. Milan (Lino Ventura) kennt keine Gefühle und hat einen tödlichen Job zu erledigen. Der Jammerlappen und der Profikiller werden von außergewöhlichen Umständen auf Gedeih und (insbesondere) Verderb aneinandergekettet. »L’emmerdeur« ist reines Schauspielerkino, vielmehr: Körperkino und Gesichterkino, kontrastiv und komparativ: der hypernervöse Schlacks und der massive Klotz, die aufgewühlte Pferdefresse und das gefrorene Steingesicht. Zwar benötigt Édouard Molinaro einen halben (kurzen) Film lang, um die Gegensätze effektiv in Stellung zu bringen, aber sobald es vollbracht ist, gibt es für Brel und Ventura kein kinematographisches Halten mehr. »Vous m'avez sauvé la vie. Je ne l'oublierai jamais.«

R Édouard Molinaro B Francis Veber V Francis Veber K Raoul Coutard M Jacques Brel, François Rauber A François de Lamothe S Monique Isnardon, Robert Isnardon P Jean Dancigers, Alexandre Mnouchkine D Lino Ventura, Jacques Brel, Nino Castelnuovo, Caroline Cellier, Jean-Pierre Darras | F & I | 85 min | 1:1,66 | f | 20. September 1973

# 850 | 15. März 2014

L’événement le plus important depuis que l’homme a marché sur la lune (Jacques Demy, 1973)

Die Umstandshose

Marco (Marcello Mastroianni), Inhaber einer Fahrschule, lebt glücklich und zufrieden mit seiner Freundin Irène (Catherine Deneuve), Besitzerin eines kleinen Friseursalons, und dem gemeinsamen Sohn im Pariser Stadtviertel Montparnasse. Geplagt von Kopfweh, Schwindel, Übelkeit (besonders arg während eines Mireille-Mathieu-Konzerts) begibt sich Marco zum Arzt. Diagnose: Monsieur ist im vierten Monat schwanger. Der behandelnde Gynäkologe ist entzückt, bestätigt der sensationelle Fall doch seine Theorie über die schleichende Veränderung des menschlichen Hormonhaushalts infolge von Ernährungsfehlern (zuviel Hühnchen!) und Umweltverschmutzung ... Jacques Demys (etwas phlegmatisch inszenierte) Alltagsburleske über das Kind im Manne verkehrt zwar die Geschlechterrollen, befaßt sich aber kaum mit der gesellschaftlichen oder beziehungstechnischen Bedeutung von Männlichkeit und Weiblichkeit (»le thème – comment dirais-je? – de la ›maternité masculine‹ ... ou de la ›paternité maternelle‹, si vous préférez«), wirft nur den einen oder anderen spöttischen Seitenblick auf die Reaktionen von Medien, Kommerz und Mitwelt auf das biologische Phänomen, ergeht sich lieber in quietschbuten Kulissen und im Herzeigen eines delikaten schlechten Geschmack (ein orange-brauner Schlafanzug für ihn, ein kobaltblauer Pelzmantel für sie) – dazu paßt das laue Ende der Erzählung, das alles wieder in die natürliche (?) Ordnung der Dinge zurückfinden läßt.

R Jacques Demy B Jacques Demy K Andréas Winding M Michel Legrand A Bernard Evein S Anne-Marie Cotret P Henri Baum D Marcello Mastoianni, Catherine Deneuve, Micheline Presle, Raymond Gérôme, Mireille Mathieu | F & I | 94 min | 1:1,66 | f | 20. September 1973

# 1123 | 5. Juni 2018

19.9.73

Charley Varrick (Don Siegel, 1973)

Der große Coup

»What’s bothering you?« – »I don’t know. Something smells bad.« Charley Varrick (einsilbig-beherrscht: Walter Matthau), einstmals Kunstflieger, inzwischen nicht sonderlich erfolgreich als selbständiger Sprühflugzeug-Pilot tätig, überfällt, um die klamme Kasse aufzubessern, mit Gattin Nadine und zwei weiteren Komplizen ein Provinzbankhaus in New Mexico. Das Unternehmen läuft aus dem Ruder: die Ehefrau und einer der Helfershelfer kommen ums Leben, Charley und sein Mittäter Harman Sullivan (fickrig-beschränkt: Andrew Robinson) haben unversehens eine dreiviertel Million Dollar erbeutet: Mafia-Schwarzgeld (»gambling money, whore money, dope money«), dessen Verlust die reizbaren Besitzer keinesfalls in Kauf zu nehmen gedenken. »All I wanted was a small take, in and out quick, no big deal«, sagt Varrick, stattdessen klebt ihm (und dem jungen Harman) nun ein beinharter Auftragskiller (Joe Don Baker als »Molly«) an den Hacken … Mit phänomenologischem Interesse (und nicht ohne sarkastischen Humor) verfolgt Don Siegel die Anstrengungen seines Protagonisten, den Kopf aus der Schlinge zu ziehen; der lakonische Professionalismus (»You called it, kid.«) und die schier herzzerreißende Unsentimentalität (»Goodbye, Nadine.«), mit der Charley Varrick (»the last of the independents«) zu Werke geht, entsprechen dabei in vollkommener Weise der künstlerischen Haltung des Regisseurs.

R Don Siegel B Howard Rodman, Dean Riesner V John Reese K Michael Butler M Lalo Schifrin A Fernando Carrere S Frank Morriss P Don Siegel D Walter Matthau, Joe Don Baker, John Vernon, Andrew Robinson, Felicia Farr, Sheree North | USA | 111 min | 1:1,85 | f | 19. September 1973

# 1000 | 10. Mai 2016

13.9.73

Belle (André Delvaux, 1973)

»Connaître ou reconnaître …« Mathieu Grégoire (Jean-Luc Bideau), Archivar und Schriftsteller, Spezialist für Liebeslyrik des 16. Jahrhunderts, lebt mit Gattin und fast erwachsener Tochter im beschaulichen Ardennenstädtchen Spa. Eines Nachts, auf der Heimfahrt von einem Vortrag, fährt er im Wald einen Hund an, der verletzt in der Dunkelheit verschwindet. Am nächsten Tag kehrt Mathieu mit einem Jagdgewehr zurück, um das verwundete Tier zu erschießen. Auf seinem Streifzug entdeckt er eine verfallene Hütte, in der eine schöne Frau wohnt, die Mathieus Sprache nicht versteht … Die Situation erinnert an »Un soir, un train«: Wieder beschwört André Delvaux das Irren in spätherbstlicher Einsamkeit, die Unmöglichkeit von zwischenmenschlicher Verständigung. Doch mehr als der Vor(vor)gänger ist »Belle« das Portrait einer zauberisch-entrückten Landschaft. »Tant de tristesses plénières / prirent mon cœur aux fagnes désolées«, dichtete Guillaume Apollinaire über die Hautes Fagnes (das Hohe Venn) im deutsch-belgischen Grenzgebiet. Das entlegene Hochmoor voller Sumpflöcher, überzogen von buschigem Heidekraut, düsterem Nadelgehölz, toten Bäumen und feuchtem Dunst, bildet den märchenhaften Schauplatz für die sich langsam steigernde seelische und erotische Konfusion des Protagonisten, der sich im gleichen Maße von Familie, Freunden und Beruf entfremdet, wie er der unbekannten, enigmatischen Fremden verfällt. Ist die Begegnung mit Belle ein Faktum? Oder eine Vision? Handelt es sich um eine Ausgeburt sexueller Verwirrung, um poetische Phantasie, um Wahnvorstellungen eines Mannes in der Mittlebenskrise, um den Einbruch von Wunschbildern in die Wirklichkeit? Wer ist der Andere, der unvermutet auftaucht? Ist er Belles Bruder, ihr Geliebter, ihr Komplize? Stirbt ein Hund? Oder ein Mensch? Ist das Leben ein Traum? Oder ein Film?

R André Delvaux B André Delvaux, Monique Rysselinck K Ghislain Cloquet M Frédéric Devreese A Claude Pignot S Emmanuelle Dupuis, Pierre Joassin P Jean-Claude Batz D Jean-Luc Bideau, Danièle Delorme, Adriana Bogdan, Roger Coggio, Stéphane Excoffier | B & F | 96 min | 1:1,66 | f | 13. September 1973

# 849 | 15. März 2014